Kinderschutz-Experte Hans Zollner - „Missbrauch ist keine katholische Angelegenheit“

Hans Zollner sieht eine „fatale Schieflage“ in der gesellschaftlichen Debatte über Missbrauch und einen zu einseitigen Fokus auf die katholische Kirche. Zugleich beklagt er im Cicero-Interview Defizite bei der Aufarbeitung der Krise. Die Kirche habe inzwischen viel Glaubwürdigkeit verloren, sodass ihre Stimme etwa in der Gender-Debatte zu leise sei.

Im Vatikan gibt es beides: Vertuscher und solche, die die Dinge aufdecken wollen, sagt Jesuit Hans Zollner / Christian Klenk
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Hans Zollner lehrt Psychologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana und leitet das Institut für Anthropologie. Er gilt als Experte für Kinderschutz und Prävention. Von 2014 bis 2023 war er Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen. Zollner ist Jesuit. 

Herr Zollner, ist die katholische Kirche bei der Aufarbeitung der weltweiten Missbrauchskrise gescheitert?

Dort, wo Missbrauch schon angegangen wird, wie etwa in den USA, Frankreich und Deutschland, ist Aufklärung im juristischen Sinn im Gange, aber Aufarbeitung im umfassenden Sinne steht erst am Anfang. In vielen anderen Ländern dieser Welt ist Missbrauchsaufarbeitung deswegen nicht gescheitert, weil man etwa in Teilen Lateinamerikas, in Afrika und Asien mit dem Thema noch gar nicht angefangen hat. 

Was meinen Sie mit Aufarbeitung?

Das Wort hat viele Bedeutungen. Viele kirchliche Verantwortungsträger und auch viele andere in der Kirche meinen, es sei schon so wahnsinnig viel geschehen, wenn man ein Gutachten in Auftrag gibt, Zahlen und Fälle auflistet, wenn man eine Predigt dazu hört oder einen Versöhnungsbrief schreibt. Das ist aber oft nicht das, was Betroffene unter Aufarbeitung verstehen. Sie wollen nicht nur Entschädigungszahlungen etc., sondern es geht auch und vor allem um das Wahrgenommenwerden, das existenziell Angehört- und Angenommenwerden. Und was erst sehr rudimentär geschieht, ist der Blick auf die institutionellen, administrativen, organisatorischen, sprich: die systemischen Zusammenhänge, die Missbrauch und Vertuschung ermöglicht haben. Sie gilt es zu verändern.

Und von Rom aus betrachtet: Unternimmt der Papst genug für den Schutz von Kindern?

Papst Franziskus hat viel für den Kinderschutz getan. Natürlich kann man auch immer noch mehr tun. Aber durch verschiedenste und kontinuierliche Gesetzesverschärfungen hat er dazu beigetragen, dass der Kinderschutz auf die Tagesordnung der katholischen Weltöffentlichkeit gekommen ist und dort auch bleiben wird. Aber es gibt auch viele Schwachpunkte und Dinge, die nachzubessern sind, sowohl bei den Gesetzen als auch bei der Kommission, die er eingerichtet hat.

Pater Hans Zollner / Christian Klenk

Es hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt, dass Sie aus der päpstlichen Kinderschutz-Kommission ausgetreten sind. Was bedeutet dieser Schritt?

Die Kommission ist in ihrer Arbeit den Grundsätzen, die sie anderen auferlegen will bei der Frage von Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch, selbst nicht gerecht geworden. Deswegen musste ich mich zurückziehen. Ich habe diese Grundsätze miterarbeitet: Verantwortlichkeit, Compliance, Rechenschaftspflicht und Transparenz. Und wenn die Kommission selbst diesen Grundsätzen nicht folgt, kann ich es nicht verantworten, dabeizubleiben

Haben die Verantwortlichen im Vatikan Ihrer Meinung nach noch nicht verstanden, worum es geht? 

Die katholische Kirche, der Vatikan und auch die Kommission selbst sind jeweils keine monolithischen Einheiten. Es gibt im Vatikan Leute, genauso wie überall sonst, die für alle diese Prinzipien stehen und diese auch umsetzen wollen. Und es gibt Leute, die – meines Erachtens jedenfalls – dem nicht genügen. Es gibt eine sehr gemischte Realität, genauso wie das in Deutschland und in jedem anderen Land der Fall ist. Es gibt in der Kirche nach wie vor Vertuscher und solche, die die Dinge aufdecken wollen. Es gibt diejenigen, die für die Prävention einstehen, und diejenigen, die sagen: Jetzt lasst es mal gut sein. Es gibt diejenigen, die den Opfern zuhören, und es gibt diejenigen, die sich nicht wirklich die Zeit nehmen und die Energie investieren.

Und welche Seite hat die Mehrheit in Rom?

Das kann ich schwer beurteilen, ich war nie Vatikan-Angestellter. Aber ich glaube schon, dass die große Zahl der Leute, die im Vatikan arbeiten – das sind Laien, Priester, Bischöfe –, grundsätzlich verstehen, wie unglaublich drängend das Thema für die Kirche ist. Aber es gibt auch diesen italienischen Kontext: Man sitzt hier Probleme gerne aus. Man möchte sich nicht mit unangenehmen Dingen befassen. Und Sexualität ist in der katholischen Kirche an sich schon schwer zu thematisieren. Es gibt diese Haltung, dass alle nach außen hin bella figura machen müssen. Die mangelnde Fehlerkultur ist für eine ehrliche und offene Aufklärung hinderlich. 

Schauen wir uns einen prominenten Einzelfall an. Marko Rupnik ist ein Jesuit und Künstler. Aufgrund schwerer Vorwürfe ist er exkommuniziert, also aus der Kirche ausgeschlossen worden. Nach kurzer Zeit wurde er rehabilitiert. Ist das ein Beispiel dafür, dass die Kirche zu nachlässig mit den Tätern umgeht?  

Konkret kann ich das nicht sagen, weil ich nicht mit dem Prozess befasst war. Es macht den Eindruck, dass die Exkommunikation sehr schnell aufgehoben wurde, auch verglichen mit ähnlichen Fällen. Was der Grund dafür war, weiß ich nicht.

Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Thema Prävention, also damit, dass künftig Missbrauch verhindert wird. Wie weit ist die Kirche da?

Ich glaube sagen zu können, dass das Thema Prävention in der Kirche angekommen ist. Hier sind wir deutlich besser aufgestellt als bei der Aufarbeitung. Wie das dann umgesetzt wird und wie effektiv das ist, das muss man im Einzelfall sehen. Aber ich kenne keine andere Organisation weltweit, die flächendeckend Leitlinien einfordert, die Schutzkonzepte erstellt, die in dem Ausmaß Präventionsschulungen durchführt, wie die katholische Kirche. Natürlich braucht es einen langfristigen Mentalitätswandel; das braucht Zeit, aber wir sind auf dem richtigen Weg.

 

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In Deutschland wird die katholische Kirche im öffentlichen Diskurs oft nur noch mit dem Thema sexueller Missbrauch identifiziert. Ist das aus Ihrer Sicht angemessen?

Es ist insofern angemessen, als die katholische Kirche bis vor einiger Zeit eine wichtige moralische Institution war, an der sich durchaus die Gesellschaft orientiert hat, ob man jetzt ein Katholik war oder nicht. Es gab eine hohe Glaubwürdigkeit, auch wenn man vielleicht schon immer von Grenzverletzungen und Regelverstößen wusste. Als Institution galt die Kirche lange als ein ethisch-moralischer Kompass, an dem man, wenn man wollte, Orientierung finden konnte. Das ist halt vorbei. 

Woher kommt genau dieser Vertrauensverlust?

Der Vertrauensverlust hängt nicht nur oder nicht vor allem am Missbrauch selbst. Da, so glaube ich, würden sehr viele Leute sagen, das kommt auch in anderen Gesellschaftsbereichen massiv vor. Aber was die Menschen überhaupt nicht akzeptieren, und woran sie berechtigterweise die fehlende Glaubwürdigkeit festmachen, ist, dass die Führungsschicht, sprich normalerweise Bischöfe, Generalvikare und Personalverantwortliche, systematisch Missbrauch vertuscht haben, Missbrauchstäter geschützt haben, und das dann auch lange nicht zugeben wollten. 

Inwieweit ist Missbrauch eine katholische Angelegenheit?

Statistisch gesehen ist es nicht nachweisbar, dass es mehr Missbrauchstäter bei katholischen Priestern oder auch Mitarbeitern der katholischen Kirche gab als in anderen Institutionen. Wer das behauptet, kann keine objektive Studie dazu vorlegen, die alle Faktoren mit einschließen würde. Vergleichen müsste man also zum Beispiel protestantische Pastoren, orthodoxe Popen, jüdische Rabbis oder buddhistische Mönche, aber auch Trainer im Sport, Lehrer, Betreuer. Die einzige Institution, deren Hauptvertreter Gegenstand systematischer wissenschaftlicher und anderer rechtlicher Untersuchungen gewesen sind, ist die katholische Kirche. Deshalb ist die Behauptung, zölibatäre Lebensweise oder homosexuelles Verhalten im katholischen Klerus habe dazu geführt, dass es mehr Missbrauch durch Priester gab, meines Erachtens wissenschaftlich gesehen unredlich. Insofern ist das Phänomen Missbrauch keine katholische Angelegenheit.

Haben wir es also dann doch mit einer Schieflage der Debatte zu tun, wenn Priester inzwischen als besonders anfällig angesehen werden?

Die Kirche steht zu Recht am Pranger, weil sie an ihrem hohen moralischen Anspruch gescheitert ist. Aber es ist natürlich völlig falsch, das Thema Missbrauch allein bei der Kirche abzuladen. Jeder Wissenschaftler, der sich mit diesem Thema beschäftigt, weiß, dass das Problem weitaus größer ist. Die allergrößte Mehrzahl von Missbrauchstaten ist über die letzten Jahrzehnte im familiären Kontext geschehen. Und die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen im Internet hat heute Dimensionen angenommen, die alles andere in den Schatten stellt. Nehmen Sie die Fälle aus Nordrhein-Westfalen mit 40.000 einzelnen Usern. Tatsächlich ändert sich kaum etwas. Insofern hat die gesellschaftliche Debatte eine fatale Schieflage und einen zu einseitigen Fokus auf die katholische Kirche.

Ist die Kirche eine Vorreiterin für das, was die Gesellschaft auch noch leisten muss?

Sie ist gezwungermaßen Vorreiterin in dem Sinne, dass sie sich genötigt sah, Gutachten anfertigen zu lassen. Sie hat ihren Beitrag geleistet, weil viele dieser Gutachten wirklich sehr wichtige und wissenschaftlich abgesicherte Ergebnisse geliefert haben. Die Kirche ist aber sicher nicht Vorreiterin in der medialen Darstellung und leider auch nicht, was die Diskussion über die Resultate angeht. Sie ist nicht Vorreiterin bei den Konsequenzen, die in grundsätzlicher systemischer Hinsicht gezogen werden müssten. 

Sie sprechen die sogenannten systemischen Ursachen an, doch gerade diese sich anschließende innerkirchliche Reformdebatte sorgt für Konflikte. Was muss passieren?

Nicht nur die katholische Welt, beispielsweise auch die anglikanische Welt ist bei diesen Reformthemen zerrissen. Der Umgang mit Homosexualität, der Gleichberechtigung von Frauen, generell mit den Menschenrechten ist keineswegs einheitlich in der Welt, auch nicht in der säkularen Welt. Es ist das Paradox des heutigen Menschen, dass er auf der einen Seite meint, er kenne alle Länder und er sei irgendwie verbunden mit der ganzen Menschheit. Dabei übersieht er auf der anderen Seite die ganz fundamentalen Unterschiede. Mein Eindruck ist, dass Mentalitätsunterschiede hartnäckiger und Veränderungsprozesse langwieriger sind, als wir das mitunter meinen. Ich glaube, dass da Prozesse ablaufen, die evolutionspsychologisch viel tiefer verankert sind, als uns bewusst ist.

Welche systemischen Ursachen für Missbrauch aber gibt es, und welche Konsequenzen muss die Kirche ziehen?

Das ist ein weites Feld. Es fängt schon mit der Personalauswahl an und betrifft auch die Personalausbildung. Stelle ich Leute ein, die wirklich unabhängig und selbstverantwortlich denken, oder nur jene, die ins Schema passen? Das ist einer der Wurzelgründe für Klerikalismus. Übersetzt heißt Klerikalismus für mich, dass Priester meinen, dass sie aufgrund ihres Amtes über den Dingen stehen. Weil sie sich von Gott berufen fühlen, meinen manche, sich nicht mehr rechtfertigen zu müssen, sich keiner Kritik stellen zu müssen. Davon muss sich die Kirche lösen. 

Muss die Konsequenz dann sein, den Zölibat abzuschaffen, also die vorgeschriebene priesterliche Ehelosigkeit?

Das ist eine Konsequenz, die von niemandem in den wissenschaftlichen Gutachten gefordert wird. Denn der Zölibat als solches führt nicht zu Missbrauch. Das bedeutet aber nicht, dass alles unproblematisch wäre. Die zölibatäre Lebensform steht heute stark unter Druck. Wenn sie nicht aufrichtig und integriert gelebt wird, birgt sie Risiken. 

Aber noch mal bezogen auf die Strukturen, die Vertuschung und Verharmlosung in der kirchlichen Hierarchie begünstigt haben: Wäre es richtig, den Zölibat abzuschaffen und die Weihe von Frauen zuzulassen?

Es gibt keine Automatismen im Sinn von magischen Lösungen, die irgendwie alles gut machen. Wir müssen genauer hinschauen. Das hat die Studie in Münster hervorgehoben. Es geht ja nicht nur um die klerikale Führungsschicht, die nur aus Männern bestanden hat, sondern es geht auch um Männer und Frauen in den Pfarreien. Viele wussten was, haben weggeschaut und selbst Missbrauchsfälle verharmlost. Die ganze Kirche muss umdenken und lernen, nicht nur ein paar Bischöfe. Oft gibt es auch schon die entsprechenden Gesetze, sie müssten nur angewandt werden.

Manches in diesen Diskussionen berührt Kernelemente dessen, was viele bislang für absolut katholisch hielten. Was bleibt katholisch?

Es wird sich einiges ändern müssen, anderes wird bleiben. Das ist katholisch. Die Kirche hat sich immer gewandelt. Die starke Bedeutung der Bischöfe gab es früher so nicht, das muss nicht bleiben. Priester wird es immer geben, das ist auch in anderen Religionen so. Aber was einen Priester ausmacht, da werden wir auch neue Wege finden müssen. Es war keineswegs in der Kirchengeschichte so, dass immer der Priester für alles zuständig ist. Und gewiss wird man Ideen, die für Deutschland entwickelt werden, nicht einfach auf die Weltkirche ausrollen können. Vielleicht findet die Bischofssynode im Herbst Lösungen, dass sich in Zukunft in verschiedenen Ländern die Ortskirchen für den jeweiligen Kontext angemessen und auch unterschiedlich weiterentwickeln können. 

Auf der einen Seite stehen die Reformideen, auf der anderen eine Art Kulturkampf. Der Papst hat jüngst die Gender-Ideologie kritisiert. Ist das berechtigt?

Das Problem ist, dass diese Debatte natürlich dadurch belastet ist, dass die katholische Kirche inzwischen durch die Krisen ein Sprach- und Verständnisproblem hat, das zu vermitteln, was sie unter einer gesunden und integrierten Sexualität versteht. Eigentlich aber wäre es gut, wenn beim Thema Gender die Stimmen der Kirche und des Papstes mehr gehört würden. 

Was genau hat die Kirche hier beizutragen?

Wir brauchen eine abgewogene Betrachtungsweise gegen die extrem ideologisch aufgeladenen populistischen Vorstellungen von links oder rechts. Dazu gehört die Feststellung, dass wohl 99,95 Prozent der Menschen biologisch entweder Mann oder Frau sind. Die extreme Gender-Position, dass Sexualität ausschließlich ein soziales Konstrukt sei, meine ich, widerspricht tatsächlich dem christlichen Menschenbild. Der wichtigste Grund dafür ist, dass so eine Gender-Vorstellung die Körperlichkeit des Menschen völlig unterbewertet. Es ist eben nicht alles offen und frei wählbar.

Welche Gefahren sehen Sie in dieser Theorie?

Die Kirche in Deutschland hat kaum noch die Autorität, hier auf Gefahren hinzuweisen, weil sie die Glaubwürdigkeit derzeit nicht mehr hat. Aber wenn Sexualität und Geschlecht allein zu einem Spielball des freien Willens werden, dann wird es schwierig, Grenzen zu ziehen, dann wird es schwierig zu erklären, warum bestimmte Positionen nicht tragbar sind. Zum Beispiel Pädophilie: Plötzlich tauchen dann pädophile Vorlieben als mögliche, akzeptable sexuelle Orientierungen durch die Hintertür wieder in der Debatte auf. Auch in der wissenschaftlichen Debatte werden sie wieder eingeführt. Wir brauchen in der gesellschaftlichen und politischen Debatte wieder eine Position der Mitte. Dafür müsste auch die katholische Kirche sich einsetzen, so schwer das auch gerade ist.

Fragen: Volker Resing

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