„Natürlich gibt es Pullfaktoren“ - Die Grünen halten am Umbau der Gesellschaft fest

Nur scheinbar hat sich auf dem Grünen-Parteitag die migrationspolitische Vernunft durchgesetzt. Denn man stritt nur um die Taktik, wie das gemeinsame Ziel – mehr statt weniger Zuwanderung – erreicht werden kann.

Omid Nouripour, Ricarda Lang, Robert Habeck, Annalena Baerbock, Terry Reintke bei der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen, 25.11.2023 / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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„Et hätt noch immer jot jejange“, ungefähr so wird eine hoch emotional geführte Debatte auf dem Parteitag der Grünen in deutschen Leitmedien kommentiert. Von einem „Sieg der Parteispitze“ über ihre Kritiker in Sachen Migrationskrise ist gar die Rede.  Aber das ist ein Missverständnis.

Zur Debatte stand gar nicht die Frage, ob die Migration nach Deutschland und Europa deutlich reduziert oder gar gestoppt werden sollte oder nicht. Gestritten wurde allein über die Frage, wie man das Erreichen eines Ziels am besten einfädelt, über das sich die Grünen gegen eine derzeitige Mehrheit der Bevölkerung ohnehin ganz und gar einig sind.

Vor allem Vertreter der grünen Parteijugend wollten die Parteiführung per Mehrheitsbeschluss darauf verpflichten, keine Verschärfungen des Asylrechts mehr mitzutragen. Vizekanzler Robert Habeck veranlasste das in der Debatte zu einer Zuspitzung, die fortan alle mediale Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Antrag der Grünen Jugend sei ein „Misstrauensvotum in Verkleidung, das sagt: ‚Verlasst die Regierung!‘“. Er müsse daher abgelehnt werden – was auch mit deutlicher Mehrheit geschah.

 

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Wichtiger als das waren aber die Zwischentöne. Als symptomatisch hierfür erwies sich bereits die Debatte über die bloße Überschrift des Leitantrages zur Migrationspolitik. Der Bundesvorstand wollte unter dem Slogan „Humanität und Ordnung“ in den Europawahlkampf ziehen. Das klang nach einer migrationspolitischen Wende der Grünen. Die Kritiker präferierten stattdessen die Formulierung „Humanität und Menschenrechte“.

Göring-Eckardts Vorstellung von „Ordnung“

Was wie ein Grundsatzkonflikt aussah, war gar keiner. Das machte für die Parteiführung Katrin Göring-Eckardt deutlich. Wenn in dem Antrag von „Ordnung“ die Rede sei, so die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, meine das nämlich gar nicht Härte und Konsequenz. Es meine vielmehr umgekehrt, den Flüchtlingen in Deutschland möglichst verlässliche Bedingungen zu garantieren.

Wie die Stimmung bei den Grünen in Wahrheit ist, zeigte auch die Abstimmung über den Listenplatz 8 zur Europawahl 2024. Als einziger Kandidat stand der Europa-Abgeordnete Erik Marquardt zur Wahl. Schon seit Jahren gehört er zu den engagiertesten Vorkämpfern für Flüchtlingshilfe und mehr Zuwanderung nach Deutschland.

Er bestritt gar nicht, dass es derzeit Probleme in Deutschland in Sachen Migration gebe. Hierfür hatte er indes eine überraschende Erklärung. Die Probleme resultierten nicht aus einem Mangel an Ordnung, nicht aus einem Zuviel, sondern vielmehr aus einem „Zuwenig an grüner Politik“.

Mehr Zuwanderung durch stärkere Pullfaktoren

Noch mehr Zuwanderung, noch mehr Weltoffenheit, noch mehr Geld für die Kommunen zur Unterbringung und Integration von Flüchtlingen und die schnellere Verleihung der Staatsbürgerschaft: Das sei der Weg, den Deutschland jetzt zur Bewältigung der Migrationskrise gehen müsse. Mehrfach wurde seine Vorstellungsrede durch regelrechte Begeisterungsstürme unterbrochen und seine Kandidatur mit 90 Prozent der Delegiertenstimmen bestätigt.

Dass gar nicht daran gedacht ist, die Migration ernsthaft zu begrenzen, bestätigte in der wohl hitzigsten Debatte des Parteitages selbst Außenministerin Annalena Baerbock. Vehement plädierte auch sie für die Ablehnung des Antrages der Grünen Parteijugend. Viel wichtiger als das sind aber die von ihr dafür ins Feld geführten Gründe.

Wer regiere, müsse zwar schmerzliche Kompromisse eingehen. Aber nur wer regiere, könne auch auf die Verbesserung der Lebensbedingungen von Flüchtlingen in ganz Europa hinwirken. Zwar möchte die grüne Parteiführung Deutschland eine kurze Verschnaufpause in Sachen Flüchtlingskrise verschaffen, indem die anderen EU-Staaten stärker in die Pflicht genommen werden sollen. Aber am Ende verfolgt sie das Ziel, die deutschen Pullfaktoren zu europäisieren. Dass die Absicht, Pullfaktoren weiter zu stärken, keine bloße Unterstellung ist, zeigte sich abermals in der entscheidenden Debatte.

„Gesamtakzeptanz für das Asylsystem retten“

Enad Altaweel kam 2016 aus Syrien, studiert heute in Berlin und ist Mitglied im Berliner Landesvorstand der Grünen. Im Namen der Menschenrechte und Mitmenschlichkeit forderte er von seiner Partei energisch eine Politik der offenen Grenzen ein. Und er sagte mit Blick auf sich selbst einen Satz, der im grünen Milieu eigentlich als verpönt gilt: „Natürlich gibt es Pullfaktoren“, nämlich den Zusammenhang von Rechtsstaat, Demokratie und sozialer Sicherheit in Deutschland.

Auch die Grünen wissen, dass Altaweel damit recht hat. Und sie zeigten es auch. Regelrecht frenetisch wurde sein Bekenntnis von den Delegierten beklatscht und gefeiert. Auch von Robert Habeck und Annalena Baerbock.

So versteht man besser, was der Vizekanzler eigentlich meinte, als er zu Beginn des Parteitages ankündigte, es müssten demnächst auch „schwierige Entscheidungen“ getroffen werden. Es ginge nämlich darum, die gesellschaftliche „Gesamtakzeptanz für das Asylsystem zu retten“. Die Grünen streiten nicht über das Ob des gesellschaftlichen Umbaus, sondern bloß taktisch über die Geschwindigkeit.

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