PISA-Studie 2022 veröffentlicht - Herzlich willkommen in der neuen Klassengesellschaft!

Die Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie sind abermals ein Schock für das einstige Bildungsland Deutschland. Die Ergebnisse sind schlechter denn je. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder längst auf Privatschulen.

Besonders sozialschwache Kinder leiden unter der Bildungsmisere / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Eigentlich sollte mit dem deprimierenden Ergebnis der ersten PISA-Studie 2000 das Ruder herumgerissen werden. Mit zahlreichen Schulreformen unter dem Zauberwort „Kompetenzorientierung“ versprach die Politik Besserung. Die gute alte Schule sollte abgewickelt werden.

Möglichst keine zentralen Lernvorgaben mehr, keine verbindlichen Rahmenpläne, kein stumpfes Auswendiglernen. Stattdessen: Freiheit für alle und regelmäßig Leistungsüberprüfungen. Deutschland baut seit 20 Jahren an der Schule der Zukunft. Und nun? Man steht vor einem Scherbenhaufen.

Um es kurz und knapp zu sagen: Bei der ersten PISA-Studie war Deutschland Mittelmaß. Auch heute erreicht es noch etwa den OECD-Durchschnitt. Aber es ist schlechter, als es jemals war.  

So schlecht waren die Ergebnisse noch nie

Nach einem kurzen Bildungsaufschwung ging es wieder rasant in den Keller. Heute werden die „niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden“, erreicht. Allein der Rückgang in Mathematik und Lesen entspricht gegenüber dem Jahr 2018 einem ganzen Schuljahr.
 


Aber die Leistungen in Mathe, Deutsch und Naturwissenschaften sind nicht nur generell rückläufig. Gleichzeitig wird der Anteil leistungsschwacher Schüler größer und der Anteil leistungsstarker Schüler kleiner. Der Anteil der Schwachen beträgt in Mathematik inzwischen ganze 30 Prozent, der Anteil der Starken hat sich seit 2012 auf 9 Prozent halbiert. Für eine Volkswirtschaft, die auf dem Weltmarkt dauerhaft erfolgreich sein will, ist das nichts anderes als eine Katastrophe.

Bildungsökonom Ludger Wößmann schlägt denn auch Alarm. Allein der Leistungsrückgang in Mathematik verursache „langfristig rund 14 Billionen Euro an entgangener Wirtschaftsleistung bis zum Ende des Jahrhunderts“. Nach dem ersten PISA-Schock brauche es daher einen zweiten. Denn: So schlecht wie heute waren die Ergebnisse noch nie.

Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist explodiert

Dabei gehört gar nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass bei der nächsten Studie alles noch viel schlimmer sein dürfte. Die Gründe für den Bildungsverfall sind vielfältig:

1.    Zunächst wird die Corona-Pandemie auch jenseits eines systemischen Leistungsproblems die schlechten Ergebnisse mitverursacht haben. Aber schon vorher waren die Leistungen in den Sinkflug übergegangen. Corona taugt nicht als Ausrede.

2.    Deutschland leidet bereits seit Jahren unter Lehrermangel, vor allem in den Naturwissenschaften und in Mathematik. Und dieser Mangel wird in diesem Jahrzehnt noch weiter zunehmen und ebenfalls nicht ohne Folgen bleiben.

 

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3.    Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren geradezu explodiert. Ob man es nun wahrhaben will oder nicht: Auch das fordert das Bildungssystem heraus. Das ist nicht nur statistisch gemeint. Ein zu hoher Migrantenanteil an vielen deutschen Schulen belastet die Unterrichtssituation und damit das mögliche Leistungsniveau aller Schüler.

4.    Und schließlich darf man es für wahrscheinlich halten, dass auch die „kompetenzorientierte Wende“ in der Pädagogik vor einem Scherbenhaufen steht. Freilich: Zugegeben wird das von seinen Erfindern selten. Eigentlich nie. Man müsste einen historischen Irrtum eingestehen.

Deutschland steht daher heute vor einer ähnlichen Situation wie im Jahr 1964. Damals warnte Georg Picht in einer Streitschrift vor der nahenden deutschen „Bildungskatastrophe“. Schon damals ging es um die Abwendung eines heraufziehenden Lehrermangels und um die Anschlussfähigkeit Deutschlands an internationale Akademikerquoten. Das Jahr 1964 hatte nur einen entscheidenden Vorteil: Die Boomer waren noch jung und standen nicht kurz vor der Pension oder Rente wie heute. Es gab noch Nachwuchskräfte.

Öffentliche Schulen haben einen immer schlechteren Ruf

Will Deutschland seine Schulen nicht endgültig an die Wand fahren, wird man also das Problem mit dem Lehrermangel ebenso lösen müssen wie die Überforderung der Schulen durch zu viele Migrationslasten. Das hört der deutsche Linke nicht gern, ist aber so.

Am Ende leiden unter all dem ohnehin nur der gewöhnliche Arbeitnehmer und die Arbeiterklasse. Rechtsanwälte, Ärzte, Professoren sowie Abgeordnete wohnen für gewöhnlich nicht in deutschen Plattenbauten. Und sie haben auch das nötige Kleingeld, um ihre Kinder notfalls auf Privatschulen schicken zu können.

Was Deutschland droht, ist daher im Grunde nichts anderes als die Rückkehr der Klassengesellschaft. Das Szenario ist vorgezeichnet: Wer es sich leisten kann, kauft seine Kinder aus den öffentlichen Schulen raus. In den Plattenbausiedlungen der Städte wird man zwar noch Lehrer finden, aber durch eine völlig unausgeglichene Schülerstruktur wird auch das nicht zu anständigen Lernergebnissen verhelfen.

Für Optimismus gibt es keinen Grund

Auf dem Lande hingegen wird der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund zwar deutlich niedriger sein, aber dafür wird es ganz an qualifizierten Lehrern fehlen. Akademiker zieht es nun einmal eher in die größeren Städte. Das ist auch bei Paukern nicht anders.

Für Optimismus gibt es daher keinen Grund. Die Zukunft wird in der Wiederkehr des 19. Jahrhunderts liegen. Die städtischen Arbeiterkinder werden unterprivilegiert sein wie damals – und die Kinder aus dem ländlichen Raum ebenso.

Eigentlich war die politische Linke einst angetreten, um Arbeiterkindern den Aufstieg zu ermöglichen und den Unterschied an Lebenschancen zwischen Stadt und Land aufzuheben. Groteskerweise dürfte nun eine maßlose Form der Weltoffenheit diese alten Zustände wiederherstellen.

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