Sicherheitspolitische Kehrtwende - Olaf Scholz, der plötzliche Bundeswehr-Kanzler

Bundeskanzler Olaf Scholz will die deutschen Streitkräfte mit 100 Milliarden Euro auf Vordermann bringen. Mit diesem Überraschungscoup überrumpelte er seine eigene Partei und den Koalitionspartner, die Grünen. Doch wie nachhaltig ist dieser 180-Grad-Schwenk in der deutschen Sicherheitspolitik? Und wer soll ihn am Ende bezahlen?

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will als Erneuerer der kaputtgesparten deutschen Armee in die Geschichtsbücher eingehen / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Deutschland ist aufgewacht. Unsanft geweckt durch einen größenwahnsinnigen Gewaltherrscher, der hierzulande in seltener Eintracht zwischen Links und Rechts lange verklärt und verharmlost wurde. So lange, bis es nicht mehr ging.

Von einer Zeitenwende sprach Olaf Scholz, als er am Sonntag im Bundestag eine atemberaubende Kehrtwende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ankündigte: Die Bundesrepublik, die sich unter dem Schutzschirm der Amerikaner einen üppigen Sozialstaat samt offener Grenzen leistete, aber die eigene Armee so stiefmütterlich behandelte, als wäre der ewige Weltfrieden so gut wie erreicht, soll sich plötzlich selbst um ihre äußere Sicherheit kümmern.

Friedensbewegung übt rhetorische Akrobatik

Während draußen auf der Straße die in die Jahre gekommene Friedensbewegung, deren Feindbild stets der westliche „Imperialismus“ war, rhetorische Akrobatik übte, um der pro-ukrainischen Menschenmasse einzutrichtern, dass Putin zwar böse, aber die Nato deshalb noch lange nicht gut sei, kündigte Kanzler Scholz an, die Bundeswehr massiv aufzurüsten. Erstaunte bis entsetzte Laute waren nicht nur aus den Abgeordnetenreihen der Sozialisten zu vernehmen, sondern auch aus denen der Grünen und der Sozialdemokraten. Scholz hat seine eigene Partei, deren linker Flügel eher rüstungsfeindlich und betont russlandfreundlich ist, offenbar überrumpelt.

100 Milliarden Euro zusätzlich will die Bundesregierung in die eigenen Streitkräfte stecken. Das ist eine gewaltige Summe. Zum Vergleich: Der aktuelle Verteidigungsetat beträgt nicht einmal die Hälfte davon. Das Zwei-Prozent-Ziel (nationale Wehrausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) –  auf das man sich zwar innerhalb der Nato geeinigt hatte, das aber in Deutschland als weit entfernte Utopie behandelt wurde – soll plötzlich nicht nur schlagartig erreicht, sondern sogar übertroffen werden.

Politisch waghalsiges Manöver

Es ist richtig, dass der Bundeskanzler diese Kehrtwende eingeleitet hat. Politisch für ihn ein durchaus waghalsiges Manöver. Und es ist richtig, dass ihn die Koalitionspartner dabei unterstützen. Für die Grünen, die zwar Putins Aggressionen von Anfang an kritischer gesehen haben, aber Aufrüstung traditionell ablehnen, ist das ein großer Schritt. Auch die FDP, die zwar weniger pazifistisch geprägt ist, aber eigentlich angetreten ist, um die ins Uferlose steigenden Staatsausgaben zu bremsen, muss über ihren Schatten springen.

In die Ausrüstung und Modernisierung der Bundeswehr zu investieren, war überfällig. Weite Teile der Politik aber auch der Öffentlichkeit haben in Deutschland schlicht vergessen, dass die Gewährleistung von Sicherheit die Kernaufgabe jedes Staates ist. Es ist sein Daseinszweck.

Deutschland ist mental nicht vorbereitet

Nur das Problem ist: Das heutige Deutschland, das diese Kernaufgabe an die ehemalige Besatzungsmacht USA abgegeben und seinen eigenen militärischen Beitrag zur Landesverteidigung nach der Wiedervereinigung auf ein Minimum heruntergefahren hat, ist weder mental noch politisch darauf vorbereitet. Scholz’ Überraschungscoup – über die gewaltige Höhe des angekündigten Sondervermögens für die Bundeswehr waren, so hieß es gestern, selbst Vizekanzler Habeck und Kabinettskollegin Baerbock vorab nicht informiert – lässt sich im derzeitigen Schockzustand, den Putins Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat, vermutlich durchsetzen. Aber was geschieht in den Jahren danach?

Die Milliardensummen, die jetzt vollkommen zu Recht in die deutschen Streitkräfte gesteckt werden, müssen ja irgendwoher kommen. Sollen die Staatsschulden nicht endlos steigen und die ohnehin schon hohe Steuerlast nicht weiter erhöht werden, muss irgendwann an anderer Stelle gespart werden. Und zwar deutlich.

Irgendwo muss gespart werden

Nur wo? Die Ampelkoalition, die mit dem Anspruch einer umfassenden „Transformation“ des Landes hin zu einem klimaneutralen, durchdigitalisierten Öko- und Sozialstaatsparadies gestartet ist, wird schmerzhafte Entscheidungen treffen müssen. Welches ihrer großen Versprechen muss sie als erstes brechen?

Ihr Kernanliegen, die Vollendung der falsch angegangenen und bereits jetzt sehr teuren Energiewende, wird weiterhin Unsummen verschlingen. Denn seit Putins Ukraine-Krieg steht neben der CO2-Reduktion auch das Thema Versorgungssicherheit ganz oben auf der politischen Agenda. Zum Glück, muss man fast zynisch sagen. Auch hier ist Deutschland aufgewacht. Gerade noch rechtzeitig.

Energiewende wird weiter Unsummen verschlingen

Die eher ideologisch denn technisch begründete Träumerei von einer 100-Prozent-Versorgung mit heimischer Energie aus Erneuerbaren wird zwar als offizielles Fernziel noch weiter vertreten. Wirtschafts- und Klimaminister Habeck will den Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen in Deutschland jetzt noch schneller und rücksichtsloser durchsetzen. Schließlich gehe es angesichts der Bedrohung durch Russland nicht mehr nur um die Rettung des Weltklimas, sondern um die nationale Sicherheit. Was es kostet, spielt keine Rolle mehr: „Am Ende ist es nur Geld“, so Habeck.

Und Christian Lindner, dem als Finanzminister und Liberalen vom Wähler eigentlich die Rolle des Ausgabenbremsers zugedacht war, müsste eigentlich schon längst schwindlig geworden sein. Doch er spielt bislang mit. Bei der Ukraine-Sondersitzung im Bundestag bezeichnete er erneuerbare Energiequellen als „Freiheitsenergie“. Eine Wortschöpfung, die ihm so gut gefiel, dass er sie sofort wiederholte, um ja sicherzugehen, dass ihn die Presse damit zitiert.

Atomkraft ist plötzlich kein Tabu mehr

Im Hause Habeck scheint hingegen schnell Ernüchterung eingekehrt zu sein. Denn dem ursprünglichen Plan, den steigenden Strombedarf und die wetterbedingten Schwankungen der notorisch unzuverlässigen Wind- und Sonnenstromerei durch neue Gaskraftwerke auszugleichen, hat der Mann im Kreml jäh einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Plötzlich ist der beschleunigte Kohleausstieg, von dem kürzlich noch das Schicksal der Menschheit abzuhängen schien, doch nicht mehr ganz so wichtig. Und bei den Grünen scheint sogar das Jahrzehnte gepflegte Feindbild der angeblich unbeherrschbaren Atomenergie zu fallen. Über eine Laufzeitverlängerung der verbliebenen drei deutschen Kernkraftwerke wird nun offen diskutiert. Bleibt zu hoffen, dass, wenn schon, auch die erst Ende Dezember vom Netz genommenen anderen drei Meiler in die Überlegungen mit eingezogen werden. Dann wären es insgesamt immerhin noch sechs.

Rentensystem nicht zu halten

Der neue deutsche Realismus, sollte er anhalten, wird jedenfalls teuer. Er wird dauerhaft nicht durchzuhalten sein, wenn nicht noch andere Tabus fallen. Und zwar das einer staatlichen Rundumvorsorge für alle Lebensrisiken. Angesichts einer alternden Bevölkerung ist unser Sozialsystem, vor allem das der Renten- und Pflegeversicherung, schon jetzt nicht mehr zukunftsfähig. Experten warnen davor seit Jahren. Ohne Verlängerung der Lebensarbeitszeit, also ein späterer Rentenbeginn, und Kürzung des Rentenniveaus wird die Ausgabenbelastung so stark steigen, dass künftigen Generationen kaum ein Gestaltungsspielraum mehr bleibt. Doch kein Politiker will sich mit den Alten anlegen. Sie sind die größte Wählergruppe.

Will Deutschland sein sicherheitspolitisches Schicksal wirklich selbst in die Hand nehmen, kann es sich einen solchen Rentenstaat erst recht nicht mehr leisten. Eine Erkenntnis, die weder der SPD noch der CDU schmecken wird.

Misstrauen gegenüber Militärischem bleibt

Die andere große Frage ist, wie nachhaltig der 180-Grad-Schwenk in Sachen Landesverteidigung wirklich ist. Sollte sich die Situation in der Ukraine irgendwann wieder beruhigen, im Kreml womöglich ein anderer, nicht unbedingt demokratischer, aber dem Westen gegenüber freundlicher gestimmter Herrscher einziehen: Wie lange wird es dann dauern, bis der Ukraine-Schock verdaut ist und wieder über Einsparungen bei der Bundeswehr nachgedacht wird?

Das in Deutschland nach zwei verlorenen Weltkriegen jahrzehntelang vorherrschende Misstrauen gegenüber allem Militärischem ist mit einer Sonntagsrede eines urplötzlich zum Bundeswehr-Kanzler mutierten Sozialdemokraten, der sich noch im Wahlkampf nicht zu in der eigenen Partei hoch umstrittenen Rüstungsprojekten wie bewaffneten Drohnen bekennen wollte, ja nicht verschwunden. Es wird derzeit nur unterdrückt.

Bei Bundewertpapieren gelten Waffen als nicht nachhaltig

Erst 2020 entwickelte das damals von Olaf Scholz geführte Finanzministerium ein „Rahmenwerk für Grüne Bundeswertpapiere“. Die Regierung wollte damit den Trend zur nachhaltigen Geldanlage nutzen und fördern. Doch was ist nachhaltig? Waffen auf keinen Fall, war man sich damals noch einig. Im Rahmenwerk werden Rüstung und Verteidigung in einem Atemzug mit Tabak, Alkohol und Glücksspiel genannt und als „nicht grün“ von der Finanzierung ausgeschlossen.

Das dahinter stehende Denken, das von Vertretern der deutschen Rüstungsindustrie bereits vor dem Ukraine-Krieg deutlich aber erfolglos kritisiert wurde, wird mit einer Hauruck-Rede des Kanzlers nicht in sein Gegenteil verkehrt.

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