Proteste gegen Energiepolitik - Sein Traum ist aus

Der „heiße Herbst“, im Spätsommer von Linken wie Rechten gleichermaßen ausgerufen, ist zu Ende, bevor er richtig begonnen hat. Die Bundesregierung hat den politischen Gegnern mit 200 Milliarden Euro und pragmatischen Entscheidungen den Wind aus den Segeln genommen.

Jürgen Elsässer, Chef des rechten Compact-Magazines, auf einer Demonstration in Leipzig Ende November unter dem Motto „Ami go home“ / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Der Traum ist aus. Zumindest der Traum von Jürgen Elsässer. Anfang September hatte der früher linke, heute rechte Berufsrevolutionär und Chefredakteur des Magazins Compact auf dem Augustusplatz in Leipzig noch euphorisch gerufen: „Das Volk muss der Regierung einen heißen Herbst bereiten.“ Elsässer sah angesichts explodierender Energiepreise, wirtschaftlicher Horrorszenarien und einsetzender Ukrainekriegsmüdigkeit den Moment für die ganz breite Querfront gekommen: Mit ihm demonstrierten etwa 2000 Rechtsextreme, Wutbürger, Querdenker, Corona-Spaziergänger und Freie Sachsen, auf der anderen Seite der Tram-Linien einige tausend Anhänger der Linken unter Führung des Leipziger Abgeordneten Sören Pellmann. Eine Wirtschaftskrise nach den Corona-Zerwürfnissen, war das nicht der perfekte Sturm?

Außenministerin Annalena Baerbock warnte im Sommer vor „Volksaufständen“, einzelne Verfassungsschützer wie der Thüringer Stephan Kramer schlossen sich den Warnrufen vor dem „heißen Herbst“ und „Wutwinter“ an. Doch nun, Ende November, ist es still geworden. Der heiße Herbst ist zu Ende gegangen, bevor er richtig begonnen hat: Zu Elsässers Demo unter dem Slogan „Ami go home!“ in Leipzig, für die Compact und die Freien Sachsen seit Wochen getrommelt hatten, kamen am Samstag anstatt der angemeldeten 15.000 nur 1000 Teilnehmer. Es liegt nicht nur an Elsässer: Auch in Frankfurt/Oder, wo Anfang Oktober noch 2000 Menschen an den Protesten teilnahmen, waren es am Montag nur noch knapp 400. Der Linke-Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann sprach Mitte November immerhin im thüringischen Bad Salzungen, vor 40 Menschen.

Höhepunkt der Proteste im Oktober

Der Höhepunkt der Demonstrationen gegen die Energiepolitik der Bundesregierung war Anfang Oktober erreicht: Da konnte die AfD 10.000 Menschen für eine Demo in Berlin mobilisieren, zu Björn Höcke nach Gera pilgerten ebenfalls 10.000 Anhänger von AfD, Freie Sachsen und Freies Thüringen. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen konnte die AfD politisch von der Stimmung profitieren: Hatte sie in Westdeutschland über die letzten Jahre stetig an Zustimmung verloren, verbesserte sie sich hier um fast fünf Punkte auf 11 Prozent.

Zahl der Demonstrationen seit August 2022 / mdr/Innenministerien der Länder

Die Zahlen der Innenministerien bestätigen die Beobachtung: In Mecklenburg-Vorpommern gingen am 5. September knapp 3500 Menschen auf die Straße, am 26. September waren es fast 14.000, am 31. Oktober schon nur noch knapp 3000. Die Statistik zeigt zudem, dass die Proteste ohnehin vor allem ein ostdeutsches Phänomen waren: Zur Hochzeit protestierten in den ostdeutschen Bundesländern 100.000 Menschen, in allen westdeutschen Ländern zusammen waren es nur 10.000. Dort sind die Proteste inzwischen fast völlig zum Erliegen gekommen, am stärksten sind sie noch in Thüringen und Sachsen.

Harter Kern in Thüringen und Sachsen

Dort hat sich der Protest wieder auf den „harten Kern“ reduziert: „In Ostdeutschland rekrutiert sich das Publikum aktuell vor allem aus den Akteuren, die schon gegen die Pandemiemaßnahmen auf die Straße gegangen sind“, sagt gegenüber dem MDR Alexander Leistner, Protestforscher an der Uni Leipzig. In kleinen und mittelgroßen Städten wie Pirna, Kamenz oder Heidenau können diese noch immer mobilisieren.

Die Gründe für das Scheitern des „heißen Herbsts“ liegen auf der Hand: Die Horrorszenarien, die im Sommer in vielen Medien die Runde machten, haben sich nicht bewahrheitet. Ein wichtiger Messwert dafür sind die Energiepreise: Bis in den September stieg der Gaspreis für Neukunden unaufhörlich, auf bis auf 40 Cent/Kilowattstunde. Seitdem sinkt er kontinuierlich und liegt momentan zwischen 18 und 19 Cent. Das ist immer noch deutlich teurer als die 5 bis 6 Cent aus der Zeit vor der Energiekrise, aber mehrere Faktoren haben den Markt beruhigt: Unter anderem Frankreich liefert seit Oktober regasifiziertes Gas nach Deutschland, zur Jahreswende gehen die ersten deutschen LNG-Terminals in Betrieb. Die deutsche Volkswirtschaft hat sich als resilient erwiesen, auch ohne russisches Gas aus Nord Stream 1 oder 2.

Gaspreisbremse statt unsozialer Gasumlage

Das liegt unter anderem daran, dass die Deutschen – sowohl Privathaushalte als auch Industrie – massiv Gas eingespart haben. Das wiederum hat dazu geführt, dass die Gasspeicher auch noch Ende November nahezu komplett gefüllt sind. Eine Gasnotlage im Winter erscheint inzwischen als äußerst unwahrscheinlich. Positiv hat sich auf die Stimmung in der Bevölkerung auch die Entscheidung der Bundesregierung von Ende September ausgewirkt, die geplante Gasumlage zu kippen: Die wurde von den meisten Menschen im Land als unsozial wahrgenommen. Stattdessen gab Scholz den einfachen Bürgern und der Industrie mit dem „Doppel-Wumms“ über 200 Milliarden Euro vor allem eines: Planbarkeit bei den Gas- und Stromkosten für 2023.

Die Bundesregierung hat damit einen guten Riecher bewiesen. Denn wer sich im September unter einfachen Bürgern und Wirtschaftsvertretern umhörte, der erkannte, dass es eben die große Ungewissheit war, die ihnen Sorgen bereitete: Würden Gas und Strom im Januar nicht nur das Doppelte, sondern vielleicht das Vier- oder Achtfache kosten? Damals machten sich unter eigentlich fest im Leben stehenden Menschen Existenzängste breit.

Vorsichtiger Optimismus in der Wirtschaft

Maßnahmen wie die Gaspreisbremse wirken sich auch auf die Stimmung in der Wirtschaft aus: Der ifo-Geschäftsklimaindex, seit Februar im freien Fall, hat sich im November unerwartet deutlich verbessert, von 84,5 im Oktober auf 86,3 Punkte. Das gilt im übrigen auch für Ostdeutschland: Dort stieg der Index um 3 Punkte (im Vergleich zu Oktober) auf 89,3. Ein wichtiger Grund für die verbesserte Stimmung sind auch die abnehmenden Materialengpässe in der Industrie.
 

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Anders als erwartet ist die deutsche Wirtschaftsleistung im dritten Quartal noch einmal um 0,4 Prozent gewachsen. Massenentlassungen oder Pleitewelle? Fehlanzeige. Das ist angesichts der schwierigen Lage – Energie- und Lieferengpässe und eine zweistellige Inflation – durchaus bemerkenswert. Die für das nächste Jahr erwartete Rezession, wenn sie denn kommt, wird geringer ausfallen als prognostiziert – und deutlich unter der durch Corona bedingten Rezession liegen. Die Wirtschaftsweisen des Sachverständigenrats gehen derzeit von einem Minus von 0,2 Prozent für 2023 aus, dann erholt sich die Wirtschaft wieder.

Neues Thema, neue Proteste?

Die grundlegenden Probleme, insbesondere der chemischen Industrie, sind dadurch allerdings nicht gelöst, worauf unter anderem eine Studie der Unternehmensberatung PWC jüngst hinwies: Dauerhaft hohe Energiepreise könnten dazu führen, dass einzelne Produktionszweige ins Ausland verlegt werden.

Auch wenn ein „Wutwinter“ derzeit unwahrscheinlich ist – ein Wiederaufflammen der Proteste ist nicht ausgeschlossen: Über die letzten Wochen suchen die Organisatoren der Demonstrationen in Ostdeutschland nach neuen Themen und werden fündig beim Dauerbrenner Flüchtlinge. Zwar führen die russischen Raketenangriffe auf die Infrastruktur der Ukraine in den letzten Wochen noch zu keiner spürbaren Flüchtlingswelle, allerdings könnte sich das ändern, wenn die Situation weiter so prekär wie jetzt bleibt.

Hinzu kommt eine stark gestiegene Zahl von Asylanträgen von Menschen aus Syrien, Afghanistan und Nordafrika. Könnte eine neue Flüchtlingswelle wieder mehr Menschen mobilisieren? In den Telegram-Kanälen der politischen Akteure verschiebt sich eindeutig der Fokus: weg von Themen wie Corona, Ukraine oder Energie – hin zu Protesten gegen (geplante) Flüchtlingsheime. Die Rattenfänger versuchen, die nächste Welle zu reiten.

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