Wichtigkeit der Schuldenbremse - Die missachtete Verfassung

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt als eine Absage an den Klimaschutz zu lesen, verkennt die Zusammenhänge. Man muss die verbindende Klammer erkennen: In beiden Fällen geht es um Generationengerechtigkeit.

Energiepark Odervorland / dpa
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Autoreninfo

Sebastian Müller-Franken ist ein deutscher Rechtswissenschaftler. Er ist seit 2006 Professor für Öffentliches Recht an der Philipps-Universität in Marburg.

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Die Nichtigerklärung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes zum Haushalt 2021 durch den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesregierung in eine Krise gestürzt. Die Führungen der sie bildenden Parteien sind fest davon ausgegangen, Kreditermächtigungen, die noch von der vormaligen Bundesregierung im Jahre 2021 unter Nutzung der Notlagenklausel der Schuldenbremse zur Finanzierung von Entschädigungen für Corona-Lockdowns ausgebracht worden waren, in das Sondervermögen „Energie- und Klimafonds“ (EKF) verschieben zu können. In den folgenden Jahren wollten sie diese dann für die Aufnahme von Krediten nutzen, um ihre Klimaschutzpolitik zu finanzieren – ohne diese Kredite auf die dann für diese Jahre wieder geltende Regelgrenze der Schuldenbremse anrechnen zu müssen.

Da es klimaschutzpolitische Maßnahmen waren, die mit den Krediten hätten bezahlt werden sollen, ist die Frage gestellt worden, wie sich dieses Urteil des Zweiten Senats zur Entscheidung des Ersten Senates des Gerichts aus dem Jahre 2021 verhält, die dem Grundgesetz ein für alle staatlichen Organe verbindliches Staatsziel „Klimaneutralität“ entnommen hat. Denn das für weite Teile der Klimaschutzpolitik der Regierung gedachte Geld stand nun nicht mehr zur Verfügung. „Diese beiden Urteile sind“, so befand denn auch Vizekanzler und Wirtschaftsminister Habeck in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz, „nicht so ganz leicht zueinander zu bringen“.

Verschiebung der Kreditermächtigungen

Die Entscheidung des Zweiten Senats des Gerichts zur Schuldenbremse als eine Absage an den Klimaschutz und damit als einen Widerspruch zur Entscheidung des Ersten Senates aus dem Jahre 2021 zu lesen, verkennt indes die Zusammenhänge. Die Entscheidungen passen vielmehr sehr gut zusammen, wenn man die sie verbindende Klammer erkennt: beide Entscheidungen sind getragen vom Gedanken des Schutzes künftiger Generationen, der Generationengerechtigkeit. 

Im Klimabeschluss ging es darum, dass wenn bis zu einem bestimmten in der Zukunft liegenden Zeitpunkt für den Klimaschutz einschneidende Freiheitseinschränkungen zwingend notwendig werden, die Hauptlast dieser Freiheitsbeschränkungen nicht auf die nächste Generation verschoben werden darf, sondern die notwendigen Einsparleistungen auch von der jetzt aktiven Generation erbracht werden müssen. Bei der Entscheidung zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ging es darum, dass durch die Verschiebung der Kreditermächtigungen in ein Sondervermögen Verschuldungsmöglichkeiten unter Umgehung der Schuldenbremse in Folgejahren geschaffen werden sollten. 

Gedankens der Generationengerechtigkeit

Die Schuldenbremse ist jedoch ebenso Ausdruck des Gedankens der Generationengerechtigkeit, denn Kredite beschränken die politische Gestaltungsfähigkeit künftiger Generationen, in dem sie ihr die Last der Tilgung und der Entrichtung der Zinsen dieser Kredite auferlegen. Notlagenkredite dürfen daher nur in dem Jahr, für das die Notlage erklärt worden ist, aufgenommen werden, nicht dürfen sie dies später. Die Kredite müssen zudem durch die Notlage veranlasst sein. 

Davon abgesehen dürfen Nachtragshaushalte nicht im Folgejahr rückwirkend verabschiedet werden. Allein den hierin liegenden drei Umgehungen der Schuldenbremse hat das Gericht einen Riegel vorgeschoben, zum Klimaschutz verliert es kein Wort. Dieser bleibt weiter ein Staatsziel, nur muss er betrieben werden in den Grenzen der Verfassung und damit unter Einhaltung der Schuldenbremse.
 

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Wenn hier etwas nicht zusammenzubringen ist, dann ist es die Einstellung der Bundesregierung, mit der sie beiden Themen begegnet. Geht es um den Klimabeschluss, so leitet die Regierung aus ihm die Legitimation ab, den Bürgern Einschränkungen und Verbote auferlegen zu können (Wärmepumpe). Geht es dagegen um die Entscheidung zur Schuldenbremse, heißt es, so Kanzler Scholz im Deutschen Bundestag, im Alltag der Bürger ändert „hier und heute das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts“.

Eine solche Reaktion verwundert, weil nicht nur dem Sondervermögen für Energie- und Klimaausgaben, über den das Gericht entschieden hatte, die Mittel gestrichen worden sind. Vielmehr ergab sich aus dem Urteil, dass auch die im Jahre 2022 auf die Notlagenklausel der Schuldenbremse gestützten Kreditermächtigungen über weitere 200 Mrd. Euro (in der Diktion des Bundeskanzlers ein sog. „Doppelwumms“) von der Entscheidung betroffen waren, da diese Mittel nach der gleichen Methode in das Sondervermögen „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“ (WSF) für eine Verausgabung in Folgejahren geschoben worden waren. Angesichts dessen wäre zu erwarten gewesen, dass die Regierung innehält, ihre Ausgabenprogramme prüft, sie priorisiert und ihre Prioritäten dann mit den vorhandenen Mitteln in Deckung bringt.

„Außergewöhnlichen Notsituation“

Doch dazu kam es nicht. In den Tagen nach der Verkündung des Urteils hieß es zwar in den Medien, der Bundesfinanzminister hätte eine Haushaltssperre verhängt. Der hierdurch entstandene Eindruck, die Koalition werde den notwendigen Haushaltsausgleich durch Ausgabenkürzungen bewerkstelligen, täuschte indes. So bezog sich schon die Haushaltssperre nur auf die Inanspruchnahme von Verpflichtungsermächtigungen, das Tätigen von im Haushalt vorgesehenen Ausgaben blieb hiervon unberührt. 

Nach nur einer Woche zeigte sich dann vor allem, dass sich die Regierung auf das verständigt hatte, was der Finanzminister unmittelbar nach dem Urteil noch ausgeschlossen hatte: die nachträgliche Feststellung einer „außergewöhnlichen Notsituation“ für das Jahr 2023 – und damit eine Kreditaufnahme über die Regelgrenze hinaus.

An der Verfassungsgemäßheit der auf die Folgen des Krieges in der Ukraine und der Überschwemmung im Ahrtal gestützten Begründung für die außergewöhnliche Notsituation sowie an der Verfassungsmäßigkeit des Nachtragshaushaltes für 2023 selbst bestehen allerdings wiederum Zweifel. So stellt sich die Frage, ob eine außergewöhnliche Notsituation überhaupt nachträglich erklärt werden kann, da der Haushaltsplan dann keine lenkende Wirkung mehr für die Haushaltswirtschaft entfalten kann. 

Jetzt herrscht Rechtsklarheit

Der jährliche finanzielle Bedarf für die Beseitigung der Schäden im Ahrtal in Höhe von 1,6 Mrd. Euro besitzt kaum eine Größenordnung, die die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt. Schließlich müssten, worauf der Bundesrechnungshof in seiner Stellungnahme hingewiesen hat, nach den Aussagen des Gerichts auch solche kassenwirksamen Kredite, die nicht auf eine Notsituation gestützt sind, in die Nettokreditaufnahme einberechnet werden, was im Nachtragshaushalt für das Jahr 2023 aber unterblieben ist.

Gewiss herrscht durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts jetzt Rechtsklarheit. Jedoch hatte immerhin mit dem Hessischen Staatsgerichtshof schon ein Landesverfassungsgericht im Jahre 2021 eine Verlagerung von Schulden in ein Sondervermögen zwecks Verausgabung in späteren Jahren als Verstoß gegen die Regeln der vergleichbaren hessischen Schuldenbremse betrachtet. 

Sodann hatte auch der Bundesrechnungshof in seiner Stellungnahme vom Februar 2022 zum Zweiten Nachtragshaushalt für das Jahr 2021 genau bei den Punkten einen Konflikt mit der Schuldenbremse gesehen, die das Bundesverfassungsgericht moniert hat. Um zu erkennen, dass ein Nachtragshaushalt nicht rückwirkend im Folgejahr verabschiedet werden kann, wie bei dem vom Gericht verworfenen Nachtragshaushalt für das Jahr 2021 geschehen, bedarf es keiner Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sondern genügt ein Blick in das Grundgesetz. Die handelnden Akteure hatten es also darauf ankommen lassen.

Mangelndes Bewusstsein für den Verfassungsstaat

Möchte die Regierung nicht sparen, steht sie freilich vor einem Dilemma. Würde sie den Nachtragshaushalt nicht verabschieden, wäre ihr Haushalt nicht ausgeglichen. Da ein unausgeglichenes Budget aber offen verfassungswidrig ist, steht der lediglich mit den beschriebenen Zweifeln behaftete Nachtragshaushalt einem verfassungsgemäßen Zustand insgesamt „näher“, so dass man angesichts dessen seine Verabschiedung als noch vertretbar ansehen mag.

Deutlich wird hier ein grundsätzlicheres Problem. In Fragen des Umganges mit Geld fehlt das Bewusstsein, dass in einem Verfassungsstaat die staatliche Macht durch die Verfassung begründet und begrenzt und dies unter dem Grundgesetz durch das Bundesverfassungsgericht kontrolliert wird. Wenn der Vizekanzler jüngst auf der Bundesdelegiertenkonferenz seiner Partei in einem Ton der Klage davon spricht, dass „wir uns mit der Schuldenbremse, so wie sie ist, die Hände auf den Rücken gefesselt haben und in einen Boxkampf“ ziehen, dann ist dieses Bild zwar durchaus richtig: die Verfassung ist eine Selbstbindung des Staates. Der Staat legt sich in der Verfassung Regeln auf, die seine Macht begrenzen. 

Diese Regeln gilt es jedoch aus Sicht des Ministers nicht zu beachten, sondern abzustreifen. Die Einstellung, die alldem zugrunde liegt, wird deutlich in einer Erläuterung der Frage, wie der gewünschte Ausbau von Stromnetzen, Kraftwerken und Erneuerbaren Energien nach Beginn des Krieges in der Ukraine finanziert werden soll: „Dann nehmen wir Geld auf. Am Ende ist es nur Geld“. 

Parlamente sind an Regeln gebunden

Die Kontrolle der Bindung an das Verfassungsrecht durch das Verfassungsgericht wird offen negiert, wenn ein langjähriger SPD-Landesvorsitzender, unwidersprochen vom Moderator und anderen Gästen der Sendung, in einer Fernsehdiskussion über die Folgen des Urteils zur Schuldenbremse erklärt, dass „Parlamente jedes Jahr über Haushalte entscheiden“ sollen „und nicht Gerichte“. 

Über den Haushalt entscheiden in der Tat Parlamente, sie sind dabei jedoch an Regeln gebunden, und die Einhaltung dieser Bindung kontrollieren Verfassungsgerichte. Beim Haushaltsverfassungsrecht handelt es sich nicht, was das Bundesverfassungsgericht offenbar für nötig hielt zu sagen, um „minder verbindliche Regelungen“ im Sinne von „soft law“. Verfassungsnormen können freilich in Widerspruch zum Zeitgeist geraten. Dies ist zwar kein Anlass, sie zeitgeistgemäß umzuinterpretieren, wohl aber kann dies ein Anlass sein, darüber nachzudenken, sie zu ändern. Solange die Verfassung aber nicht formal geändert worden ist, ist sie zu beachten, so wie sie ist.

Ein selektives Befolgen der Verfassung durch die Politik kann hingegen das Verfassungsbewusstsein insgesamt erodieren lassen, was am Ende abfärben könnte auf die Gesellschaft. Einen solchen Verlust des Verfassungsbewusstseins sollte eine Regierung vermeiden. Es ist nämlich nicht in Stein gemeißelt, dass die Bürger etwa die an sie gerichtete Verfassungserwartung dauerhaft erfüllen, die unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht aus der Verfassung abgeleiteten Freiheitseinschränkungen für den Klimaschutz klaglos zu erdulden.

 

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