Markus Söder - Team dehnbarer Freiheitsbegriff

Weil das bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit monatelang jeden Corona-Infizierten mit unbekanntem Impfstatus zu den Ungeimpften zählte, steht Markus Söder in der Kritik. Doch der bayerische Ministerpräsident ist schon wieder einen Schritt weiter und sorgt bereits anderweitig für Schlagzeilen. Söder will jetzt offenbar „Team Vorsicht“ und „Team Augenmaß“ zugleich sein.

Will „die Bevölkerung mitnehmen“: Markus Söder / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Ich mache schon länger Politik, und nie gab es so eine klare Kausalität zwischen den Entscheidungen der Politik und der tatsächlichen Bewahrung von Leben“, sagte Markus Söder (CSU) im Gespräch mit Cicero im November 2021. Und er sagte auch: „Nicht jede Maßnahme war perfekt. Aber es hat in der Summe gewirkt.“

Es ist jene Rolle, in der sich der bayerische Ministerpräsident seit Ausbruch der Corona-Pandemie gut gefällt: die des Machers, der sein Volk bewahrt vor Schaden durch das Virus, und der anderen auch gerne sagt, was sie wie hätten besser machen können und sollen im Umgang mit der Pandemie – und halt mit allem, was mit der Seuche zusammenhängt.

Nun ließe sich lange streiten über Sinn und Unsinn bestimmter Maßnahmen, über Ausgangssperren, Beherbergungsverbote oder die bisweilen schwer erträgliche Kompromisslosigkeit im Umgang mit dem Einzelhandel und der Gastronomie. Aber wie das so ist in unsicheren Zeiten wie diesen, ist jede Maßnahme auch nur Ergebnis politischer Abwägungen, eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf Basis bestimmter Zahlen. Im Falle von Sars-CoV-2 sind das bekanntlich Inzidenzwerte und Hospitalisierungsraten.

Die FDP hat nachgerechnet

Problematisch wird es deshalb vor allem, wenn Zahlen, die gewissen politischen Entscheidungen vorausgehen, falsch oder fehlerhaft sind. In Bayern gibt es deshalb schon länger Ärger um die Impfstatistik. Denn wie Recherchen der Welt und entsprechende Nachfragen der FDP-Fraktion im Bayerischen Landtag im Dezember zeigten, hat das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) monatelang Einfluss auf das statistische Verhältnis zwischen infizierten Ungeimpften und infizierten Geimpften genommen – und die Statistik damit teilweise verfälscht. Und das ging so: Jeder Corona-Infizierte, dessen Impfstatus unbekannt war, wurde einfach der Gruppe der Ungeimpften zugerechnet.

Seit wenigen Tagen sind nun auch die Rohdaten des LGL öffentlich einsehbar. Als Markus Söder zum Beispiel Anfang Dezember davon sprach, dass sich Ungeimpfte in Bayern 16-mal häufiger mit Corona infizierten als Geimpfte, war die Zahl deutlich überzogen, wie die FDP nachgerechnet haben will: Ungeimpfte seien damals nicht 16-mal häufiger infiziert gewesen, sondern nur viermal häufiger als Geimpfte. Ein gewaltiger Unterschied, vor allem, wenn man, wie Söder, im Umkehrschluss das Narrativ von der „Pandemie der Ungeimpften“ bedient und entsprechend mit dem Finger auf einen Teil der Bevölkerung zeigt.

Zwei Jahre maximale Disziplin

Inwiefern der bayerische Ministerpräsident von diesem statistischen Eingriff des LGL wusste oder ob er ihn im Sinne der Erzählung von der „Pandemie der Ungeimpften“ nur allzu gerne mitgenommen hat, wird noch zu klären sein. Klar ist, dass die Statistik zuungunsten jener verfälscht wurde, die sich nicht haben impfen lassen – auch, wenn sich das LGL anhand der Rohdaten eher darin bestätigt fühlt, dass es tendenziell richtig war, so vorzugehen und die Zahlen dann im Zuge von etwa Nachmeldungen zu korrigieren.

Kaffeesatzleserei bleibt es trotzdem, weil eben niemand seriös mit Zahlen rechnen kann, die gar nicht existieren. Nicht in Bayern und auch nicht in Hamburg, wo es Welt-Recherchen zufolge ebenfalls zu krassen Unterschieden zwischen kommunizierter und eigentlicher Inzidenz bei Ungeimpften gekommen ist.

Der Widerspruch ist offensichtlich: Von der eigenen Bevölkerung wird zahlengetrieben seit fast zwei Jahren maximale Disziplin verlangt und dass sich die Menschen an die Beschlüsse der Politik zu halten haben, egal, wie groß- oder kleingeistig diese auch sind. Gleichzeitig wird an entscheidender Stelle auf Holz geklopft – „Wird schon passen!“ – und anschließend mit Zahlen jongliert, die diesen Beschlüssen und allen Konsequenzen für die Bevölkerung, die damit einhergehen, zugrunde liegen.

Dass Markus Blume, Generalsekretär der CSU, dann auch noch Martin Hagen (FDP) vorwirft, dass der sich „langsam in die Gruppe der Verschwörungstheoretiker“ verenne, weil Hagen das unlautere Vorgehen des LGL kritisierte, setzte dem Ganzen noch die Krone auf. Und weil dem so ist, überrascht es kaum, dass manch einer – wie FDP-Vize Wolfang Kubicki in einem Interview mit Welt am Sonntag – bereits den Rücktritt von Markus Söder forderte, weil der die eigene Bevölkerung getäuscht habe. Ein entsprechender Hashtag machte derweil auf Twitter die Runde, was man den jeweiligen Nutzern nun wirklich nicht verdenken kann. 

Nun wird der bayerische Ministerpräsident freilich den Teufel tun und einer solchen Rücktrittsforderung nachkommen. Zum einen leben wir bekanntermaßen in Zeiten, in denen Rücktritte deutscher Politiker selten geworden sind. Heutzutage werden Affären und Skandale einfach ausgesessen und hinterher wird man wie Ursula von der Leyen (CDU) trotzdem EU-Kommissionspräsidentin oder deutsche Außenministerin wie Annalena Baerbock (Grüne) oder Oberbürgermeisterin von Berlin wie Franziska Giffey (SPD).

Zum zweiten sorgt Söder bereits anderweitig für neue Schlagzeilen, die die Sache mit dem LGL zunehmend überdecken. Möglich etwa, dass die von Bund und Ländern angedachte neue 2GPlus-Regel für die Gastronomie – Zutritt nur geboostert oder geimpft und getestet – in Bayern nicht kommen wird. Denn Söder fehle, heißt es, die wissenschaftliche Grundlage für eine solche Maßnahme. Selbstredend ist es eher unwahrscheinlich, dass sich am entsprechenden Wissensstand zeitnah etwas Grundlegendes ändern wird. Die Zweifel von heute sind damit die Zweifel von morgen. Und eine finale Entscheidung darüber, ob 2GPlus in Bayern kommen wird, will der bayerische Ministerpräsident bereits am Dienstag verkünden.

Doch als wäre das nicht schon Corona-Rebellentum genug von einem, der in der Vergangenheit nicht nur einmal schimpfte, die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz würden nicht weit genug gehen, sagte Söder der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf die Omikron-Variante jüngst sogar: „Vorsicht ja, aber keine Hysterie. Und keine überzogenen Maßnahmen, sondern Augenmaß. Wir müssen die Bevölkerung mitnehmen.“ Das hat schon was von Paradigmenwechsel beim CSU-Chef.

Ein neuerlicher Sinneswandel

Ausgerechnet Söder, der sich in dieser Pandemie nicht nur einmal rühmte, dass in Bayern oft konsequenter eingeschränkt wurde als anderswo im Land, scheint nun den Versöhner in sich zu suchen – und teilweise vom „Team Vorsicht“ zum „Team Augenmaß“ überzulaufen. Teilweise übrigens deshalb, weil der bayerische Ministerpräsident dennoch Tempo machen will bei der allgemeinen Impfpflicht, was – mit Blick auf die bisherigen Erkenntnisse zu Omikron, die Vielzahl der Impfdurchbrüche, aber auch mal ganz grundsätzlich – die überzogenste Maßnahme von allen wäre. Stichwort: Verhältnismäßigkeit.

„Der Freistaat Bayern heißt auch deshalb so, weil der Freiheitsbegriff für uns wichtig ist“, sagte Söder dereinst im Cicero-Interview. Das klingt erstmal gut, das klingt vernünftig, das klingt nach Demokratie und nach Rechtsstaat. Blöd nur, dass der Freiheitsbegriff, das haben die vergangenen knapp zwei Jahre eindrucksvoll gezeigt, sehr dehnbar ist – und dass Söder jetzt „Team Vorsicht“ und „Team Augenmaß“ zugleich sein will. Da kennt sich doch keiner mehr aus am Ende. Am wenigsten die rund neun Millionen Bayern, die kommendes Jahr aufgerufen sind, einen neuen Landtag zu wählen und damit indirekt auch ihren künftigen Ministerpräsidenten.

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