SPD - Wach doch mal auf, Mensch!

Die SPD will ihre Personal- und Programmatikfragen erst im Dezember entscheiden. Ein Fehler, denn damit droht die Selbstzerfleischung. Es braucht jetzt Entscheidungen. Und Antworten auf die Frage: Wie schafft man sozio-ökonomischen Fortschritt für möglichst alle und nicht für wenige?

Oskar Lafontaine (rechts) setzte sich 1995 bei einer Kampfabstimmung gegen Rudolf Scharping durch / picture alliance
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Autoreninfo

Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Zuletzt sind von ihm im Dietz-Verlag erschienen: „Das Streben nach Freiheit“ und  „Die liberale Illusion“.

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Es läuft nicht für die SPD. Und das liegt zentral an der fehlenden klaren Programmatik. Für wen will man eigentlich Politik machen? Und mit was? Das kriegt die SPD gerade nicht mehr geklärt. Und statt sich nun nach erneut verlorenen Wahlen mit den politischen Notwendigkeiten zu beschäftigen, verliert die Partei sich gerade in vermeintlich notwendigen internen Partei- und Verfahrenslogiken. Außerhalb der SPD interessiert sich aber keiner für Verfahren von Wahlen für Spitzenämter. Man will wissen, was die SPD will.

Meine These ist: Die SPD erlebt gerade einen neuen Mannheim-Moment. Damals im November 1995 putschte Oskar Lafontaine gegen Rudolf Scharping auf einem Parteitag der SPD in Mannheim. Scharping hielt sich für einen Integrationskandidaten, der es allen recht machen wollte. Aber er begeisterte nicht und er gab keine Orientierung. Oskar Lafontaine trat gegen Scharping an und gewann eine Kampfabstimmung. Lafontaine gab der Partei neuen Wind und endlich wieder eine Richtung.

Es gilt jetzt wieder den Kurs klar zu entscheiden und das auch mit Personen. Integrationskandidaten braucht die SPD nicht. Sie braucht eine Richtung. Sie braucht einen neuen Oskar Lafontaine, der den Weg vorgibt.

Bald die nächste elektorale Ohrfeige

Je länger die SPD intern Ungeklärtes mit Verfahrenslogiken übertüncht, desto mehr wird sie taumeln und beim Wähler verlieren. Wer glaubt, er könnte sich mit Mitgliederbefragungen und Regionalkonferenzen ruhig bis in den Winter retten, der irrt. Ungeklärte Personal- und Programmatikfragen bis in den Dezember, werden eine politische Selbstzerfleischung der SPD über die kommenden Monate implizieren, an deren Ende im Herbst der Wähler der SPD bei den anstehenden Wahlen den Blattschuss verpassen wird.

Der neue oder die neuen Parteivorsitzenden dürfen dann einen gedemütigten und handlungsunfähigen Tanker übernehmen, wo sie nur noch das zerbrochene Porzellan zusammenkehren können, um sich dann wohl als bald die nächste elektorale Ohrfeige zu holen, weil auch sie in so einer politischen Lage nicht fähig wären, harte Kursentscheidungen in der Partei zu exekutieren.

Volksparteien als Einheitstreiber

Die obersten Porzellan-Kehrer der SPD müssten nämlich als Geste der innerparteilichen Befriedung erst einmal allen ein Friede-Freude-Eierkuchen-Gefühl geben, und in der Folge würde natürlich nichts geklärt. Insofern: Jetzt müssen Entscheidungen her.

Aber welche? Überall wird doch zurzeit die Zerrissenheit und Spaltung der Partei politisch wie publizistisch dokumentiert. Die SPD, so das fast einhellige mediale Übereinstimmen, leide doch mit am meisten unter einer neuen politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Denn die Gesellschaft sei schließlich nicht mehr jene „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) und vielmehr sei sie nun durch mehr Diversität geprägt, wodurch in der Folge Kleinstgruppen weniger Interesse an einer großen Gesellschaftspolitik hätten und die aus ihrer Lebensweltrealität entspringenden Wünsche und Vorstellungen viel stärker gewichten. Die Volksparteien als Einheitstreiber würden dabei erodieren und gruppenidentitätspolitische Formationen an Zuspruch gewinnen. Vor allem die SPD schaue folglich ins Leere und verliere ihre Bedeutung auf dem Wählermarkt.

Nur die Vielfalt, die wir meinen

Der Soziologe Andreas Reckwitz sprach hierzu korrespondierend in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von einer Abkehr von der „Logik des Allgemeinen“ zu einer „Logik des Besonderen“. Dieses Besondere steht in der heutigen immer wieder als „vielfältig“ beschriebenen Gesellschaft aber auch für eine Entfremdung und impliziert Widerstreit.

Dieser Widerstreit sei nicht mehr aufzulösen, argumentieren zumeist nun jene, die ein strukturelles Dilemma für die SPD aufgrund der neuen politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit diagnostizieren. Allerdings sind jene, die für die Akzeptanz der Vielfalt werben, oft so eindimensional, dass sie schon deutlich normativ werden und implizit andeuten: Nur die Vielfalt, die wir meinen. Aber Vielfalt, das heißt eben nicht nur arm und reich, akademisch gebildet und Hauptschulabschluss, Atheist und Kirchengänger, sondern es heißt auch: Refugees Welcome und Migrationskritiker, Elektroauto-Enthusiast und Dieselliebhaber, Veganer und Fleischesser, feministische Männer und Machos, Feministinnen und konservative Hausfrauen.

Strukturelle Dilemma nicht auflösbar?

Jedenfalls ist ein strukturelles Dilemma, ja ein Riss des früheren Bandes, welches die aufstiegshungrige nivellierte Mittelstandsgesellschaft der jungen Nachkriegsrepublik zusammenhielt und auf Ausgleich und Integration fokussierte, keine reine Erfindung. Einer der jüngeren Beiträge, indem über dieses strukturelle Dilemma der Sozialdemokratie zu lesen war, ist ein Interview mit der Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann im Berliner Tagesspiegel. Da sagte sie: „Wir müssen das strukturelle Fundament verstehen. Die Themen, die heute Wählerschaften spalten, haben sich grundlegend verändert.“

Ist es aber nun die Aufgabe von Politikwissenschaft und Politik die angeblich neue Zeit und ihr Denken einfach anzunehmen? Sollen wir nun einfach ein neues Vielfaltsmanagement entwerfen und akzeptieren, dass jenes zuletzt immer wieder beschworene strukturelle Dilemma nicht auflösbar ist, sondern sich die Gesellschaft immer weiter ausdifferenziert?

Geschichte wird gemacht

An dieser Stelle dürfen und müssen zwei Dinge gefragt werden: Erstens: Ist diese „grundlegende Veränderung“ einfach nur eine Behauptung und allenfalls eine wage empirisch belegbare These? Zweitens: Grundlegende Veränderungen entstehen nicht über Nacht. Sie wurden in der Vergangenheit bewirkt und zwar durch aktive Handlungen von Personen und Formationen. Es wäre nämlich ein Märchen zu behaupten, dass „grundlegende Veränderungen“ irgendwie durch unsichtbare Hand sich so ergeben hätten, und keiner etwas dafürkonnte.

Jeder, der mal etwas über die Idee der „kulturellen Hegemonie“ gehört hat, weiß, dass die Jungfrau nicht einfach so zum Kinde kommt. Jeder, der etwas Anderes behauptet, erzählt Ihnen Quatsch. Geschichte wird gemacht. Sie fällt nicht vom Himmel und „unsichtbar“ passiert Veränderung schon gar nicht. Insofern lautet die zweite Frage: Warum kann sich eine „grundlegende Veränderung“, wenn es sie denn wirklich gibt, nicht auch einfach aktiv wieder verändern lassen?

Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst

Um die erste Frage zu beantworten, könnte man nun ein paar theoretische Argumente und ein paar Statistiken austauschen, um sich gegenseitig davon zu überzeugen, dass diese Behauptung von „grundlegenden Veränderungen“ entweder wahr oder falsch ist. Das wäre aber sehr müßig und würde wohl kaum zu einem Ergebnis führen. Denn im Zweifel winkt man mit unterschiedlichen Statistiken, empirischen Befunden und Interpretationen und wundert sich dann über den Gegenüber, warum der nur so verbohrt nicht sehen will, was man ihm gerade doch eigentlich glasklar und rational ersichtlich präsentiert hat.

Insofern lohnt die zweite Frage mehr Beachtung. Und hier könnte man mit einer Idee des Ökonomen Jean-Baptiste Say beginnen, die auch nach ihm benannt ist: Dem sayschen Theorem. Es sagt aus, dass jedes Angebot sich seine Nachfrage selbst schafft. Dieser Kernsatz der neoklassischen Wirtschaftstheorie ist zwar in der Wirtschaftswissenschaft weitgehend widerlegt worden – vor allem durch Arbeiten von John Maynard Keynes und seinen Nachfolgern. Aber der Gedanke lohnt, ihn einmal in die Politik zu übertragen. Danach schafft ein neues politisches Angebot seine Nachfrage selbst.

Zeit für neue und gleichsam „die alten“ Konflikte

Aber wie sollten die SPD und die Union nun etwas konkret verändern und ein „neues“ Angebot schaffen? Im Grunde ist es einfacher als viele meinen. Es gilt mit Thesen, Ideen und Konzepten viel stärker über wirtschaftliche und soziale Themen zu streiten, und damit die Debatten zu bestimmen, anstatt – vormals – Kleinstparteien das Feld zu überlassen und sich in dem Kulturkampf aufzureiben, den diese Kleinstparteien dominieren.

Der Ökonom Heiner Flassbeck bringt diese notwendige Wiederentdeckung der politischen Ökonomie auf den Punkt: „Ist es nicht komisch? Seit die ‚Parteien links und rechts der Mitte‘ aufgehört haben, über Wirtschaft zu streiten, sind zuerst die Sozialdemokraten und dann die Christdemokraten abgeschmiert. Wo es scheinbar keine Alternative gibt, wählen die Bürger plötzlich Alternativen – selbst wenn sie sich nur so nennen wie die Grünen oder die AfD.“ Zeit also für neue und gleichsam „die alten“ Konflikte.

Eine Rückkehr der früher primären Konfliktlinie

So könnten die neuen Konflikte etwa heißen: „Mehr Sozialstaat“ gegen „Weniger Sozialstaat“. „Höherer Mindestlohn“ gegen „keine Veränderung“. „Mehr und höhere Steuern auf Kapital“ gegen „keine neuen und höheren Steuern auf das Kapital“. „Mehr Industriepolitik“ gegen „Keine Staatsintervention“. „Sehr viel mehr Geld in Bildung, Grundlagenforschung und staatliche Infrastruktur“ gegen „Ein bisschen mehr Geld“. „Milliardenschwere staatliche Investitionen in Künstliche Intelligenz und neue Umwelt- und Energietechniken“ gegen „der Markt macht das schon“. Die Liste polit-ökonomischer Konflikte, die man führen könnte, wenn man denn wollte, wäre aber noch weit länger.

Grundsätzlich geht es um eine Rückkehr der früher primären Konfliktlinie, die sich orientiert an der Frage: Wie erreicht man sozio-ökonomischen Fortschritt für möglichst alle und nicht für wenige?

Politische Elite zaudert noch

Nun stehen neue Prozesse des Wandels wie Digitalisierung, Migration und Klimawandel zu dem auch schon längst vor der Tür. Sollen wir hier aber weiter wie in Proseminaren über die kommenden – vor allem wirtschaftlichen – Veränderungen reden? Oder fangen wir endlich an darüber ernsthaft zu reden und leidenschaftlich zu streiten, was die besten Wege sind damit fertig zu werden und zwar so, dass es dabei möglichst viele Gewinner und möglichst wenig Verlierer gibt? Momentan zaudern das Land und ihre politische Elite noch.

Woran es auch immer liegt, dass die Parteien der Mitte aufgehört haben, miteinander sinnvoll über die Zukunft zu streiten. Es muss jetzt ein Ende haben. Der Konflikt kommt zurück. Ja, er ist es längst. Es stellt sich nur die Frage, wer die bestimmenden Konfliktparteien sind und mit was sie das sind. Das sollten die beiden großen Volksparteien, allen voran die Sozialdemokratie, die momentan am stärksten leidet, nun begreifen.

Durch die SPD muss ein Ruck gehen

Sie wären jedenfalls verdutzt, wie schnell nur noch über die SPD und die FDP und die Union geredet würde, und man sich für Grüne und AfD erstmal weniger interessieren würde, wenn auf einmal wieder politische Ökonomie zum Zentrum des politischen Streits avancierte.

Der richtige Kurs für die SPD liegt somit auf der Hand. Findet zurück zur politischen Ökonomie und dekliniert das aus: Von der Sozialpolitik, über die Wirtschaftspolitik bis hin zur Migrationspolitik und Umweltpolitik.

Durch die SPD muss jetzt ein Ruck gehen. Es gilt eine politische Kursentscheidung zu treffen und sie dann handwerklich zu unterlegen.

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