Postdemokratische Politik - Being Karl Lauterbach

Zur Person von Gesundheitsminister Karl Lauterbach ließe sich viel sagen, interessant ist er aber als politische Figur. Er ist der Prototyp des allwissenden Expertokraten, der die einzige Wahrheit kennt und der deswegen vor den Bürgern geschützt werden muss. Wenn dieser Politikertypus sich durchsetzt, war Corona wirklich eine Zeitenwende.

Und täglich grüßt der Angstprophet: Karl Lauterbach / dpa
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Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

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Zu verstehen ist es schon, dass er viele Mitbürger, Fernsehzuschauer und Twitterer nervt. Immer weiß er alles besser. Und jetzt hat er Corona, obwohl er alles, wirklich alles richtig gemacht hat. Die sorgsam gestaltete Biographie ist an Weisheit und Weitsicht kaum zu überbieten, denn schon 1986 hat er den Entschluss gefasst, in einen einsamen Burger-Laden mitten in Ami-Land zu gehen, um seinen allerletzten Fleischburger zu essen. Und seine Fliege, als es noch eines äußeren Erkennungszeichens bedurfte, war nichts anderes als eine Hygienemaßnahme, weil die Krawatte durch Patientenkontakt Erreger hätte transportieren können. Überhaupt die Patienten, eigentlich wollte er ja Notfallmediziner werden. Allerdings weiß niemand, ob er überhaupt praktisch als Arzt gearbeitet hat, also als approbierter Arzt, genausowenig, wo er seine infektiologische und epidemiologische Ausbildung erhalten hat und welche praktische Erfahrung er an welcher Stelle sammeln konnte.

Doch das ist alles Stoff für die Faktenfinder. Interessant ist vielmehr, was die Person Karl Lauterbach als politische Figur bedeutet, wofür er steht im Kanon der politischen Strömungen, Schulen und Grundsatzfragen. Das Umfeld ist ja nicht einfach, von ruhigem Wellengang kann keiner sprechen. Es sind nicht nur die Krisen, die durchaus Tsunami-Merkmale zeigen – verzichten wir einfach auf deren Aufzählung, kann sowieso keiner mehr hören. Das Nicht-mehr-hören-Können ist allerdings ein Problem, denn seit mindestens einem Jahrzehnt häufen sich die Kommentare, die eine ernsthafte Krise der Gesellschaft und ihrer demokratischen Struktur in den Sand zeichnen, und zwar hinsichtlich ihrer Lösungskompetenz. Die Demokratie sei am Ende, weil die Bürger einfach nicht in der Lage seien, zu verstehen, dass Krisen eben Krisen sind, und zwar was für welche. Außerdem sind die politischen Prozesse und Strukturen aufs Äußerste angespannt, ja genau genommen überspannt, sie können die Erwartungen an eine adäquate Steuerung und Reaktion auf diese Krisen nicht mehr leisten.

Elemente einer geführten Experten-Demokratie

Die Diskussion zu dieser Überforderung sei hier der Einfachheit halber unter dem Begriff der „Postdemokratie“ gefasst: Die Internationalisierung überfordere die nationale Lösungssuche, die globale Ökonomisierung die Rahmensetzung nationaler Märkte, die Verrechtlichung die Fähigkeit zur politischen Entscheidung aufgrund gewählter Mehrheiten, die zunehmende Bedeutung internationaler Schiedsgerichte den Zugang der Einzelnen gegenüber der Staat, und die Expertengremien, die sich wie die Erdbeeren in den Blumentöpfen vermehren, parallelisierten jede Parlamentsarbeit, sodass diese gewählten Vertretungen immer mehr in den Hintergrund gedrängt würden. Gleichzeitig schmilzt überall die Wahlbeteiligung dahin und hinterlässt eine doppelte Frage: Sind die Wähler zu desinteressiert, oder sind die Gegenstände der Wahl (Personen, Sachthemen) so uninteressant, dass es keinen mehr zur Wahlurne treibt? Es gibt zahlreiche Lösungsvorschläge: Elemente der direkten Demokratie einflechten, Formen der Bürgerbeteiligung („Bürgerräte“) integrieren, mit dem Mangel leben und weitermachen, politische Bildung verbessern (nun endlich), die Rolle der Politiker wird hinterfragt, Wahlrecht für Jüngere, selbst die Einführung einer Wahlpflicht wird diskutiert.

Und dann kommt – Karl Lauterbach. Zunächst ganz ebenerdig, ein Fachpolitiker (wie Ursula von der Leyen 2013 eine gewesen wäre), er wird freudig begrüßt, der Politiker Lauterbach ist Talkshow-Konsumenten und der Öffentlichkeit wohlbekannt, die SPD-Basis fordert seine Berufung, und es ist wahr: Er hat sich mit fachpolitischen Konzepten und Ideen in den Jahren davor nicht geschont, man denke nur an die Bürgerversicherung oder die Corona-Problematik (was man auch immer davon halten mag). Doch ein Unwohlsein bleibt trotzdem, eine Art schmerzhafte Dissonanz, denn im Kern bedeutet die Berufung von Lauterbach sehr viel mehr: Sie steht für die konzeptionelle Erweiterung der repräsentativen Demokratie durch Elemente einer geführten Experten-Demokratie.

Fragen prallen an der undurchdringlichen Wand der Studienergebnisse ab

Expertokratie? Ist doch eine gute Sache, möchte man meinen, die Wissenden sollen entscheiden, die Gebildeten sollen herrschen, die Weitblickenden ihren Weitblick nutzen. Und Lauterbach entspricht diesem Bild perfekt, er rattert die Studien herunter, weiß zu allem alles, äußert keinen Zweifel, lässt keine Ambiguität verspüren. Ergänzt wird dieser Auftritt durch ausgewählte, medientechnisch hervorragend orchestrierte private Elemente – er spielt mit schwarzer Maske Tischtennis, tritt als Comedian auf, isst kein Salz, kein Fleisch, also Vorbild auf der ganzen Linie. Abgerundet wird dieses Setting natürlich durch den immerwährenden Zusatz, dass er sich nicht fortbewegen kann außer mit zwei gepanzerten Limousinen und ganz viel Personenschutz, so viel setzt er aufs Spiel, so viel persönliches Risiko geht er für die Gesellschaft ein.

 

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Wer soll da noch etwas sagen? Es sind vielleicht die Kleinigkeiten, die irritieren. So fallen regelmäßig große Unstetigkeiten auf, Entscheidungsprozesse erscheinen erratisch (z.B. Verkürzung der Zeitdauer des Genesenenstatus), unabgesprochen, sozusagen über Nacht gefasst und ein paar Stunden später schon wieder revidiert. Er doziert ununterbrochen (im Kollegenkreis, im Ministerium, in der Runde der Gesundheitsminister etc.), hört nicht zu, kommt gar nicht auf die Idee, dass auch andere wichtige Aspekte beizusteuern hätten. Auch konnte man nachweisen, dass er mit seinen Aussagen auch in wissenschaftlicher Hinsicht gar nicht immer richtig lag, dass er selektiv zitiert, also nur die Studien verwendet, die zu seiner Meinung passen. Zuletzt wurde dies bei der Aussage deutlich, die Mutation BA5 würde zu einer höheren Hospitalisierungsrate führen als die anderen BA-Mutationen, eine Aussage, die aus einer einzigen, ohne Review auf einem Preprint-Server veröffentlichten Studie stammt, von gegensinnigen Aussagen gesäumt war, von den Autoren selbst mit Fragezeichen versehen wurde und vor allem nicht mit anderen Studien übereinstimmte.

Überhaupt hat man den Eindruck, der Minister trage eine ganze Wand von Studien vor sich her, wie um sich zu schützen, vor Fragen, vor Aspekten, die vielleicht in den naturwissenschaftlich-medizinischen Studien gar nicht zur Sprache kommen. Ist Angst auf Dauer ein guter gesellschaftlicher Zustand? Ist fortwährende Warnung vor Katastrophen eine gute Strategie der Risikokommunikation? Hat er jemals ein paar Worte an die durch seine Maßnahmen Zurückgesetzten gefunden? Wäre er in der Lage, zum Lager der Ungeimpften und Corona-Demonstranten eine Brücke zu bauen, um die gesellschaftlichen Gräben, die sich aufgetan haben, zu schließen? Solche Fragen prallen an der Wand des Wissens, an der undurchdringlichen Wand der Studienergebnisse ab. Er erscheint gelegentlich wie ein Physiker, der die Wellenlänge des blauen Lichts bis auf die zehnte Stelle hinterm Komma kennt und verzweifelt versucht, dem Maler zu erklären, wie er am besten das Blau der Augen zu Papier bringt.

Der Führende muss führen, vor allem aber auch zuhören

Diese Fragen führen tief in das politische Verständnis von Führung. Es gab einmal Zeiten, da der weise Führer dem Volk, den Geführten, die Richtung vorgab, weil es gesellschaftlich so vorgesehen war (und die Geführten keine Wahl hatten). Mit den modernen Führungskonzepten, nicht zuletzt auch im Gesundheitswesen implementiert, hat dieses Verständnis jedoch nichts zu tun (der Verweis auf das Gesundheitswesen ist insofern von Belang, weil hier ja bekanntlich idealtypische Top-Down-Strukturen nicht unüblich waren). Ein modernes Führungsverständnis sieht hier jedoch völlig andere Konzepte vor, bereits im ersten Angang, also sobald man beginnt, das Buch zu diesem Thema zu öffnen. Ein wichtiges Element ist die Bidirektionalität von Führung: Der Führende muss führen, vor allem aber hören und sehen, also auf Empfang schalten. Hier hat die Sicherheitsdiskussion eine große Rolle gespielt, denn der Führende mag eine Informationsasymmetrie zu seinen Gunsten verspüren (also der Meinung sein, er habe mehr Informationen als die Geführten), aber immer hat er auch eine solche Asymmetrie zu seinen Ungunsten zu vergegenwärtigen, denn er kann tatsächlich nie aufgrund eigener Anschauung wissen, was wirklich in der Peripherie los ist – er kann seine Augen nicht überall haben.

So sind wir unversehens an einem kritischen Punkt angelangt, der auch für unseren Experten-Politiker eine wichtige Bedeutung haben dürfte. Ist er mit seinem Verständnis krisensicher? Hört er, was sich bewegt? Lässt er andere Meinungen zu – nein: fordert er sie ein, um sich ein vollständiges Bild zu machen? Ist er in der Lage, sein naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild durch soziale und psychologische (man möchte sagen: menschliche) Elemente zu ergänzen? Hierzu gehört natürlich nicht nur das Gesundheitswesen als ein wichtiges gesellschaftliches Feld, sondern auch die politische Arena. Ein Gesundheitsminister muss ja nicht nur die gesundheitliche Krise (irgendwann) beenden, sondern auch auf der Ebene der Politik dafür sorgen, dass die ewig Sorgenvollen, die fortwährend Ängstlichen wieder Mut fassen, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen und Risiken zulassen in einem Maßstab, in dem dies vor Corona auch der Fall war.

Es sei denn, der Minister Karl Lauterbach ist der Vorbote eines neuen Politikverständnisses, der neue Prototyp des Politikers, allwissend, der die einzige Wahrheit kennt, der der als Einziger den Weg weiß und der deswegen durch eine Verpanzerung geschützt werden muss. Dann leben wir in einer anderen Gesellschaft, und Corona – war wirklich eine Zeitenwende.

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