Thomas Kemmerich - „Ich habe nicht gefoult, ich bin der Gefoulte“

Vor einem Jahr wurde Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt. Seine Wahl mit Stimmen der AfD brachte die Bundespolitik zum Beben. In der eigenen Partei ist der 55-Jährige heute isoliert, seine politische Mission sieht er aber als nicht beendet an.

Stolzer Unternehmer und Politiker der klaren Aussprache: Thomas Kemmerich (FDP) / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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1965 in Aachen geboren, zog Thomas Kemmerich nach abgeschlossenem Jura-Studium 1990 nach Erfurt. Dort baute er die Friseurkette Masson AG auf, deren Vorstandsvorsitzender er heute ist. 2006 trat er in die FDP ein, seit 2015 ist er Landesvorsitzender. 2019 führte er die Partei zurück in den Thüringer Landtag.

Herr Kemmerich, vor knapp einem Jahr wurden Sie mit Stimmen von CDU, FDP und AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt – wenige Tage später traten Sie zurück. Sie hatten nun fast ein Jahr Zeit, um über den 5. Februar 2020 nachzudenken. Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden Sie etwas anders machen?

Ich würde vieles anders machen. Zu einer ehrlichen Einschätzung gehört für mich aber dazu, die Zeit seit der Landtagswahl 2019 zu betrachten. Die ungewöhnliche Situation, ein Parlament zu haben, in dem es keine Mehrheiten nach klassischen Farbkonstellationen mehr gab, war am 27. Oktober 2019 entstanden. Rückblickend sind allen politisch Agierenden Fehleinschätzungen und Fehler unterlaufen, auch mir. Ramelow etwa unterschrieb am Abend vor der Ministerpräsidentenwahl noch einen Koalitionsvertrag – ohne erkennbare Mehrheit. Am 5. Februar ging ich aus dem Haus und sagte zu meiner Frau: Ich bin froh, wenn ich die fünf Stimmen meiner Fraktion bekomme. Bodo Ramelow war vor der Wahl zu Gast in unserer Fraktion und hat es ausdrücklich begrüßt, dass jemand aus der demokratischen Mitte antritt.

Legen Sie eigentlich noch manchmal die Cowboystiefel an? 

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(Hebt seine Beine in die Höhe): Ja, täglich. Die hatte ich auch bei der Wahl zum Ministerpräsidenten im letzten Februar an.

Wäre es nicht besser gewesen, Sie wären nicht angetreten? Ramelow wäre dann mit einfacher Mehrheit zum Ministerpräsidenten gewählt worden, hätte aber keine Mehrheit im Parlament gehabt. Der Schwarze Peter wäre auf seiner Seite gewesen. 

Genau das ist ja dann bei der zweiten Wahl am 4. März passiert: Er gelangte ohne parlamentarische Mehrheit ins Amt. Bei der Wahl am 5. Februar war es mir wichtig, ein Zeichen zu setzen: dass eben nicht nur Kandidaten zur Wahl stehen, die entweder von einer rechtsextremen oder einer linksextremen Partei unterstützt werden. Aber ohne die Erwartung, dass ich tatsächlich gewählt werde. Es wäre im Übrigen an der CDU gewesen, einen Kandidaten aufzustellen.

Aber die CDU mit Mike Mohring an der Spitze sah die Gefahr, dass die AfD den „bürgerlichen“ Kandidaten unterstützen würde – deshalb hatte man sich geeinigt, keinen Kandidaten aufzustellen. 

Das kann Herr Mohring uns im Nachhinein gern erzählen. Er hat wohl vor allem deshalb nicht kandidiert, weil er sich der Unterstützung seiner eigenen Fraktion nicht sicher sein konnte. Diese Blamage wollte er sich ersparen. Meine Kandidatur habe ich zwei Wochen vorher angekündigt. Klar – im Nachhinein hätte man sich darauf einstellen müssen, dass eine Partei nicht die Spielregeln befolgt – also einen eigenen Kandidaten aufstellt und ihn dann nicht mal selbst wählt, wie es die AfD getan hat. Im Sport wird man für so ein Foul vom Platz gestellt. Ich habe nicht gefoult, ich bin der Gefoulte.

Haben Sie denn nicht darüber nachgedacht, was passieren könnte, wenn Sie gewählt werden? Sie hätten es ja auch bei der Wahl belassen und dann den Posten zurückweisen können.

Wir hätten nach Bekanntgabe des Ergebnisses eine Auszeit nehmen müssen. Wir waren darauf nicht vorbereitet. Aber man muss auch die andere Reaktion sehen: Oft genug haben wir in den Wochen zuvor mit SPD und Grünen über eine Simbabwe-Lösung gesprochen, also eine schwarz-rot-grün-gelbe Koalition. Eine solche Minderheitsregierung wäre möglich gewesen. Das ist das, was mir durch den Kopf ging. Gleichzeitig habe ich immer gesagt: Es wird keine Zusammenarbeit mit der AfD geben. Wir wollten die demokratische Mitte stärken, die in diesem Parlament unterrepräsentiert ist. 

Gab es denn CDU-Abgeordnete, die Sie zu einer Kandidatur ermutigt haben? 

Ja. In den Tagen zuvor habe ich mit einer Reihe von CDU-Abgeordneten gesprochen, und bis hin zum heutigen Fraktionsvorsitzenden Mario Voigt bekam ich Unterstützung für meine Kandidatur.

Diese Leute haben also hinter dem Rücken Mohrings gegen den Beschluss der CDU-Fraktion agiert? 

Wir waren uns einig, dass es einen Kandidaten der Mitte geben muss. Und sie sagten mir: So fünf, sechs, sieben Stimmen aus der CDU können wir uns für dich vorstellen. Es wäre ja schon ein Erfolg gewesen, wenn ich auf diese Weise knapp zweistellig nach Hause gegangen wäre. 

Am Abend der Wahl sagten Sie, dass Sie nun in Gespräche mit SPD und Grünen gehen wollten. Glaubten Sie ernsthaft, dass Grüne und SPD zu Gesprächen mit einem Ministerpräsidenten bereit sein würden, der von der AfD gewählt worden war? 

Nennen Sie mich naiv. Ich habe gedacht, dass in einem demokratischen Parlament diejenigen, die sich für die demokratische Mitte halten, auch miteinander reden können. Die Diskussion wurde jedoch nicht von den Parteien weitergeführt, sondern von ihnen auf die Straße getragen. Damit wurde der Demokratie kein Gefallen getan. Der Staatsminister Hoff hat mir damals die Schlüssel der Staatskanzlei übergeben. Kurz darauf stellte er sich vor die Tür und sagte: Wir müssen den da wieder rauskriegen. Das Ausmaß der Anfeindungen hat mich schockiert. 

Können Sie das konkretisieren? 

Schon im Wahlkampf hat jemand unser Haus mit einem Antifa-Spruch beschmiert. Aber was dann rund um die Wahl passiert ist, kann man kaum beschreiben. Mein Jüngster, damals elf Jahre alt, musste unter Polizeischutz zur Schule gehen. Meine Frau ist aufs Übelste beschimpft worden – vor ihr wurde ausgespuckt. Die Straße vor unserem Haus war die ganze Nacht über von Polizeischeinwerfern hell erleuchtet. Und die ganze Zeit hörte meine Familie, wie der Name Kemmerich auf hässliche Weise skandiert wurde. Ausschlaggebend dafür, dass ich das Amt wieder zur Verfügung gestellt habe, war neben dem politischen Rückzug der anderen Parteien auch dieser unmenschliche Umgang mit meiner Familie. 

Und wo waren die CDU-Leute, die Sie vor der Wahl ermutigt hatten?

Die waren weg. Sie haben sich vermutlich dem Diktat der Kanzlerin aus Südafrika gebeugt.

Ein anderer, der weg war, war Ihr Parteichef Christian Lindner, der Sie am Tag der Wahl zunächst unterstützt hatte. Wie stand er zu Ihrer Kandidatur?

Ich habe ihn informiert, er hat immer gesagt: Das ist eure Entscheidung. 

Da hat offenbar auch er etwas falsch eingeschätzt. Wie ist Ihre Beziehung heute? 

Professionell. 

Die FDP auf Bundesebene hat eine Brandmauer gegen Sie errichtet. Der Vorstand hat klargemacht, dass die Thüringer FDP keine Unterstützung bekommen hätte, wenn Sie Spitzenkandidat geworden wären. Seit Oktober lassen Sie Ihren Sitz im Bundesvorstand ruhen. 

Das lassen wir jetzt einfach mal so stehen.

Aber das hat Sie dennoch nicht zum Rückzug bewogen – Sie wollen wieder als FDP-Vorsitzender kandidieren. 

Das entscheidet der nächste Landesparteitag. Wir haben in der Politik oft die Regel: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal. Ich bin mit einer erfolgreichen Karriere als Unternehmer im Rücken in die Politik gegangen. Und von mir aus sehe ich die Mission noch nicht als beendet an. Ich habe noch Spaß an der Aufgabe. 

Wie sehen Sie Ihre Chancen?

Ich habe ein gutes Gefühl, breite Unterstützung in der Partei zu haben. Aber auch außerhalb der Partei bekomme ich viel Zuspruch: Laut Umfragen bin ich sehr bekannt, immerhin 18 Prozent der Thüringer bewerten positiv, was ich politisch tue. 

18 Prozent – davon hat einst auch Guido Westerwelle geträumt. Thüringen ist das einzige ostdeutsche Bundesland, in dem die FDP im Landtag vertreten ist. Müssten die Liberalen im Osten anders auftreten, um politisch erfolgreich zu sein? 

Ich kann da nur für Thüringen sprechen. Wir sind ein ländlich geprägtes Bundesland – nur eine gute halbe Million Menschen lebt in den größeren Städten. Die ländliche Bevölkerung ist eher konservativ geprägt. Das ist auch ein Grund, warum die Grünen hier schwer Fuß fassen. Wir haben eine breite Mittelschicht mit über 100 000 Selbstständigen. Wir betonen hier als Freie Demokraten manches Thema anders.

Sie sind einer der wenigen Vertreter des nationalliberalen Flügels in der FDP. 

Nationalliberal würde ich zurückweisen. Ich bin ein konservativer Mensch, aber ich bin aus tiefstem Herzen wirtschaftsliberal. 

Grob gesagt: Sie würden sich keinen „Refugees Welcome“-Button anstecken. 

Da bin ich entspannt. Mein Fokus richtet sich zunächst auf die Rechtsstaatlichkeit des Zuzugs. Wer auf legalem Weg zu uns kommt, den heiße ich willkommen. Wir wollen einen Staat, der regelt, was unbedingt notwendig ist, der das konsequent kontrolliert und auch durchsetzt.

Warum hat die konservative und wirtschaftsliberale Abteilung in der FDP es schwerer, gehört zu werden, als die sozialliberale Abteilung? 

Das ist eher eine mediale Betrachtung: Der „anderen Seite“ fällt es vielleicht manchmal leichter, zitiert zu werden. Gerhart Baum tritt eben immer noch für uns Freie Demokraten auf – und mit diesen Positionen wird dann die ganze FDP verbunden. Da kommt das Wirtschaftsliberale etwas kürzer. Aber ich kenne viele Par­teifreunde landauf, landab, die so ticken wie ich. Es ist allgemein schwer, in der Öffentlichkeit Positionen von Mittelständlern hörbar zu machen. Das sieht man auch in der Diskussion um die Corona-­Hilfen: Man bekommt es kaum jemandem erklärt, welche Folgen das für Unternehmer hat, wenn das Geld drei Monate später kommt.

Beim Thema Corona erfährt die FDP viel Kritik dafür, dass sie gegenüber der Corona-­Strategie der Regierung zu lange eine „Hände an der Hosennaht“-Haltung an den Tag legte. Sie dagegen waren der einzige führende FDP-Politiker, der auf Demonstrationen gegen die Corona-­Maßnahmen aufgetreten ist – vor einem zuweilen sehr heterogenen Publikum. Auf einem Video aus Gera sieht man, wie Sie dort als Verräter beschimpft werden.

Man kann sich auf so einer Veranstaltung nicht aussuchen, vor wem man redet. Und speziell dieser Herr hatte offenbar schon ein paar Bier intus. Was unsere Positionierung als FDP betrifft: Ich glaube, dass wir heute ausreichend kritisch sind. Ich bin da viel mit Wolfgang Kubicki im Austausch. Warum schützen wir nicht effektiver die vulnerablen Gruppen? Warum sind wir so zaghaft beim Verteilen von FFP2-Masken? Es ist immer eine Frage der Kommunikation, aber alles, was wir von Christian Lindner seit Mai gehört haben, ist ausreichend kritisch. Wir setzen auf die Selbstverantwortung der Menschen: nicht Impfpflicht, sondern Impfakzeptanz. 

Sie sprechen den rhetorischen Haudrauf Kubicki an: Braucht die FDP mehr Kubicki und weniger Kuhle, um zweistellig zu werden? 

Wir brauchen beides. Auch mit Konstantin komme ich gut klar. Aber Wolfgang Kubicki ist eben wie ich für seine klare Sprache bekannt. Die Leute wissen ja selber, wie schlimm das Virus ist. Aber sie wollen eine Perspektive haben. Und der Dauer-Lockdown kann nicht die Lösung sein. 

Eigentlich hatte die Koalition in Thüringen vereinbart, dass im April neu gewählt wird. Nun wurde die Wahl mit Verweis auf die Pandemie verschoben. Liegt das auch daran, dass sich Ramelow verrechnet hat? Umfragen zufolge würde eine Wahl dasselbe Ergebnis wie 2019 hervorbringen: Die AfD ist nicht schwächer geworden, die Linke nicht stärker – wieder gäbe es keine erkennbare Mehrheit für eine Koalition.

Darauf hat man sicher spekuliert, und der eine oder andere hätte auch gerne gesehen, dass wir Freien Demokraten viel schlechter stehen. Aber auch ich sehe jetzt keinen Zeitdruck für Neuwahlen: Das Parlament ist für fünf Jahre gewählt und handlungsfähig. Thüringen braucht eine Strategie, wie man aus der Pandemie nach vorne kommt, das ist das Wichtigste. Unabhängig davon, wann die Wahl stattfindet: Die FDP hat gute Chancen, wieder in den Landtag zu kommen. 

Welche Wunschkonstellation sehen Sie für die FDP auf Bundesebene? 

Meine Leidenschaft gehört eher einer Koalition mit der CDU als einer Ampel. Wichtig ist aber, dass wir wieder zweistellig werden, um dann auf Augenhöhe verhandeln zu können.

Sie freuen sich auf eine Zeit nach Merkel? 

Ich glaube, dass es für die CDU wichtig ist, auf einen neuen Kurs zu kommen: nicht Kanzlerinnenpartei zu sein, sondern sich um die Probleme Deutschlands zu kümmern. Frau Merkel ist ja dafür bekannt, immer das Populäre zu tun, und nicht in erster Linie das, was richtig ist. Walter Scheel hat dagegen immer gesagt: Wir müssen das Richtige tun und es dann populär machen. Man sollte nicht immer den Umfragen hinterherlaufen.

Und die FDP zweistellig ist möglich mit Christian Lindner? 

Ja. Ich halte ihn für den besten Vorsitzenden und Spitzenkandidaten.

Vor dem Hintergrund, dass Herr Lindner einst mit der Aussage „Heute wird es auf jeden Fall einen Rücktritt geben“ nach Erfurt gefahren ist, ist das ein hervorragender Schlusspunkt für unser Gespräch. Herzlichen Dank.

Ich bedanke mich. 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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