Aktivitäten des Verfassungsschutzes - Eine „rechtsstaatliche Sauerei“

Zu schnell kann jeder Einzelne verdächtig werden. Der deutsche Inlandsgeheimdienst hat seine Kompetenzen in gefährlicher Weise ausgeweitet. So wird der Verfassungsschutz selbst zur Gefahr für unsere Verfassung.

Der Verfassungsschutz brandmarkt bereits bloße Kritik als verfassungswidrig / Illustrationen: Karsten Petrat
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Die Leibwächter drohen zu den Geiselnehmern zu werden“, platzt es schon bei der ersten Kontaktaufnahme aus einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes (VS) heraus. Die konspirativen Bedingungen, unter denen sich Cicero mit ihm trifft, sind filmreif. Eigentlich ist ein Gespräch um 19 Uhr in einer Kneipe vereinbart. Dann trifft eine Nachricht ein. Er werde sich etwa 30 Minuten verspäten. Er müsse erst noch „abschütteln“.

Was das bedeuten soll, wird er später erklären. Selbstverständlich überwachen sich die Mitarbeiter des Inlandsgeheimdiensts auch gegenseitig. Es könnte sich ja ein Spion in die Behörde einschleusen. Immer wieder wird der VS-Mitarbeiter an diesem Abend nervös und angespannt das Umfeld taxieren und das Sprechen abrupt einstellen, sobald sich eine Person dem Tisch nähert. Für den Verfassungsschutz kann man nicht ohne persönlichkeitsverändernde Folgen arbeiten. Ein kurioser Fall ausgleichender Gerechtigkeit.

Eigentlich soll der Verfassungsschutz die Demokratie gegen Linksextremisten, Rechtsextremisten und Islamisten schützen. Aber seit ein paar Jahren richten sich dessen Aktivitäten auch ganz offiziell gegen die politische Mitte der Gesellschaft. Schritt für Schritt und unter Wohlwollen der medialen Öffentlichkeit haben sich längst die rechtsstaatlichen Maßstäbe verschoben. Heute schützt der Inlandsgeheimdienst längst nicht mehr nur die Verfassung vor ihren Feinden, sondern auch die Regierung vor ihren Kritikern.

Verfassungsschutz weitet seine Aktivitäten sukzessive aus

Alles begann am 15. Juni 2021. Wie in jedem Jahr stellte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, der Öffentlichkeit im Sommer den aktuellen Verfassungsschutzbericht vor. Er verkündete bei dieser Gelegenheit auch die Einrichtung eines neuen bundesweiten „Sammelbeobachtungsobjekts“. Es sei nämlich eine „Radikalisierung“ der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen zu beobachten. In seinen Berichten wirft der Verfassungsschutz einem Teil der Corona-Demonstranten vor, bei ihrer Kritik an Regierungsmaßnahmen „über einen legitimen Protest“ hinausgegangen zu sein. Es habe stattdessen eine „ständige Verächtlichmachung (…) demokratisch legitimierte(r) Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates“ gegeben. Und weiter heißt es: „Dieses Vorgehen (…) untergräbt (…) die demokratische Ordnung, indem es das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und so dessen Funktionsfähigkeit gefährdet.“

Der Verfassungsschutz gab dieser neuen Kategorie angeblicher Verfassungsfeindlichkeit den etwas sperrigen Namen „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Sie ist das Einfallstor, um seine Aktivitäten auf die gesamte Gesellschaft ausweiten zu können.

Das alles ist geeignet, rechtsstaatliche Beklemmungen auszulösen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung verlangt von ihren Staatsbürgern keinen Gesinnungsgehorsam, sondern hat umgekehrt die freie Willensbildung des Souveräns zu garantieren. Das Grundgesetz schließt sogar das Recht auf verfassungsfeindliches Denken ein.

Der deutsche Inlandsgeheimdienst darf sich nicht für das interessieren, was die Menschen denken. Er darf erst dort aktiv werden, wo aus dem Denken eine „Bestrebung“, ein Handeln gegen die Staatsordnung wird. So jedenfalls steht es im Gesetz. Indem der Verfassungsschutz stattdessen bereits bloße Kritik als verfassungswidrig brandmarkt, greift er rechtswidrig in den freien Meinungsbildungsprozess des Souveräns ein.

Wenn man wissen will, was ein Begriff wert ist, muss man sich ansehen, welche Sachverhalte unter ihn fallen. Verdächtig soll es demnach bereits sein, die staatlichen Corona-Maßnahmen als „diktatorisch“ zu bezeichnen. Das sei keine „legitime Kritik“ mehr, sondern eine „Verunglimpfung“ der gesamten Verfassungsordnung. Auch wenn man den politisch und gesellschaftlich aufgebauten Impfdruck als faktische „Zwangsimpfung“ bezeichnet, gilt man dem Verfassungsschutz selbst noch im Jahre 2023 ausdrücklich als „Verschwörungstheoretiker“ und damit als Verfassungsfeind.

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, verschaffte im September 2023 allerdings selbst härtesten Maßnahmekritikern ein gehöriges Maß an Legitimität. Er kritisierte nicht nur die politisch Verantwortlichen, sondern auch die „verfassungsrechtliche Judikatur“ bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Beide hätten während der Corona-Pandemie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in hinreichendem Maße Rechnung getragen. Nach der Logik des Inlandsgeheimdiensts müsste nun eigentlich auch Hans-Jürgen Papier als „Delegitimierer“ unter Beobachtung gestellt werden.

Der Behörde gilt es auch als unstatthaft, „das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie, in staatliche Institutionen zu untergraben“. Daraus muss man wohl schlussfolgern, dass der Verfassungsschutz das demokratische Recht auf Kritik am Handeln seiner Repräsentanten im Grunde für verfassungswidrig hält. Dass dies nicht überspitzt interpretiert ist, zeigt der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 Wort für Wort. Wer sich im Zusammenhang mit der Überflutung des Ahrtals privat als „Kümmerer“ betätigt und „Geld und Sachspenden an die örtliche Bevölkerung“ verteilt hat, ruft den Inlandsgeheimdienst auf den Plan. Wer so handelte, hätte „aktiv den Eindruck“ erweckt, „dass staatliche Stellen bewusst nur unzureichend an der Verbesserung der Versorgungslage arbeiten würden“ oder mit der „Bewältigung der Lage komplett überfordert gewesen seien“. Auch das käme einer „Delegitimierung“ des Staates gleich. Jedem gelernten DDR-Bürger dürfte dieser Sound bekannt vorkommen. An der allumfassenden Weisheit der Avantgarde der Arbeiterklasse zu zweifeln, galt selbstverständlich als Verrat.

Man sollte es daher zweimal lesen, um sich die Dimension dieser wenigen Worte zu vergegenwärtigen. Der Verfassungsschutz erklärt alle Bürger zu Verfassungsfeinden, die es wagen, der Regierung vorzuwerfen, diese sei mit irgendetwas „komplett überfordert“ – und zwar selbst dann, wenn es die Wahrheit ist. Dass seinerzeit ausgreifendes Staatsversagen zum vermeidbaren Tod zahlreicher Menschen führte, gilt heute als unbestritten. Ein Landes- und ein Bundesminister mussten genau deshalb ihren Hut nehmen. Ginge es nach der Logik des Verfassungsschutzes, hätten sich die beiden dadurch allerdings selbst einer verfassungswidrigen „Delegitimierung des Staates“ schuldig gemacht. Durch ihren Rücktritt haben sie das Staatsversagen ja sogar offiziell eingestanden.

Bereits Kritiker der Regierung können nun zu Staatsfeinden werden

Das Innenministerium von NRW veröffentlichte im Jahr 2021 einen fast 200 Seiten umfassenden Sonderbericht. Freilich wurde darin betont, dass die „Corona-Leugner“ nicht „in Gänze“ Untersuchungsobjekte der staatlichen Behörde seien. Es ginge angeblich nur um jene Menschen, die „ein vom Staat enttäuschtes Personenpotenzial“ darstellten und „die in Teilen staats- und verfassungsfeindlich sind“.

Geradezu verräterisch agiert das Innenministerium aber, wenn es über die Entstehungsgeschichte der Kategorie „Corona-Leugner“ ins Plaudern kommt. Das Phänomen sei in Wahrheit nämlich gar nicht neu, sondern habe einen Vorläufer im Bahnprojekt „Stuttgart 21“. Die Bahn plante einen Neubau des Hauptbahnhofs von Stuttgart, der von Anfang an massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt war. Insbesondere Vertreter des grün-bürgerlichen Milieus lehnten ihn wegen zu hoher Kosten und ökologischer Schäden ab. Für den Verfassungsschutz waren das aber bloß „Wutbürger“, die sich gegen die Herrschenden gestellt hatten – und offenbar aus diesem Grunde in das Blickfeld des Inlandsgeheimdiensts gerieten.

Begründet wird die Aktivität des Inlandsgeheimdiensts offiziell stets mit der angeblichen Gegnerschaft gegenüber der demokratischen Grundordnung – so wie es in den Gesetzen steht. Nimmt man aber die konkreten Fälle in den Blick, entpuppt sich die angebliche Gegnerschaft gegenüber der Demokratie häufig bloß als Wahrnehmung des Rechts auf Meinungsfreiheit. Der Verfassungsschutz ist dabei nicht selten so ungeschickt, dies auch noch selbst zuzugeben. Zu den „Wutbürgern“ von „Stuttgart 21“ schreibt er: „Eine ältere Untersuchung unter den damaligen Protestteilnehmern ergab mit rund 90 Prozent einerseits ein hohes Maß an Identifikation mit demokratischen Werten – andererseits mit rund 50 Prozent aber auch eine kritische Haltung zum – vermeintlich – schlechten Zustand der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland.“

Die Wörtchen „aber“ und „vermeintlich“ verraten im verfassungsschutzrechtlichen Kontext dabei schon alles. Zwar könnte der Eindruck entstehen, die „Wutbürger“ seien demokratisch, „aber“ in Wahrheit sind sie es wohl nicht. Sie erdreisten sich nämlich, mit der Realität der Demokratie ziemlich unzufrieden zu sein. Das allerdings ist bloß „vermeintlich“ berechtigt, also letztlich illegitim. Ein Verfassungsfeind ist demnach nicht erst der Feind der Verfassung, sondern bereits der Kritiker der Regierung.

 

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Wie die Reise weitergehen wird, kann man dem Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2022 entnehmen – und zwar mit Ansage. Schon die Behörde aus NRW hatte davor gewarnt, dass sich bestimmte Menschen auch „bei zukünftigen krisenhaften Entwicklungen“ für regierungskritische Positionen erwärmen lassen könnten. Nach dem Abflauen der Corona-Pandemie stehen nicht mehr die „Corona-Leugner“ im Vordergrund. Längst sind neue Gefechtsfelder des Regierungsschutzes identifiziert. Das Feld der Delegitimierer könne sich nämlich auch „gegen staatliche Klimaschutzmaßnahmen“ oder „die wirtschaftlichen und politischen Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine“ richten. Wer sich also zu laut oder impulsiv gegen Wärmepumpen oder Waffenlieferungen an die Ukraine äußert, kann ebenfalls in das Blickfeld des Inlandsgeheimdiensts geraten.

Beim Verfassungsschutz zeigt sich immer und immer wieder ein und dasselbe Problem. Seine Begriffe sind unzureichend bis schlampig ausgearbeitet und provozieren schon deshalb Verstöße gegen die Verfassung. Der Verfassungsschutzrechtler Dietrich Murswiek spricht nicht ohne Grund von einem „Gummibegriff“, wenn es um die „Verächtlichmachung“ des Staates geht. Bisher hat der Verfassungsschutz keinerlei belastbare Kriterien dafür formuliert, wann die Schwelle der Kritik hin zur Delegitimierung überschritten ist: „Der Verfassungsschutz verwechselt Kritik an der Regierung mit Kritik am Demokratie- und am Rechtsstaats¬prinzip. Es ist das verfassungsrechtlich verbürgte Recht, alles zu kritisieren, was die Regierung macht – ob diese Kritik berechtigt ist oder nicht. Ob sie berechtigt ist oder nicht, entscheidet nicht der Verfassungsschutz, sondern das entscheidet jeder für sich, insbesondere an der Wahlurne.“

Auch der Rechtsprofessor Christoph Gusy kritisiert, dass der Begriff der Delegitimierung „sehr offen“ formuliert und daher „ambivalent“ sei: „Es ist gerade diese Ungewissheit, die bei potenziell Betroffenen wie Nichtbetroffenen zu Einschüchterung und Grundrechtsverzicht führen kann, welche ihrerseits geeignet wären, die freiheitliche und pluralistische Demokratie zu delegitimieren.“ Ausgerechnet der Verfassungsschutz könnte bei der eifrigen Suche nach angeblichen Delegitimierern also selbst zu einem solchen werden.

Ehemaliger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes nennt die aktuelle Rechtslage „eindeutig verfassungswidrig“

Wie sehr sich der Verfassungsschutz in den vergangenen Jahren schleichend verändert hat, zeigt ein Fall ganz besonders. Seit dem Januar 2024 steht fest, dass die Behörde nunmehr sogar ihren ehemaligen Chef, Hans-Georg Maaßen, ganz offiziell beobachtet. Bis vor ein paar Jahren wäre das noch verboten gewesen: Über Jahrzehnte hinweg durfte der Verfassungsschutz grundsätzlich nur gegen Organisationen vorgehen. Die dahinter stehende Logik folgte dem rechtsstaatlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Bekämpft wurde nur, was der Staatsordnung objektiv gefährlich werden konnte. Ein einzelner Mensch ist dazu nur höchst selten in der Lage. Höchstens ein Terrorist zum Beispiel. Dann, nach Jahrzehnten, wurde im Sommer 2021 das Verfassungsschutzgesetz gravierend geändert. Das geschah noch durch die schwarz-rote Koalition.

Die Abgeordneten nahmen sich damals in dritter Lesung nur rund 30 Minuten Zeit für ein Gesetz, das tief ins Mark der Demokratie einschneidet. Seitdem kann auch jede Einzelperson zum Beobachtungsobjekt des Inlandsgeheimdiensts werden. Als Begründung für die Gesetzesverschärfung verwies die Bundesregierung seinerzeit auf die Anschläge von Halle und Hanau und auf die Effekte sozialer Medien. Künftig sollten „angesichts eruptiver Radikalisierungsverläufe von Einzelpersonen Extremisten bereits im Vorfeld militanter Handlungen besser in den Blick“ genommen werden können. Wieder einmal musste der „Kampf gegen rechts“ dafür herhalten, den Freiheitsraum der Demokratie für alle zu schrumpfen.

Ein Wort allerdings fand sich in den Vorlagen zur Änderung des Gesetzes nicht: „Delegitimierung“. Ein ehemals führender Mitarbeiter des Verfassungsschutzes ist sich im Gespräch mit Cicero aber völlig sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen gibt. Die Gesetzesänderung zur Beobachtung von Einzelpersonen sei ja zeitgleich zur Ausrufung des neuen „Sammelbeobachtungsobjekts“ erfolgt. Dadurch hätte man behördlicherseits absichern wollen, Regierungskritiker leichter überwachen zu können. Natürlich habe die Regierung den Vorgang so nicht offiziell begründet, und die Abgeordneten hätten dadurch gar nicht verstanden, was sie da beschließen. Jeder Entwurf zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes geht auch über den Schreibtisch des Behördenleiters Thomas Haldenwang. Er wird im Regelfall von ihm ausgelöst.

Der ehemalige Mitarbeiter des Verfassungsschutzes nennt die aktuelle Rechtslage „völlig uferlos“ und „eindeutig verfassungswidrig“: „Das Beobachtungsobjekt ‚Delegitimierung‘ fällt ganz klar aus dem rechtsstaatlichen Rahmen.“ Was Haldenwang da treibe, sei eine „rechtsstaatliche Sauerei“. Auch die DDR kannte schon den Tatbestand der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“. Sie nannte ihn aber etwas volksnäher „staatsfeindliche Hetze“.

Ende 2023 fasste der Verfassungsschutz dann nochmals nach. Eigentlich sollte das Verfassungsschutzgesetz bloß technisch geändert werden. Aber man nutzte die Gunst der Stunde und wollte den Geheimdienst mit völlig neuen Kompetenzen ausstatten. Konkret: Er sollte die Möglichkeit erhalten, seine Informationen auch an private Stellen weiterzuleiten – und das sogar schon „für sonstige erhebliche Interessen des Empfängers“. Es ging also um nichts anderes als eine gesetzliche Ermächtigung zu staatlich verantworteter Denunziation. Es ging dem Verfassungsschutz darum, Informationen über Verdächtigte unters Volk streuen und es so besser gegen die „Verfassungsfeinde“ aufhetzen zu können. Er selbst nennt diesen Mechanismus vornehm die „wehrhafte Demokratie“.

In der Fachwelt führte das Vorhaben zu einem Aufschrei. Ralf Poscher ist Direktor der Abteilung Öffentliches Recht des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Er warnte in einer Bundestagsanhörung vor regelrecht „dystopischen“ Szenarien: „Die Nachrichtendienste können dann Schulleiter über die Bestrebungen ihrer Schülerinnen und Schüler, Universitäten über die ihrer Studierenden, Arbeitgeber über ihre Beschäftigten et cetera informieren, auch wenn von ihnen keinerlei konkrete oder auch nur konkretisierte Gefahr ausgeht.“ Was das für Folgen für die Betroffenen hätte, könne sich jeder selbst ausmalen, warnte Poscher.

Der letztlich nach nur knapp 26-minütiger Diskussion beschlossene Gesetzestext ist nach Poschers Überzeugung zwar weniger problematisch als ursprünglich beabsichtigt, aber „noch immer verfassungswidrig“. Ausdrücklich ist es der Behörde nun gestattet, personenbezogene Daten über Verdächtigte beispielsweise an Kindergärten, Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu übermitteln. Noch immer riecht es ein wenig nach Dystopie und Denunziation in Deutschland.

Leibwächter entwickelt sich mehr und mehr zum Geiselnehmer

Und der Verfassungsschutz werkelt weiter kräftig daran mit. Im Jahr 2003 scheiterte das NPD-Verbotsverfahren daran, dass der Inlandsgeheimdienst so viele Spitzel in die rechtsextreme Partei eingeschleust hatte, dass das Bundesverfassungsgericht gar nicht mehr zweifelsfrei beurteilen konnte, ob die verfassungswidrigen Äußerungen am Ende nicht von den eigenen Leuten stammten. Heute stützt sich die Behörde bei ihren Analysen vor allem auf Äußerungen in den sozialen Netzwerken.

Der Journalist Ronen Steinke hatte Gelegenheit, mit einer Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes zu sprechen. Sie sei zur Behörde gegangen, weil sie etwas gegen Rechtsextreme tun wollte. Sie betreibt in sozialen Netzwerken Fake-Accounts und darf „selbst ein bisschen rechtsradikal spielen“. Ihre Aufgabe: verdächtige Subjekte aus der Reserve zu locken und so Beweismaterial heranzuschaffen. Die VS-Mitarbeiterin darf dabei ganz unbehelligt auch szenetypische Straftaten wie Volksverhetzung begehen.

Der Inlandsgeheimdienst, so Steinke, beschäftigt für die Anfertigung entsprechender Profilfotos für Fake-Accounts sogar mehrere Kosmetikerinnen: „Beim Bundesamt für Verfassungsschutz gibt es inzwischen Dutzende virtuelle Agenten für die einzelnen ‚Phänomenbereiche‘ (…) und neuerdings auch die verschwörungsideologische Szene.“ Auch so erklärt sich die Explosion der Mitarbeiterzahl.

Gehörten der Behörde auf Bundesebene im Umfeld ihrer Gründung 1950 nur knapp 100 Personen an, waren es 2002 schon mehr als 2000. In nur 20 Jahren hat sich diese Zahl bis heute noch einmal auf über 4000 verdoppelt. Hinzu kommen die Mitarbeiter von 16 Landesbehörden. Wer heute in sozialen Netzwerken die Regierung kritisieren will, sollte also damit rechnen, dass auf der anderen Seite auch ein Leibwächter sitzen könnte, der sich längst zum Geiselnehmer gewandelt hat.

Das Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien“ von Mathias Brodkorb erscheint am 4. März 2024.

 

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