Grüne Lobby - Öko-Patriotische Verfilzungen

Die Umweltbewegung wollte den Atomstaat überwinden und schuf den Energiewendestaat, der sich wieder in fatalen Abhängigkeiten von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft verheddert. Die Energiewende ist zur Staatsräson geworden.

Die Institute für Erneuerbare Energien sind ideologisch alle miteinander verbandelt / Julia Kluge
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Autoreninfo

Anna Veronika Wendland ist Historikerin und hat Teile ihrer Habilitationsschrift über die kerntechnische Moderne und die Geschichte der Reaktorsicherheit im nordwestukrainischen Kernkraftwerk Rivne geschrieben. Im Frühjahr 2022 erschien ihr Debattenbuch zum Atomausstieg.

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„Wer mit wem in Atomstaat und Großindus­trie“, so lautet der Titel eines der Bücher, die noch aus Anti-­Atom-Bewegungszeiten in vielen Bücherregalen stehen. In der Einleitung des Nachschlagewerks lesen wir: „Hauptanlass für dieses Buch ist die politische Unkultur in der Bundesrepublik, die sich seit Jahrzehnten in einem ungebrochenen Verfilzungsprozess von Politik, Wirtschaft und Verwaltung – unter reger Beteiligung von Verbands- und Gewerkschaftsfunktionären – ausgebreitet und vertieft hat.“ Dieser Satz wurde vor 36 Jahren geschrieben, eine Generation vor Energiewende, EEG-Umlage und Gebäude-Energiegesetz. Diejenigen, die ihn schrieben, wollten alles anders machen. Der Atomstaat sollte abgelöst werden durch eine transparente, partizipative, umweltverträgliche Energiesystemplanung. Man gab ihr einen moralisch aufgeladenen Oberbegriff: die „Energiewende“

Das implizierte Abkehr und Neubeginn, auch wenn in der Folgezeit offenbar wurde, dass es damit nicht so funktionierte, wie man sich das ursprünglich gedacht hatte. Weder konnte man so radikal wie erwartet aus einem Drittel der Stromerzeugung aussteigen, die damals noch von Atomkraftwerken bestritten wurde, noch hatte man mit dem Klimawandel als neuer Randbedingung jeder Energiestrategie gerechnet. 

Das unsinnige Ende der Atomkraft

Bei der Etablierung der Energiewende durch die Regierung Schröder-­Fischer zu Beginn dieses Jahrtausends bestand das Projekt noch aus drei Komponenten: Abschaffung der Atomkraftwerke, Ausbau der Erneuerbaren – und der implizite Konsens über die Absicherung der nicht gesicherten Leistung aus Wind und Sonne durch fossile Stromerzeuger. 

Mit der zunehmenden Bewusstwerdung des Klimawandels kam vor allem diese dritte Energiewende-Komponente, die fossile Brückentechnologie, unter Druck. Die CDU-Kanzlerin Angela Merkel, die sich als „Klimakanzlerin“ gerierte, bemühte sich 2010 in einem allerdings halbherzigen Versuch, dieser Tatsache durch eine Laufzeitverlängerung für die umstrittenen, aber eindeutig klimafreundlichen Atomkraftwerke Rechnung zu tragen. Bekanntlich hielt die nukleare Energiewendebrücke nicht einmal ein Jahr; sie brach unter dem Tsunami-induzierten Atomunfall von Fukushima im März 2011 zusammen. Merkel verkündete unter Miss­achtung des Fachvotums ihrer eigenen Reaktorsicherheitskommission, das Rest­risiko der Kernenergie sei nun neu zu bewerten, und zwar gegen die deutsche Kernenergie. 

Vollendet wurde der merkelsche Atomausstieg erst in diesem Jahr, mit einer kleinen kriegsbedingten Verzögerung, aber im Grunde nach dem Plan von 2011. Doch haben sich längst massive Zweifel an seiner Sinnhaftigkeit eingestellt, die einigen bereits seit 2015 kamen, dem Jahr des Pariser Klimaabkommens. Schon damals zeichnete sich ab, dass die Erreichung der dort zugesagten Emissionsreduktionen mit einem Atomausstieg nur schwer zu vereinbaren war. 

Atomkraft hätte mehr gebracht als das Heizgesetz

Die Anti-Atom-Front hielt ­jedoch unter Merkel wie Scholz. Während Wirtschaftsminister Habeck in der Versorgungskrise alte Kohlekraftwerke ans Netz zurückholte und mit der schwarz-grünen NRW-­Landesregierung und dem Energiekonzern RWE einen Deal zur Abbaggerung des Klimabewegungs-Symbolorts Lützerath einstielte, wurde das RWE-Kernkraftwerk Emsland, das das Stromäquivalent der Lützerath-Kohle binnen 16 Monaten fast CO2-neutral hätte produzieren können, stillgelegt. Mit ihm gingen am 15. April 2023 zwei weitere deutsche Kernkraftwerke vom Netz, insgesamt sechs Anlagen mit 8400 Megawatt installierter Leistung wurden unter der Ampelregierung abgeschaltet.

Mit den sechs Kernkraftwerken, deren Rettung in ihrer Hand lag und womöglich noch liegt, verschrottet die Bundesregierung das Stromerzeugungsäquivalent von 15 000 derzeit installierten Windkraftanlagen. Gleichzeitig macht sie die vor diesem Hintergrund nachgerade irrwitzig anmutende Ansage, im Jahr 2030, das heißt in sechseinhalb Jahren, solle der Erneuerbare-Energien-­Anteil an unserer Stromerzeugung von jetzt knapp 50 Prozent auf 80 Prozent steigen. Hätte man die Kernkraftwerke behalten und mit ihnen konsequent Kohlekraftwerke ersetzt, wären rechnerisch pro Jahr rund 60 Millionen Tonnen CO2-Einsparung drin gewesen. Unsere Klimaaktivisten kleben sich für deutlich weniger auf die deutschen Straßen: Zwischen rund drei und rund zehn Millionen Tonnen beläuft sich laut unterschiedlichen Studien des Bundesumweltamts die CO2-Einsparung durch ein Tempolimit 120. 

 

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Das Habecksche Heizgesetz, das inzwischen zum Aufreger des Jahres avanciert ist, käme auch in seiner strengeren ersten Fassung bis zum Jahr 2030 auf gerade einmal 44 Millionen Tonnen CO2-Reduzierung – die genannten Kernkraftwerke hätten jedes Jahr das Anderthalbfache dieser Menge geschafft. Das ist Klimaschutz mit angezogener Handbremse: Große Maßnahmen werden verweigert, weil sie vor 30 Jahren die Gesellschaft spalteten und heute noch grüne Veteranen in Wallung bringen, während kleine Maßnahmen durchgesetzt werden, die aber die heutige Gesellschaft sprengen. 

Wo bleibt die kritische Opposition?

Diesen Ärger hätte sich die Bundesregierung ersparen können, hätte sie aus dem Scheitern des Atomstaats der Ära Schmidt und Kohl die richtigen Schlüsse gezogen. Stattdessen begehen die Akteure, die sich daran gemacht haben, den schwierigen und ungewissen Weg der Energietransformation zu gestalten, dieselben Fehler wie ihre Vorgänger: Der Atomstaat ist tot, es lebe der Energiewendestaat.

Derzeit wird unsere Energie- und Klimapolitik von Menschen und Organisationen dominiert, die an Macht und Einfluss den fossil-nuklearen Wirtschaftseliten der alten Bundesrepublik in nichts nachstehen, ja diese noch übertreffen. Denn der Energiewendestaat hat geschafft, was dem Atomstaat nie gelang: eine kritische, innerhalb des demokratischen Systems legitimierte und anerkannte Opposition zu domestizieren und weitgehend zu neutralisieren. Der Energiewendestaat der Ära Scholz-­Habeck hat sich in Gestalt von Umweltorganisationen und Medienschaffenden eine Art Systemopposition ins Boot geholt, die die politischen Entscheidungen mehr affirmiert als kritisch begleitet. 

Niemand in der deutschen Umweltszene, kein kritischer Journalist schreibt das Buch „Wer mit wem in Energiewendestaat und Großindustrie“, denn die Szene ist Teil dieses Staates. Es gibt keine produktiven Neinsager im Transformationsprozess. 

Auch nicht in den Parteien: Die SPD-Energiepolitik bestand bis vor kurzem aus einer Denkschule, die die Grünen imitierte, und einer, die sich für Gaz­prom als „Energiewende’s best friend“ einsetzte. Nach der russischen Ukraine­invasion ist nur der müde Grünen-Abklatsch übrig geblieben. Die FDP gefällt sich in symbolischen Quertreibereien in einer Koalition, deren Disziplin sie am Ende immer folgen muss. 

Die oppositionelle CDU verkneift sich, offenbar mit Blick auf eine künftige Schwarz-Grün-Option im Bund, ein prägnantes Gegenkonzept zur real existierenden Energiewende. Der CSU-Vormann Markus Söder betätigt sich als lärmender, spät berufener Atomkraftfreund, aber auch nur dann, wenn es ihn nichts kostet, zum Beispiel das Bekenntnis zu einem eventuellen Atomendlager in Bayern, sollte der wissenschaftsbasierte Findungsprozess auch bayerische Standorte in die engere Wahl nehmen. 

Die dezimierte Linke hat erstaunlicherweise zumindest in Ansätzen den sozialen Sprengstoff der Energiewende als Umverteilungsmaschine von unten nach oben entdeckt, ist aber zu schwach, um daraus ein konsistentes linkes Gegenprojekt zu machen, das vor allem der AfD den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Die Rechtsextremisten verlegen sich auf Fundamentalopposition, die den anthropogenen Klimawandel leugnet und daher gar keine Energiestrategie braucht. Doch ausgerechnet dieser Partei laufen in diesem Frühsommer die Wähler in Scharen zu. 

Gleichgeschaltete Denkfabriken

Mitschuld daran trägt der Energiewendestaat. Die Vetternwirtschaftsaffäre rund um den Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen, die Robert Habeck so viel Vertrauen und Prestige gekostet hat, ist nur ein Symp­tom für strukturelle Mängel, die behoben werden sollten, bevor es zu spät ist. 

Der Energiewendestaat besteht aus einem dichten Geflecht aus industriellen, politischen, wissenschaftlichen und medialen Akteuren; manche davon sind auch in Doppelfunktionen unterwegs. Zum Teil treffen wir auf alte Bekannte aus der Energie- und Anlagenbaubranche, die heute natürlich auch Sparten für Erneuerbare-Energien-Anlagen oder Ökostromvertrieb im Portfolio haben. 

Hinzu treten die Firmen der New Economy, die mit den um die Erneuerbaren Energien angesiedelten Software- und Netzdienstleistungen ihr Geld verdienen. Dann gibt es unzählige auf die Energiewende spezialisierte Handelsunternehmen, Rechts- und Unternehmensberatungen, viele davon Start-ups. Die Bundesrepublik verfügt außerdem über eine umfangreiche staatliche oder halbstaatliche Infrastruktur aus Forschungsinstituten und Universitäten mit ihren Erneuerbare-Energien-Lehrstühlen, die sich ausschließlich mit angewandter Forschung oder Datenproduktion für die Energiewende befassen. 

Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE ist die bekannteste dieser Forschungseinrichtungen, die auch eine interaktive Plattform für Strommarkt-Daten und Strommarkt-Karto­grafie, die Energy-Charts, betreibt – ein sehr nützliches Instrument, das allerdings nicht kritisch informiert. 

Das familiäre Energiewende-Netzwerk

Auf die Frage, warum in der Energy-­Charts-Länderkartografie denn keine CO2-Emissionen kartiert würden, sondern nur Erneuerbare-Energien-Anteile, twitterte der verantwortliche Wissenschaftler freimütig, das politische Ziel sei nun mal 100 Prozent Erneuerbare Energien, und daher sei auch nur das eine zulässige Metrik. Ein Schuft, der Böses dabei denkt, denn Atom-Frankreich ist bei den Emissionsstatistiken im Schnitt fünfmal sauberer als Energiewende-­Deutschland, während es bei den Erneuerbare-Energien-Erfolgsstatistiken zurückbleibt.

Im Zuge der Graichen-Affäre wurde einer breiten Öffentlichkeit bewusst, dass der Energiewendestaat auch auf einem öffentlich-privat mischfinanzierten Netzwerk aus Plattformen und Stiftungen sowie staatlichen Energieagenturen aufbaut, die nicht nur Beratungsleistungen für Politik und Wirtschaft anbieten, sondern auch Positionspapiere und Meinungsbeiträge in den öffentlichen Raum drücken, um die öffentliche Meinung im Sinne der Energiewende zu beeinflussen. 

Gleichzeitig stellen diese Netzwerke einen ausgedehnten Arbeitsmarkt für eine Vielzahl von Erneuerbare-Energien-­Fachleuten dar, die sich aufgrund gemeinsamer Werdegänge und politischer Karrieren häufig persönlich kennen und, wie im Falle der Graichen-Kellner-Familie mit Trauzeugen-Extension, auch durch Verwandtschaft miteinander verbunden sind. 

Nach außen abgeschottet

Doch wo man eng aufeinandersitzt, da zirkuliert auch das Wissen in nach außen zunehmend abgeschotteten Kreisläufen, da geschieht die Rekrutierung immer wieder im selben Kreis. Lernende Verfahren, Unabhängigkeit des Denkens, nachfragend-kritische Haltung und konstruktive Dissidenz werden so verunmöglicht. 

Der ehemalige hessische Grünen-­Landesvorsitzende Hubert Kleinert äußerte im Gespräch mit der Autorin dieses Textes Kritik an dieser zunehmenden Selbstabdichtung der grünen Entscheidergruppen, die sich letztlich in nichts von den Verknöcherungsprozessen der Kohl- und Merkel-Jahre unterscheide. 

Inzwischen ist viel geschrieben worden über eines der Zentren dieser Elitenvernetzung, den von der Mercator-­Stiftung und der European Climate Foundation finanzierten Thinktank Agora Energiewende. Es geht hier aber um mehr als um die Skandalisierung von Personen und ihren Fehltritten. Vielmehr geht es darum, dass von niemandem gewählte und kontrollierte Institutionen Einfluss auf weitreichende energiestrategische Entscheidungen einer gewählten Regierung nehmen, die kritisch besehen eben nicht immer die besten Entscheidungen für unser Land sind. 

Von Energiewende-Eliten für Energiewende-Eliten

Auch die gute Absicht ist keine Rechtfertigung. Beide Finanziers der Agora sind philanthropische Stiftungen aus altem Kapital der Fossil-Ära; die Mercator-Stiftung geht auf den Handelskonzern Metro zurück, die European Climate Foundation wurde von der Flora and William Hewlett Foundation ins Leben gerufen, einer Stiftung der Eigentümerfamilie des späteren Hewlett-Packard-Konzerns. 

Zwischen der grünen Partei, der Exekutive und dieser Organisation, welche gleichzeitig auch die wichtigste deutsche Informations- und Diskussionsplattform der energiepolitischen Transformation ist, herrscht ein besonders intensives Wechselverhältnis. Der Grüne Rainer Baake, langjähriger Staatssekretär im rot-grünen Wirtschaftsministerium und einer der Masterminds hinter den Energiewende-­Gesetzgebungen der 2000er-Jahre, ist Mitgründer der Agora. Der inzwischen geschasste Staatssekretär Patrick Graichen war Baakes Ziehsohn und ehemaliger Agora-Chef. Im Rat der Agora sind weitere, nicht entlassene Staatssekretäre, Politiker, Lobbyvereine, Umweltverbände und Energiewirtschaft in trauter Eintracht versammelt. 

Der Name agorá bedeutet übersetzt „Marktplatz“, Forum. Er suggeriert einen offenen, ergebnisoffenen und öffentlichen Diskussionsraum mit niedrigschwelligem Zugang. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine Organisation von Energiewende-Eliten für Energiewende-Eliten, deren Rat sich unter Chatham-House-Regeln trifft. 

Die Energiestrategie des Wirtschaftsministeriums ist stark von Agora-­Ansätzen beeinflusst, sei es bei der Fixierung auf bestimmte erlaubte Technologien, sei es bei den Erwartungen über künftige Strombedarfe, die aber weit niedriger angesetzt sind als in anderen Studien und daher die Entscheider in die Irre führen könnten. 

Der parteiische Klimajournalismus

Neben der Agora sind aber auch noch andere Energiewende-Organisationen gut mit der Regierung vernetzt. Ein besonders aktiver Netzwerker ist Hans-­Josef Fell, ehemaliger Grünen-Abgeordneter und Miterfinder der EEG-Umlage, der gleichzeitig Chef des „Think-and-do-Tanks“ Energywatchgroup ist. Fell versteigt sich gerne zu drastischen, aber falschen Aussagen über die Kernenergie als Feindin des Klimaschutzes. Sein ehemaliger Mitarbeiter Volker Oschmann ist Abteilungsleiter in Habecks Wirtschaftsministerium. 

Zur Agora-Familie gehören auch die Plattformen Clean Energy Wire und Klimafakten.de, in denen sich deutsche Journalisten für Klimathemen und für die Förderung der Erneuerbaren Energien starkmachen. Inzwischen gibt es ein neues journalistisches Berufsbild, das des Klimajournalisten, der sich ganz explizit vom herkömmlichen Berichterstatter-­Ethos distanziert und sich mit der als gut und notwendig erkannten Sache gemein macht. All diese Akteure zitieren und vernetzen sich ausgiebig untereinander, und sie alle produzieren eine Vielzahl von Webseiten, Blogs, Podcasts und Informationsplattformen, auf denen sich die Bürger über den Klimawandel und das aus der Sicht der Autoren einzig erlaubte Instrumentarium zu seiner Verlangsamung, nämlich Erneuerbare Energien und Verbrauchseinschränkung, informieren können. 

Zu den Klimajournalisten stoßen Wissenschaftler, die sich in einem Grenzbereich von Wissenschaft, Politikberatung, Publizistik und Aktivismus bewegen, so der Klimaforscher Stefan Rahmstorf, die Ökonomin Claudia Kemfert oder der Ingenieur Volker Quaschning, die den Sachbuch-, Twitter- und Youtube-Markt bespielen, aber auch Dauergäste der öffentlich-rechtlichen Medien und gern gesehene Sachverständige der Regierungsparteien sind. Wenig überraschend ist, in diesem Diskursraum ist Selbstkritisches kaum zu finden, dafür umso mehr Drastik und Verschwörungsdenken. 

Das Gefühl moralischer Überlegenheit

Umweltorganisationen wie die Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace oder der BUND, aber auch die Jugendbewegung Fridays for Future und ihr wissenschaftlicher Arm Scientists for Future betätigen sich mit Berufung auf den Klimaschutz als Propagandisten der Erneuerbare-­Energien-Industrie, Greenpeace mit seiner Ökostrom-Tochter GP Energy auch als ökonomische Akteurin. 

Das alles geht Hand in Hand mit einem dezidierten Engagement gegen die Kernenergie, die, weil sie sowohl klima­freundlich als auch planbar und hochzuverlässig ist, als Konkurrentin der variablen Erneuerbaren wahrgenommen wird.

Im Herbst 2021 publizierten die Scientists for Future ein Papier über die Eignung der Kernenergie im Klimaschutz, dessen 16 Autorinnen und Autoren durch die Bank aus atomkritischen Institutionen stammten, mit Claudia Kemfert und einigen ihrer Kollegen aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung als Hauptautoren. Die Publikation beantwortete zwar nicht die Frage, die sie sich selbst gestellt hatte, nämlich ob die Kernenergie eine Klimaschutztechnologie sei, sondern widmete sich stattdessen der Beweisführung, warum sie logischerweise keinen Platz in dem von den Autoren für einzig legitim gehaltenen 100-Prozent-­Erneuerbare-Energien-System habe.

Aber noch ein weiterer Aspekt unterscheidet den Energiewendestaat von früheren deutschen Koalitionen zwischen Industriekapital, Politik und Verbänden: Das ist sein starkes Bewusstsein moralischer Überlegenheit, das die Tendenzen der Selbstabschottung von Kritik noch verschärft. Das verleitet die beteiligten Akteure immer wieder dazu, ihre eigenen Interessen und Tätigkeiten in einer aller politischen Kritik enthobenen Sphäre anzusiedeln. 

Erneuerbare Energie ist Staatsraison

Wer die Energiewende kritisiert, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, er rühre an die Grundlagen eines „Gemeinschaftswerks“, das neben dem Klimaschutz Staat und Gesellschaft diene – und das sei nicht diskutierbar. Ein Beispiel: Auf Nachfragen über die wissenschaftliche Qualitätskontrolle der Agora-Studien auf einer Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung im März 2023, bei der ich anwesend war, warf der zugeschaltete Agora-Abteilungsleiter den Kritikern vor, sie gefährdeten mit solchen Nachfragen den demokratischen Konsens. 

Die Energiewende ist also inzwischen zur Staatsraison geworden. Der Ausbau der Erneuerbaren, lesen wir im Ampelkoalitionsvertrag, liege „im öffentlichen Interesse und dient der öffentlichen Sicherheit“. Mit dieser Begründung lassen sich andere Rechtsgüter leicht aushebeln, etwa wenn es zu Konflikten zwischen EE-Wirtschaft und Artenschutz kommt. Dass diese Befürchtung nicht unbegründet ist, zeigen die bereits verabschiedeten oder geplanten Gesetze zur Planungsbeschleunigung. 

Die Erneuerbare-Energien-Branche ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor – rund 300 000 Arbeitsplätze sind von ihr abhängig, Tendenz steigend. Für sich genommen ist es nicht verwerflich, wenn sich im Zuge eines technisch-industriellen Wandels neue ökonomische Gravitationszentren, politökonomische Diskurskoalitionen und Interessengruppen bilden; das gehört zu den Funktionsgesetzen kapitalistischer Demokratien.

Eine Gefahr für die echte Transformation

Doch was sich hier abzeichnet, ist eine ideologische Verfestigung der Energiewende, indem die Interessen bestimmter wirtschaftlicher und politischer Akteure zum Staatszweck erhoben werden. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass das „Gemeinschaftswerk Energiewende“ in Zeiten erodierender Identifikation mit klassischen Ankern nationaler Identität wie Territorium, Verfassung oder Staatsvolk als neues Patriotismus-Substitut fungiert. Gerade Robert Habeck greift gerne zu öko-patriotischer Rhetorik, etwa im Streit mit Bayern um die Abstandsregelung für Windenergieanlagen. 

Der Germanozentrismus ist ein Grundmerkmal der Energiewende: Viel zu oft wird nur von deutschen Prioritäten ausgegangen, sei es beim Spekulieren auf die Kraftwerksreserven der Nachbarn, weil wir inzwischen keine eigenen mehr haben, sei es der verengte Blick auf Europa als Ergänzungsraum der deutschen Energiewende, sei es bei der Artikulierung des Anspruchs, Deutschland sei Vorbild für die Welt. 

All diese Punkte wären ein gefundenes Fressen für eine linke Kritik des Energiewendestaats. Doch deutsche Linke sprechen selten davon, dass die Profitmaximierung der Erneuerbare-Energien-Industrie keinesfalls identisch mit dem Gemeinwohl ist. Die Leugnung von widerstreitenden Interessen, Schwachpunkten und Zielkonflikten, die grassierende Delegitimierung von Kritik jedoch können sich zu einem großen Problem auswachsen. Nichts ist für das Gelingen des Transformationsprozesses gefährlicher als jene Mischung aus Machtkonzentration, Unfähigkeit zur Selbstkritik und Sendungsbewusstsein, welche die heutige Energiewendeklasse kennzeichnet.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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