SPD-Spitzenkandidatur in Hessen - Nancy Faeser beharrt auf Rückfahrkarte nach Berlin

Nancy Faeser geht als sozialdemokratische Spitzenkandidatin ins Rennen um das Amt des hessischen Ministerpräsidenten - und bleibt quasi Bundesinnenministerin in Teilzeit. Bleibt die Frage, ob sie ihre Zukunft auch im Falle einer Wahlniederlage in der Landeshauptstadt Wiesbaden sieht.

Nancy Faeser am Kabinettstisch mit Boris Pistorius / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

So erreichen Sie Hugo Müller-Vogg:

Anzeige

Offiziell gekürt wird Nancy Faeser erst an diesem Freitag. Dass sie die hessische SPD als Spitzenkandidatin in die Landtagswahl am 8. Oktober führen wird, stand indes schon lange fest. Schließlich hatte Olaf Scholz die Juristin nicht zuletzt unter parteipolitischen Aspekten zur Bundesinnenministerin gemacht. Die hessische SPD-Landesvorsitzende sollte mit dem „Standing“ einer Bundesministerin und dem dadurch erhöhten Bekanntheitsgrad bessere Chancen gegen Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) und Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Grüne) haben.

Einen anderen gewichtigen Grund für Faesers Aufstieg gab es nämlich nicht. Hessen war mit Christine Lambrecht im Kabinett bereits vertreten. Zudem ist es noch nie vorgekommen, dass der Chef einer sich in der Opposition befindenden Landtagsfraktion über Nacht sozusagen aus landespolitischen Niederungen direkt in den bundespolitischen Olymp aufsteigt. In diesem Fall eine Politikerin, die bis dahin außerhalb Hessens überhaupt nicht aufgefallen war. Da Olaf Scholz gleich nach seinem Wahlsieg ein sozialdemokratisches Jahrzehnt ausgerufen hatte, traf er die entsprechenden personellen Vorbereitungen: erst die Partei, dann das Land.

Berlin hin, Berlin her

Faeser betont immer wieder, sie brenne für Hessen – Berlin hin, Berlin her. Sie hätte vermutlich gerne von ihrem Berliner Amtssitz aus weiterhin voller Inbrunst an ihr Hessenland gedacht. Nur gibt es in der dortigen SPD, die im einst „roten“ Hessen seit 1999 auf den Oppositionsbänken schmort, keinen Kandidaten, den man glaubwürdig als künftigen Ministerpräsidenten hätte vorzeigen können. Nancy musste also ran, und Olaf hat ihr die Aufgabe mit einem wichtigen Bundesministerium versüßt.

Das bisherige heimliche Getue um den Herausforderer für den CDU-Ministerpräsidenten wirkte umso unglaubwürdiger, je länger es sich hinzog. Gestern hat die SPD-Landesvorsitzende nun endlich klargestellt, dass sie antritt. Fest steht auch, dass sie von nächster Woche an wohl hauptberuflich Wahlkämpferin ist und eines der wichtigsten Bundesministerien eher in Teilzeit führt. Ihr Festhalten am Berliner Amt wird vonseiten der CDU wie der Ampel-Partner Grüne und SPD heftig kritisiert. Doch das lässt Faeser kalt. Schließlich kann sie als Bundesministerin in den Medien ungleich stärker präsent sein, als das einer Spitzenkandidatin ohne Amt und Apparat möglich wäre.

Faesers Begeisterung für das „Herz Deutschlands, mein blühendes Hessenland“, wie es im Hessenlied heißt, ist allerdings nicht so grenzenlos, wie sie das bisher gerne dargestellt hat. Nach der Wahl will sie, wie sie jetzt der Partei und den Wählern über den Spiegel mitgeteilt hat, nur als Ministerpräsidentin in die laut Landeshymne „herrliche Heimat“ zurückkehren, keinesfalls als Oppositionsführerin oder als Vize eines grünen Ministerpräsidenten Al-Wazir. Zurzeit deutet freilich nichts auf einen strahlenden Sieg der SPD hin. In Umfragen liegen SPD und Grüne Kopf an Kopf auf Platz zwei – mit fünf Punkten Abstand zur CDU, die bei 27 Prozent rangiert. Auf Faeser wartet also ein harter Wahlkampf – mit ungewissem Ausgang.

Staatsfrauliches Auftreten als möglicher Erfolgsweg

Faeser ist mit ihrer Festlegung auf „Alles oder nichts“ jedenfalls nicht in die sogenannte Röttgen-Falle getappt. Bei dem monatelangen Rätseln, wie ernst sie die Kandidatur nimmt, schreckte viele Genossen die Erinnerung an den glücklosen Spitzenkandidaten der nordrhein-westfälischen CDU, Norbert Röttgen. Der damalige Bundesumweltminister weigerte sich im Landtagswahlkampf 2012 beharrlich, sich festzulegen, wo sein Arbeitsplatz nach der Wahl sein werde – in Düsseldorf oder Berlin. Am Ende verlor er nicht nur die Landtagswahl krachend; obendrein warf Angela Merkel den Verlierer aus ihrem Kabinett. Das droht Faeser bei Scholz kaum. Denn erstens hätte der darauf drängen können, dass sie „all in“ geht, also alles auf die Hessen-Karte setzt, selbst um den Preis, dass sie im November 2023 wieder da wäre, wo sie bis Oktober 2021 war – auf der Oppositionsbank im Wiesbadener Landtag. Und zweitens würde der selbsternannte Feminist Scholz bei einem Ausscheiden Faesers aus dem Kabinett abermals mit der Frauenfrage konfrontiert.

Warum Faeser nur als Wahlsiegerin nach Wiesbaden kommen wird, erklärte sie dem Spiegel so: „Oppositionsführerin war ich schon.“ Auf diesen Posten will sie nicht zurück. Dann wäre es nämlich vorbei mit der großen Politik, mit den hell ausgeleuchteten Bühnen. Dann lauteten die Ziele eben Fulda, Grävenwiesbach oder Bürstadt statt New York, Brüssel oder Katar. Das sagt die SPD-Politikerin natürlich so nicht. Sie kleidet ihre Rückversicherung in gewählte Worte: Im Fall einer Wahlniederlage „werde ich weiterhin als Bundesinnenministerin meiner Verantwortung gerecht werden“. Klingt halt „staatsfraulicher“ als „lieber in Berlin regieren als in Wiesbaden opponieren..

 

Mehr von Hugo Müller-Vogg:

 

Die SPD präsentiert den hessischen Wählern also nur eine halbe Faeser. Für die anderen Parteien und die Medien ist das ein Dauerbrenner bis zum Wahltag. Es fragt sich jedoch, ob sehr viele Wähler ihre Stimmabgabe tatsächlich davon abhängig machen, was ein Spitzenkandidat im Fall einer Wahlniederlage tun wird. Entscheidet sich jemand wirklich nur deshalb für Rhein oder Al-Wazir, weil diese – falls sie schlecht abschneiden – nach dem 8.Oktober nicht den ersten Flieger nach Berlin nehmen werden?

Da kaum ein Wähler seine Stimme nur unter einem einzigen Aspekt abgibt, ist es ohnehin schwer, die Bedeutung einzelner Fragen für den Wahlausgang zu erkennen. Röttgen hätte vor elf Jahren gegen die damals sehr populäre Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) vermutlich ebenfalls verloren, wenn er den Rheinländern wie den Westfalen feierlich versichert hätte, er werde sich künftig ganz der Landespolitik verschreiben, ob als Wahlsieger oder Wahlverlierer. Falls es in Hessen jedoch so knapp ausgehen sollte wie vor fünf Jahren, als SPD und Grüne jeweils 19,8 Prozent der Stimmen bekamen, könnten wenige Stimmen den Ausschlag geben, ob in einer Ampel-Koalition die SPD oder die Grünen den Regierungschef stellen.

Im Fall Röttgen hat dessen Verhalten seine ohnehin geringen Wahlchancen zusätzlich verringert. Ganz anders hatte seine Parteifreundin Julia Klöckner 2011 in Rheinland-Pfalz agiert. Sie verkündete gleich zu Beginn des Wahlkampfes, sie werde in jedem Fall in Mainz bleiben. Zudem legte sie noch vor der Wahl ihr Berliner Amt als Parlamentarische Staatssekretärin im Landwirtschaftsministerium nieder. Auch Armin Laschet hatte im Bundestagswahlkampf 2021 frühzeitig versichert, er werde auf alle Fälle nach Berlin gehen. Verloren haben letztlich beide: Klöckner mit einem sehr guten, Laschet mit einem sehr schlechten Ergebnis.

„Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin“

Früher war bekanntlich nicht alles besser, aber doch manches anders. Da kandidierten Bundespolitiker fröhlich mal in diesem Bundesland und bald darauf in jenem. Hans-Jochen Vogel (SPD) beispielsweise wechselte 1981 als Bundesjustizminister von Bonn nach Berlin, um Regierender Bürgermeister zu werden. Nach fünf Monaten wurde er abgewählt, um zwei Jahre später als Kanzlerkandidat der SPD gegen Helmut Kohl anzutreten. Mal hier, mal dort, das praktizierte auch Klaus von Dohnanyi. 1979 wurde er als Staatsminister im Auswärtigen Amt SPD-Spitzenkandidat in Rheinland-Pfalz. Nach verlorener Wahl legte er schnell sein Landtagsmandat nieder. Was in Mainz schief gegangen war, klappte zwei Jahre später in Hamburg: Von Dohnanyi wurde Erster Bürgermeister der Hansestadt.

Falls Nancy Faeser ein hessisches Beispiel für ein Festhalten am Amt des Bundesinnenministers braucht: Einer ihrer Vorgänger, Manfred Kanther (CDU), trat 1995 in Hessen gegen Hans Eichel (SPD) an. Im Wahlkampf ließ er keinen Zweifel daran, dass er nur als Ministerpräsident von Bonn nach Wiesbaden wechseln würde. Mit Kanther wurde die CDU zwar stärkste Partei, doch reichte es abermals für Rot-Grün. Also blieb er Bundesinnenminister.

Ohnehin kann sich die Sozialdemokratin schwerlich auf Kanther als Vorbild berufen. Den schmähte die SPD nicht nur als „Law and Order“-Politiker. Kanthers politische Karriere endete 2000 zudem auf unrühmliche Weise wegen seiner maßgeblichen Beteiligung an der CDU-Spendenaffäre. Deshalb verwies Faeser jetzt lieber auf Walter Wallmann (CDU), der 1987 als erster Bundesumweltminister die Hessenwahl gewann und hessischer Ministerpräsident wurde. Doch nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich: Faesers Arbeitspensum im Innenministerium ist in diesen Krisenzeiten – Innere Sicherheit, Fachkräftezuwanderung, Staatsbürgerrecht, Zustrom von Flüchtlingen – ungleich größer als damals das Wallmannsche.  

Nichts geht Politikern leichter von den Lippen als der Spruch: Erst das Land, dann die Partei, dann die Person. Faeser hat die Reihenfolge umgekehrt. Ihr Einsatz für ihr „Herzensland“ ist nur ein halbherziger. Wahrscheinlich summt sie still den Hildegard Knef-Hit vor sich hin: „Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin. Der bleibt auch dort, und das hat seinen Sinn.“

Anzeige