Tag der Deutschen Einheit - So zerrissen wie nie

33 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist die Bundesrepublik ein zerrissenes Land: Politisches Versagen – vom Energiebereich bis zur Migration – sorgt bei den Menschen für Vertrauensverlust und treibt sie in die Arme rechter Populisten. An diesem 3. Oktober besteht deshalb kein Grund zum Feiern – sondern zum Innehalten.

Ausgelassene Stimmung vor dem Brandenburger Tor am 3. Oktober 1990 / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Für eine kritische Bestandsaufnahme sind Feiertage üblicherweise der falsche Anlass. Aber vielleicht sollten wir diesmal anders an die Sache herangehen und uns fragen: Was hat uns eigentlich so weit auseinandergebracht? Wann innehalten, wenn nicht am heutigen 3. Oktober, 33 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung?

„Wo Neues am Horizont auftaucht, bieten sich immer auch Chancen“, formuliert Olaf Scholz in seinem Grußwort zu den Einheitsfeierlichkeiten, die nun zum dritten Mal in Hamburg abgehalten werden. Und er fährt fort: „Vor allem dann, wenn wir als Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zusammenhalten.“ Was angesichts der gesellschaftlichen Stimmung mehr wie ein Appell klingt denn wie eine Beschreibung der Situation. Denn auch und gerade der Bundeskanzler weiß ja genau, dass Deutschland – zumindest mental – so tief gespalten ist wie seit 1990 nicht mehr. Fatalerweise ist es seine eigene Bundesregierung, die diese Entwicklung in den vergangenen zwei Jahren noch einmal vorangetrieben hat.

Die Ampel als Brandbeschleuniger

Anstatt die offensichtlichen Bruchstellen so gut wie möglich zu kitten und zu stabilisieren, betätigt sich die Berliner Ampel nämlich als Brandbeschleuniger. Und es sind ausgerechnet die sensibelsten Bereiche, in denen die selbsternannte Fortschrittskoalition sich aufführt wie der Elefant im Porzellanladen: Klima, Migration, Geschlechterfragen, Meinungsvielfalt. Mit einem regelrechten Furor sollen die Bürgerinnen und Bürger auf Line gebracht werden, ohne dass dabei auch nur im Geringsten ein schlüssiges Konzept für die Zukunft zu erkennen wäre.

Was auch daran liegt, dass die Spaltung nicht nur ein normalgesellschaftliches Phänomen ist, sondern der Ampelarbeit als solcher innewohnt. Scholz selbst sieht sich ja nicht ohne Grund in der Rolle eines politischen Moderators, der die widerstreitenden Interessen innerhalb seines Kabinetts irgendwie auszugleichen sucht. Aber weil es immer und immer wieder ins Grundsätzliche geht, weil insbesondere die FDP und die Grünen ein völlig unterschiedliches Staats- und Menschenverständnis pflegen, kann das nicht gelingen. Die Leute im Land spüren das – und sind nicht nur verstimmt. Sondern verlieren zunehmend das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Demokratie. Eine fatale Entwicklung.

Die Kluft ist größer geworden

Es reicht ein Blick auf die politische Landkarte, um zu erkennen, wie groß die Kluft zwischen dem Osten und dem Westen dieser Republik wieder geworden ist. Die AfD, deren Name in den Medien stets nur mit dem Zusatz „rechtspopulistisch“ fällt, hat sich in fast allen Bundesländern auf dem Territorium der ehemaligen DDR zur (mit Abstand) stärksten Partei entwickelt. Und ja: Die „Alternative für Deutschland“ ist rechtsnationalistisch, teilweise sogar rechtsextrem – weshalb es Aufgabe aller Demokraten, denen die Stabilität unseres Landes am Herzen liegt, sein sollte, ihrerseits politische Alternativen anzubieten. Denn Populismus kann ja nur erfolgreich sein, wenn Probleme liegen bleiben oder erst gar nicht benannt werden.

Genau das ist aber, insbesondere beim Thema Migration, passiert in den vergangenen Jahren (übrigens bis tief in die Ära Merkel hinein). Und weil die allermeisten politisch Verantwortlichen mit Blick auf eine ungesteuerte, völlig aus dem Ruder gelaufene Zuwanderung ängstlich den Kopf in den Sand gesteckt haben, wurde das Beschweigen von Missständen implizit zu einer Art Bürgerpflicht erhoben: Wehe dem, der’s Maul aufmacht!

Wer die DDR noch bewusst erlebt hat, fühlt sich deshalb mitunter an alte, an ungute Zeiten erinnert. Mit dem (übrigens glücklichen) Unterschied, dass man seinem Protest heute direkt an der Wahlurne Ausdruck verleihen kann. Dass davon ausgerechnet politische Hasardeure mit Extrempositionen profitieren, auch das gehört zur Tragik der jüngeren bundesrepublikanischen Geschichte.

Radikalisierung als Geschäftsmodell

Der Erfolg des rechten Spaltpilzes ist nicht zuletzt das Ergebnis eines gesellschaftlichen Sektierertums, dem insbesondere meinungsstarke Teile der politischen Linken anheimgefallen sind und das mit dem diffusen Begriff der „Identitätspolitik“ nur unklar verortet werden kann.

Aber eines dürfte allemal klar sein: Der Versuch, breiten Schichten in der Mitte der Bevölkerung latenten Rassismus, Homophobie, Xenophobie oder ewiggestrigen Nationalismus zu unterstellen, muss zwangsläufig zu Gegenreaktionen führen – auch zu einem trotzigen Widerspruch dergestalt, dass rechte Populisten eigentlich nicht einmal mehr mit Inhalten oder Konzepten für sich werben müssen, weil ihnen die Wähler scharenweise von links-identitären Aktivisten aus Parteien und deren staatlich alimentierten Vorfeldorganisationen in die Arme getrieben werden. Was denn auch für beide Seiten ein zynisches Geschäftsmodell darstellt, weil Radikalisierung und Gegen-Radikalisierung einander dynamisieren. An den politischen Rändern ist die Spaltung jedenfalls das eigentliche Lebenselixier.

Es könne kein Zweifel daran bestehen, dass Regierungen und parlamentarische Mehrheiten in Deutschland „nie eine Mehrheit der Bürger für ihre Politik in Sachen Asyl und Staatsangehörigkeit gewonnen haben“, schrieb der Politologe Peter Graf Kielmannsegg soeben in der FAZ. Kontrollierte Grenzen, Rücksichtnahme auf die Integrationskapazitäten des Landes von den Schulen bis zum Wohnungsmarkt, keine nahezu bedingungslos zugestandene Mehrfach-Staatsangehörigkeit – das seien die Bedingungen, unter denen starke Zuwanderung aus fremden Kulturräumen bestenfalls hätte mehrheitsfähig gemacht werden können. „Sie zu ignorieren war durchaus legal. Die von der Verfassung bevollmächtigten Autoritäten durften so handeln, wie sie gehandelt haben und noch handeln. Aber es war und ist nicht klug.“ Oder um es härter zu sagen: Es war unverantwortlich. Kielmannsegg schlussfolgert: „Der Schaden, der dem Gemeinwesen zugefügt wird, ist noch nicht wirklich abzusehen. Aber es spricht viel dafür, dass zumal der Vertrauensverlust dramatische Folgen haben wird.“

Spaltung und Vertrauensverlust

Die zunehmende Spaltung Deutschlands ist eine unmittelbare Folge dieses Vertrauensverlustes. Es ist das verlorene Vertrauen vieler Menschen in jene etablierten Parteien, die sich ja nur deshalb etablieren konnten, weil ihnen von breiten Wählerschichten über lange Zeit Pragmatismus und Problemlösungskompetenz unterstellt wurden. Dann kam spätestens mit Merkels sogenannter Grenzöffnung der Bruch – und die Mitte begann zu erodieren.

Die Grünen wiederum mussten die affektgetriebene Politik der früheren Bundeskanzlerin als eindrückliche Bestätigung ihres weltfremden Glaubens an Grenzenlosigkeit und Multikulturalismus verstehen: Wovon sie jahrzehntelang geträumt hatten, wurde auf einmal von einer vermeintlich bürgerlichen Regierungschefin umgesetzt. Was das bündnisgrüne Lager beinahe zwangsläufig unter Handlungsdruck brachte, um unterscheidbar zu bleiben; die Lösung lautete deshalb „Merkel im Quadrat“. Kein Wunder, dass man sich dort noch heute gegen alles stemmt was auch nur ansatzweise nach „Obergrenzen“ riecht.

Beim Klimathema verhält es sich übrigens nicht viel anders: Die Radikalität beim Durchexerzieren der „großen Transformation“ ist gewissermaßen die Steigerung einer ohnehin schon unvernünftigen Emissions- und Energiepolitik, mit der das bürgerliche Lager glaubte, sich gegen die (auch wegen ihrer geschickten Verankerung in den Medien) immer deutungsmächtiger werdenden Grünen immunisieren zu können. Diese Rechnung ging erkennbar nicht auf: Kaum an der Macht, begannen Habeck und Baerbock mit ihrer Brechstangen-Politik, und zwar (im Wortsinn) ohne Rücksicht auf Verluste: Die Wärmepumpen-Offensive des Bundeswirtschaftsministers und die Sonderaufnahmeprogramme der Außenministerin lassen grüßen. Wobei die daraus resultierende gesellschaftliche Spaltung für die Grünen noch dazu profitabel ist, weil mit jedem Zuwachs für die AfD auch die Wahrscheinlichkeit grüner Regierungsbeteiligung in einem Allparteien-Bündnis gegen die Rechtspopulisten wächst.

Gedenktag statt Feiertag

Dieser 33. Tag der Deutschen Einheit ist ein Feiertag, den wir heute besser als Gedenktag begehen sollten. Es wäre nämlich höchste Zeit, an das Jahr 1990 zurückzudenken. An das, was die beiden Teile unseres Landes getrennt hatte, und mit welcher Zuversicht, mit welchem Elan sich die Menschen in Richtung einer gemeinsamen Zukunft bewegten. Nicht alle natürlich, aber eine Aufbruchsstimmung war durchaus vorhanden.

Wer damals seinen Arbeitsplatz in einem DDR-Betrieb verlor, mag das verständlicherweise anders sehen, und die berühmte „Mauer in den Köpfen“ zwischen Ossis und Wessis hatte noch lange nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Bestand. Aber wir waren, davon bin ich überzeugt, auf einem guten Weg. Es ist tragisch, dass unser Land von diesem Weg wieder abgekommen ist. Und es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet eine vom Kanzler der Deutschen Einheit geförderte Politikerin aus Ostdeutschland richtungsweisende Fehlentscheidungen getroffen hat.

„Welch ein Glück, dass wir diese Herausforderungen als ein starkes und geeintes Land angehen können“, heißt es im Grußwort von Olaf Scholz zu den heutigen Einheitsfeiern. Das entspricht zwar nicht der Realität. Aber was nicht ist, kann ja wieder werden. Es liegt übrigens an allen von uns.

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