SPD in der Krise - Kein „Glück auf“ von Genosse Olaf

Die Krise der Sozialdemokratie und die Unzufriedenheit mit der Ampelregierung von Kanzler Scholz haben ihre Ursache in einem abgehobenen Mindset. Kann die SPD noch umsteuern und das Land retten?

Bundeskanzler Olaf Scholz / Nils Stelte
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Der Aussichtsturm mit seinen 173 Metern soll für die Zukunft stehen. Aus 31 Meter Höhe kann der Betrachter die neue Ostsee von Cottbus erblicken. „Nicht die Ostsee, sondern der Ostsee“, sagen sie vor Ort mit etwas Stolz. Es wird nach vollendeter Flutung mit 1900 Hektar der größte See Brandenburgs werden. Naherholung, neue Wohngebiete und viel Natur. Doch als der sozialdemokratische Ministerpräsident Dietmar Woidke an einem kalten Wintertag mit einer Besuchergruppe hinaufsteigt, da fällt nicht der See ins Auge. Am Horizont zeichnet sich vor blauem Himmel das mächtige Kraftwerk Jänschwalde ab. 

Neun Kühltürme, jeder so hoch, wie ein Fußballfeld lang ist, blubbern weiße Wolken in den Himmel. Wenn nicht jeder wüsste, dass dort Braunkohle zu Strom verfeuert wird, könnte man es für ein beeindruckendes Naturschauspiel halten. Wie ein Vulkan, der raucht. Jänsch­walde ist eins der schmutzigsten Kraftwerke Deutschlands, weltweit landet es auf Platz sieben der größten Dreckschleudern. Das liegt auch an den alten sowjetischen Dampfkesseln. Und doch ist Jänschwalde eine Sehenswürdigkeit. Es gehört zur Landschaft wie anderswo die Gipfelsilhouette. Jänsch­walde, der Ayers Rock der Lausitz.

Woidke bringt sich in Position. Alle wollen ihn mit See und Kraftwerk fotografieren, und er macht gerne mit. Er scheut die Bilder mit der Braunkohle nicht. Einer will auch noch ein Selfie mit SPD-Politiker und Kühltürmen. Wo andere nur wüstes Land ohne Bäume und Blumen und Fabrik erkennen, sagt er: „Das ist meine Heimat.“ Und er weist mit der Hand in die südliche Richtung, wo man nur den See sieht, aber kurz vor der polnischen Grenze noch ein Ort kommt. „Dort bin ich aufgewachsen.“ Es gibt keine Distanz zwischen Woidke und dem Land. „Mein Herz ist hier.“

Energieproduktion und Schwerindustrie

Wer die Sozialdemokratie verstehen will, muss in die deutschen Bergbauregionen fahren. Oder besser in die Regionen, die einmal tief von der Kohleförderung geprägt wurden, dort, wo sich das ganze Leben um die fossilen Brennstoffe drehte, wie man heute sagt, um Energieproduktion und Schwerindustrie. Dort, wo dreckige Hände Synonym für Wohlstand waren oder zumindest für ein gutes Auskommen standen. Dort, wo sie sich mit „Glück auf“ grüßen, auch wenn sie, wie in der brandenburgischen Lausitz, im Tagebau beschäftigt sind. Und dort, wo alles anders werden soll. Kein Bergbau mehr, keine Kohle, stattdessen Seen und „Energiewende“. 

Auf dem zurückliegenden SPD-Bundesparteitag in der modernen Messehalle in Berlin sagten die Redner auch immer „Glück auf“, wenn sie ihre Ansprachen beendeten. „Liebe Genossinnen und Genossen“ am Anfang, „Glück auf“ am Schluss. Der Parteivorsitzende Lars Klingbeil und seine Stellvertreterin Saskia Esken reden so, die meisten reden so. Nur der Kanzler nicht. Kein „Glück auf!“ von Genosse Olaf. Es wird viel von Transformation gesprochen und davon, dass Deutschland Industrieland bleiben müsse. Vor allem aber wird darüber gesprochen, dass man mehr Schulden für alle Notlagen brauche. „Glück auf!“ Das ist das sozialdemokratische Amen. Doch wie viel Bergbau steckt noch in der SPD? Wie viel Malocher-Gen? Und wie viel Lausitz?

Das SPD-Logo als begehbare Kulisse auf dem Bundesparteitag in Berlin / Foto: Nils Stelte

Die deutsche Sozialdemokratie stellt seit zwei Jahren wieder den Kanzler. Doch die von Olaf Scholz geführte Ampelregierung steht am Abgrund. Das dritte Jahr ihrer Regierungszeit beginnt die Koalition ohne Haushalt, mit sogenannter vorläufiger Haushaltsführung. Nach dem Verfassungsgerichtsurteil ist es dem SPD-Regierungschef nicht gelungen, schnell zu handeln und eine finanzielle wie auch systematisch neue Grundlage für sein Bündnis zu finden. 

Es fehlt nicht nur konkret das Geld, es fehlt nun auch das grundsätzliche Fundament. Der Klima- und Transformationsfonds (KTF) und der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) sollten nicht nur den sozialen Ausgleich für den steigenden CO2-Preis sichern (Klimageld). Die Fonds wurden auch zur Wundertüte für alle klimapolitischen Maßnahmen (Heizungsgesetz) und Industriesubventionen, die den Übergang in eine neue Zeit abfedern sollten. Das Konzept dahinter ist vorerst gescheitert, so leicht lässt sich die planwirtschaftliche Zuwendungsmaschine nicht wieder anwerfen.

Ins Ohr gesäuselt

In Umfragen steht die SPD-Grüne-­FDP-Regierung so desaströs da, dass schon Durchhalteparolen die Runde machen. Aus der einstigen Fortschrittskoalition ist eine Notregierung geworden. SPD und Grüne kommen in etwa auf die 30 Prozent, die CDU/CSU allein erreichen; die Liberalen dümpeln knapp über der Fünf-Prozent-Hürde. Und die AfD liegt mit rund 20 Prozent stabil vor SPD und Grünen. Das war noch vor zwei Jahren unvorstellbar. So kann es für Olaf Scholz eine Wiederwahl 2025 nicht geben, wenn er denn überhaupt vier Jahre durchhält. Es gibt wenig Trost, nur dass die SPD vor vier Jahren schon mal so schlecht dastand – und dann aufgeholt hat. Das ist das süße Lied, welches die Parteiführung den Genossen ins Ohr säuselt.

Doch worin besteht diese erneut tiefe Krise der deutschen Sozialdemokratie? In der Lausitz, tief im Osten, lässt sich das erkunden, die Höhen und Tiefen, die Stärken und Schwächen der SPD. Der Ausstieg aus der Kohle wurde schon unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)besprochen. Der damalige Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel forcierte das Ende der Braunkohle. Dann wurden 2018 und 2019 die ersten Blöcke stillgelegt. Noch bevor klar war, wie es mit der Region und den Menschen weitergehen würde. 2020 wurde beschlossen, Jänschwalde bis 2028 vollständig stillzulegen. Zum 1. Oktober 2022 wurden dann die zuvor stillgelegten Blöcke infolge des russischen Angriffskriegs wieder hochgefahren. 

Dietmar Woidke ist durch und durch Sozialdemokrat. Aber in der Sache geht er mit der Bundesregierung hart ins Gericht, besonders mit dem Bundeswirtschaftsministerium von Robert Habeck. „Die Grünen in Berlin haben keinen Plan, woher künftig die Energie für den Industriestandort Deutschland kommen soll“, sagt er in kühler Winterluft mit Blick auf die Kraftwerksblöcke. An die einst geplanten Ausstiegsszenarien glaubt er nicht mehr. „Wir in der Lausitz sichern die Stromversorgung für die Republik.“ Rund 10 Prozent des deutschen Stroms kommen von dort, unter anderem aus dem Kraftwerk Jänschwalde. Und gerne fügt er an, sein Land Brandenburg hätte schon genügend installierte Leistung aus Wind und Sonne, um mit regenerativen Energiequellen auszukommen. Den ostdeutschen Braunkohlestrom bräuchten vor allem andere, zum Beispiel Bayern, Baden-Württemberg und Berlin. Und wenn „Dunkelflaute“ herrscht, es also keinen Strom aus Sonne und Wind gibt, dann braucht Brandenburg den Kohlestrom selber. 

„Wir wollen die Probleme anpacken“

Die gute Seite der Sozialdemokratie kann der Pragmatismus sein, den sie sich in den zurückliegenden Jahren immer wieder mal von den Grünen austreiben ließ. „Wir wollen die Probleme anpacken“, sagt Woidke. „Nur ein handlungsfähiger Staat kann die Bürger überzeugen und Sicherheit geben.“ Im Kohlekompromiss wurden Milliardenzahlungen an die Lausitz vereinbart, die den Strukturwandel erleichtern sollen. Woidke hat dafür extra den Lausitz-Beauftragten Klaus Freytag eingesetzt, der nun fast so etwas wie eine Sonderwirtschaftszone verwaltet. In nur anderthalb Jahren haben sie in Cottbus eine neue Halle für die Reparatur von ICE-Zügen gebaut. Eigentlich hatte das Bahnbetriebswerk schließen sollen, jetzt werden händeringend Arbeitskräfte gesucht. Doch der zuständige Staatssekretär im Hause Habeck, Sven Giegold, war noch nie in der Lausitz, heißt es vor Ort. Das interessiert den grünen Chefideologen nicht. 

„Wir sind hier nicht ideologisch, sondern pragmatisch unterwegs“, sagt Woidke. Und er meint damit auch, dass man klar ansprechen kann, was bei den Grünen für Schnappatmung sorgt. „Einen Kohleausstieg 2030 wird es in der Lausitz nicht geben. Diese grüne Träumerei geht völlig an den Realitäten vorbei“, sagt der Ministerpräsident, der 2024 eine Landtagswahl zu bestehen hat. „Habeck hat keinen Plan, um die notwendigen 50 Gaskraftwerke zu bauen, die er für die Stromversorgung bräuchte, deswegen wird er letztlich auf den Strom aus der Lausitz zurückgreifen müssen.“

Doch Woidke stört sich auch in anderen Politikfeldern nicht an der Berliner Nomenklatur. Er hat Grenzkontrollen zur Bekämpfung der irregulären Migration gefordert, als seine Partei­freundin im Bundesinnenministerium, Nancy Faeser, noch herumlavierte und gebremst hat. Neulich beim Bürgerdialog hat Woidke den Schleusern den Kampf angesagt und auch für den Asylkompromiss von Bund und Ländern geworben. Die Einführung der Kartenzahlung, mit der nur noch dringend benötigte Sachleistungen abrufbar sind, sei eine gute Lösung, erklärte er den Medien. Naivität könne man sich nicht mehr leisten, so Woidke. 

Doch was macht seine Partei, Woidkes Sozialdemokratie? Auf dem Bundesparteitag hat es die Parteiführung – mit Generalsekretär Kevin Kühnert als Vermittler – nur mit Mühe und Not hinbekommen, die Linie der Regierung in Sachen Migration in Einklang zu bringen mit dem Druck der linken Basis. Vor allem von den Jusos wurde Scholz vorgeworfen, mit seiner Politik die Grundsätze der Sozialdemokratie zu verraten, gar Richtung „rechts“ zu rücken. Im Saal wurden Kopien des Spiegel-Covers hochgehalten mit dem Scholz-Zitat: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Diese Wortwahl sei schäbig und menschenverachtend, so war es zu hören. Sie fühle sich persönlich angegriffen, sagte eine Rednerin an Scholz gerichtet. 

Im City Cube hat sich die SPD mit mobilen Wänden passend eingerichtet / Foto: Nils Stelte

Der niedersächsische Ministerpräsidenten-Kollege von Woidke, Stephan Weil, hatte auf dem Parteitag Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Auf die Überlastung der Kommunen wies er hin, auf den Anspruch, Migration nach Recht und Gesetz steuern zu wollen. Und auch das sprach er an: Die Zustimmung der Bevölkerung sei nur noch zu erlangen, wenn eine andere Flüchtlingspolitik greifen würde. Doch was Woidke und Weil und andere sich auf der Straße und in Bürgerdialogen anhören müssen, ist wie aus einer anderen Welt, verglichen mit dem, was die SPD in ihrem Parteitagskuckucksheim in Anträge und Beschlüsse schreibt, was auf Parteitagen und in Parteiforen geredet wird. 

Es gibt inzwischen mindestens zwei sozialdemokratische Welten: Die Bewohner der einen sind sehr praktisch und konkret unterwegs, die anderen haben es sich in einem moralisch-utopistischen Scheinuniversum gemütlich gemacht, oft mit grünen Freunden. Früher gab es bei der SPD auch die eher linken und die eher rechten Genossen, heute sind es die Realisten neben den Traumtänzern. Woidke sagt: „Ob Straßenbau, Migration oder Energieversorgung – viele politische Diskussionen passen nicht zu unserer Realität in Brandenburg.“ 

Der SPD-Bundesparteitag setzt ganz den gegenteiligen Akzent: statt Pragmatismus alte linke Programmatik. Der neue Juso-Vorsitzende Philipp Türmer griff in seiner Rede den Kanzler deutlich an. „Du bist nicht der Paartherapeut von Robert und Christian“, er müsse endlich führen. Doch was er damit meinte, war ein klarer Linkskurs. Die nächsten zwei Jahre müssten im Zeichen der Armutsbekämpfung stehen, die Schuldenbremse gehöre ganz abgeschafft und die Schaffung „sicherer Fluchtrouten“ müsse betrieben werden. Von Begrenzung der Migration keine Rede. 

Es gibt so eine Art bipolare Störung der Sozialdemokratie, die zu paradoxen Situationen führt. Die sächsische Juso-­Vorsitzende Mareike Engel greift in ihrer Parteitagsrede Scholz auch hart an. „Wenn ihr in Berlin keine anständige Politik macht, wenn du als Kanzler nicht im Namen der Sozialdemokratie überzeugen kannst, dann werden wir im nächsten Jahr scheitern.“ Das löste einen kleinen Eklat aus. Das Publikum buhte sie aus, Juso-Chef Türmer musste Engel trösten. Tatsächlich hat sie recht. Die SPD liegt in Sachsen in Umfragen bei 7 Prozent. Bei der Wahl in 2024 könnte sie aus dem Landtag fliegen. Doch verblüffenderweise machen Engel und die besonders linken sächsischen Jusos „den Olaf“ dafür verantwortlich – und nicht den eigenen Kurs.

Die intellektuelle Aktivistenwelt

Diese poröser werdende Gestalt der SPD schimmert schon hier und da in der politischen Landschaft durch. Auf der einen Seite beherrschen Jusos und linke Vordenker Parteitage und die intellektuelle Aktivistenwelt, auf der anderen Seite bemühen sich Weil, Woidke und andere um die Integration in die politische Mitte.

Der Soziologe Heinz Bude sieht für die langsamen, aber möglicherweise doch gravierenden tektonischen Verschiebungen auch in der Sozialdemokratie tieferliegende Ursachen. Ausgelöst auch durch die Großereignisse in der Ukraine und Israel, aber zugleich befördert durch eine weltweite Krisensituation gehe ein bestimmter Modus, Politik zu betreiben, zu Ende, so ist er überzeugt. Schon seit der Finanzkrise sei zu beobachten gewesen, dass die Herangehensweise, Probleme zu fassen und zu bearbeiten, an ihre Grenzen kommt. Bude nennt es das „Ende der Anti-Politik“ und sozusagen eine Rückkehr der echten Politik. Die Anti-Politik sei die Endmoräne einer Wohlstandszeit gewesen, in der Ideen stärker sind als die Wirklichkeit. „Diese Anti-Politik, wie wir sie kannten, täuscht sich über Realitäten hinweg“, so der bis 2023 in Kassel lehrende Wissenschaftler. 
 

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Zu den Auswüchsen der Anti-Politik gehören Verschwörungstheorien genauso wie der Aktivismus der „Letzten Generation“. In ihrer Extremform wird sie getragen von dem Verständnis einer „diffusen Illegitimität“ gegenüber allen politischen Verfahren und Institutionen. Das führt dann dazu, dass etwa die Klimakrise als etwas geradezu Über-Politisches gesehen wird, deren Evidenz und Existenzialität alles rechtfertigen würde.

Die Politik der Anti-Politik mündet oft in einer merkwürdigen Mischung aus Verzweiflung und Leichtsinn. Weil das Ganze als System sowieso dem Untergang geweiht ist, ist es auch gleichgültig, wo und wie man ansetzt, den Antikapitalismus findet man ganz rechts und ganz links, und dem Kulturkampf von links begegnet ein Kulturkampf von rechts. Dies mündet in eine kollektive Handlungsunfähigkeit, die rationales Vorgehen selbst infrage stelle. In dieser Krisensituation und an dieser Wegscheide befinde sich die Linke insgesamt und die SPD im Besonderen, glaubt Bude.

Die Anti-Politik hat eigentlich ein negatives Bild von der Mehrheitsgesellschaft, diese erfasse nämlich die Probleme unzureichend und müsse auf den rechten Weg geführt werden. Diese antidemokratische Versuchung gab es immer wieder, auch schon mal in den 1960er und 1970er Jahren; mit der pragmatischeren Boomer-Generation schien sie überwunden. Nun gibt es eine jüngere Generation, die sich wieder ideologisieren lässt. Doch diese Anti-Politik muss, so Bude, überwunden werden.

Grüne Dominanz in der öffentlichen Performance

Das alte rot-grüne Projekt, welches es unter Schröder-Fischer gab, ist schon lange dahin. Ein Insider, der die SPD seit 30 Jahren beobachtet, sagt zwar, noch würde man die Grünen als „natürlichen Partner“ ansehen, aber bei manchen inzwischen mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung. Zumindest in der Regierung führt Olaf Scholz halb heimlich, halb offensichtlich keine in erster Linie rot-grüne, sondern tatsächlich eine sozialliberale Koalition, allerdings mit grüner Dominanz in der öffentlichen Performance. 

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) in Cottbus / Foto: Marc Vorwerk

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bekommt immer wieder Zugeständnisse dafür, dass er die Ampel möglich machte. Die Grünen werden hingegen mit ihren Fehlleistungen allein gelassen. Habecks Heizungs-Desaster hat das Vertrauen in Klimaschutz und Klimapolitik in Deutschland tief verstört. Die SPD versucht, nicht drüber zu reden. Ähnlich bei der verunglückten Kindergrundsicherung von Familienministerin Lisa Paus (Grüne), obwohl es ein soziales Projekt ist.

Auch auf dem Parteitag standen sozialdemokratische Vorhaben und Leistungen im Vordergrund. Die Erbschafts- und Schenkungssteuer ist für Sozialdemokraten so etwas wie ein Aphrodisiakum. An der Formulierung, „dass Multimillionäre und Milliardäre mehr zum Gemeinwohl beitragen“ müssten, berauschen sie sich, obwohl Wirkung und Effekt fragwürdig sind. Olaf Scholz wiederum pries das Bürgergeld nicht als Ampelprojekt, sondern legitimierte es damit, dass die Union mitgemacht habe. Die Grünen kamen bei seiner Rede nahezu gar nicht vor, auch der Klimaschutz fehlte bis auf Floskeln weitgehend. 

SPD-Chef Lars Klingbeil versteckte in seiner Herzblut-Rede sogar noch Spitzen gegen die Grünen. Bratwurst- und Auto-Debatten seien falsch, keiner interessiere sich fürs Gendern angesichts der drängenden Probleme der Welt, so Klingbeil. Bei den Sozis hat von den führenden Köpfen in den großen Reden keiner das Selbstbestimmungsgesetz gewürdigt noch die Cannabis-Legalisierung bejubelt. Die SPD besinnt sich aufs Kerngeschäft.

Die SPD ist, wenn sie will, eine staatstragende Partei. Nur weiß man nicht immer, ob sie will. In Hessen hat CDU-Ministerpräsident Boris Rhein jetzt die Grünen durch die SPD als Koalitionspartner ersetzt. Die Fragen von Migration und innerer Sicherheit seien mit den Grünen nicht zu machen, hieß es. Dass die Sozialdemokraten auf das Angebot eingehen, hat auch damit zu tun, dass ihnen die allzu große Nähe zu den Grünen eben auch nicht bekommt. 

Im Kern auch nicht sozialdemokratisch

Die Grünen sind nicht immer der bessere Partner für die SPD, diese Erkenntnis zieht langsam breitere Kreise. In der Stadt Hannover hat die SPD das Bündnis mit den Grünen aufgekündigt, weil sie das Konzept der autofreien Innenstadt nicht mehr mittragen wollte. Es könnte der Beginn einer längeren Serie sein. In Berlin regiert seit einem Jahr die CDU mit der SPD. Obwohl die Sozialdemokratin Franziska Giffey eine Mehrheit mit Grünen und Linken hätte, akzeptiert sie einen Regierenden Bürgermeister Kai Wegner von der Christdemokratie. Woidke regiert in Brandenburg mit CDU und Grünen zusammen – aber glücklicherweise würden die Grünen kaum auffallen, sagt ein Insider in Potsdam. 

Diese Abwendung von den Grünen hat Gründe. Laut Heinz Bude versteckt sich der Geist dieser Anti-Politik in der Ampel besonders bei den Grünen. „Wir sind umzingelt von Wirklichkeit“, erklärte Habeck einmal und fasste das ganze Mindset so in ein Bonmot zusammen. Diese jetzt gescheiterte Transformation mit Hilfe der Milliarden-Fonds am Haushaltsgesetzgeber vorbei ist ein Ausdruck davon. „Mit Hilfe von Entschädigungszahlungen soll sozialer Frieden hergestellt werden“, erklärt Bude. Doch es sei eben demokratisch und politisch falsch, Belastungen nur zu überspielen. Das sei im Kern auch nicht sozialdemokratisch. 

Vielmehr braucht es wieder einen Leistungsbegriff von unten, eine „Demokratie der Belastung“. Scholz’ Begriff von der „Respekt“-Politik, mit der er seinen Wahlkampf geführt hat und den er jetzt auf dem Bundesparteitag wiederholt hat, geht genau in die falsche Richtung und ist in dem Sinne „anti-politisch“. Vielmehr müsse das demokratische Gemeinwesen seine Handlungsfähigkeit dadurch wiedererlangen, dass es den Blick genau andersherum wendet: nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben.

Auf dem SPD-Bundesparteitag wirbt ein Delegierter für mehr Klimaschutz / Foto: Nils Stelte

Für Bude ist dieses falsche Staatsverständnis, das die Politik den Bürgern entrückt, gerade beim Ampelprojekt des Bürgergelds gut zu sehen. Hier fände ein Verstaatlichungsgedanke von Solidarität statt, der in seiner überzogenen Form das Gegenteil bewirke. „Der gesellschaftliche Grundgedanke der wechselseitigen Hilfe wird durch das Bürgergeld storniert“, erklärt Bude. Grundlage des politischen (und eben nicht des anti-politischen) Verständnisses sei, dass „wir einander etwas schulden und nicht der Staat uns etwas schuldet“. Dies habe die Sozialdemokratie verlernt. Und genau dieses verdrehte Verständnis führt zu den Unzufriedenheiten mit der Migrationspolitik, der Sozialpolitik und der Klimapolitik..

Der Bus mit dem Ministerpräsidenten fährt durch karge Winterlandschaft und durch ebenso karge Dörfer. Auf dem Weg vom Cottbuser Ostsee nach Jänsch­walde. „Stellen Sie sich hier eine Rentnerin vor, die jetzt ihr kleines Haus auf die Wärmepumpe umrüsten soll“, erklärt Woidke. „Das ist keine Kleinigkeit, das wird sofort zu einer existenziellen Frage. Dieses Gebäude-Energie-Gesetz ist Murks, das habe ich auch im Bundesrat klar gesagt.“ 

Heinz Bude nennt es soziologisch „die kleine Habe“ der Bundesrepublik, die die Menschen in Gefahr sehen. Und sie sehen den Angriff auf ihren Wohlstand durch Klimapolitik, Migration und Geopolitik bedroht. Nur eine Politik, die hier wieder ihren Anfang hat, wird wieder Mehrheiten gewinnen. Die Sozialdemokratie hätte die Chance dazu. Ob sie diese nutzt, ist fraglich.

 

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