Schüchtert der Staat jetzt Jugendliche ein? - Das Mädchen und die Meinungsfreiheit

Eine Schülerin veröffentlicht Posts mit politischem Inhalt. Daraufhin wird sie von der Polizei ermahnt. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf den unguten Zustand, in dem sich Deutschland befindet. Nicht zuletzt geht es darum, dass Einschüchterungen Gift für die Meinungsfreiheit sind.

Die Schlümpfe haben ihre Unschuld verloren / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Was passiert ist, ist nicht vollständig klar. Das liegt auch an der hochproblematischen Informationspolitik der Bildungsverwaltung in Mecklenburg-Vorpommern. Sie tut wenig, um die Einzelheiten aufzuklären. Offizielle Begründung: Die Persönlichkeitsrechte der Schülerin sollten geschützt werden. Das ist rechtlich richtig. Gleichzeitig werden aber Informationen unter der Hand an Journalisten „durchgestochen“. Da sind Spin-Doktoren unterwegs, die Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen (wollen). Das verletzt die Persönlichkeitsrechte der Schülerin erst recht. Weil das verdeckt geschieht, kann sie sich dagegen kaum wehren.

Vieles ist aber unstrittig. Eine Schülerin an einem Gymnasium in Mecklenburg-Vorpommern veröffentlicht mehrere Posts mit politischem Inhalt auf sozialen Medien. Die Posts fallen auf und werden dem Direktor ihrer Schule gemeldet. Er sucht ein pädagogisches Gespräch mit der Schülerin und diskutiert mit ihr über die Posts? Weit gefehlt. Der Direktor meldet die Angelegenheit der Polizei. Drei uniformierte Beamte kommen zur Schule, um die Angelegenheit zu untersuchen. Sie stellen fest: Die Posts sind nicht strafbar. Jetzt verlassen sie die Schule, und der Fall ist erledigt? Nein. Die Schülerin wird aus dem Unterricht geholt und im Büro des Direktors von den Polizisten belehrt und ermahnt. Wenn ihre Posts schlimmer würden, könnte sie sich strafbar machen. Sie solle deshalb aufpassen. Erst danach verlassen die Polizisten die Schule. Sie hatten bei ihrer Aktion wahrscheinlich im Kopf, was der Präsident des Verfassungsschutzes in der Öffentlichkeit propagiert: Man müsse auch problematische Denkmuster und Verhaltensweisen in den Blick nehmen, die nicht strafbar sind. Das ist offensichtlich verfassungswidrig, zeigt aber Wirkung.

Um welche Posts es genau geht, ist nicht klar. Die Schülerin sagte in einem Interview, sie habe unter anderem ein harmloses Werbevideo der AfD mit hellblauen Schlümpfen gepostet. Aus Ermittlerkreisen heißt es allerdings, es sei um völlig andere Videos gegangen. Die Welt will erfahren haben, dass die Inhalte ausländerfeindlich und politisch rechtslastig seien. Aber kommt es auf den konkreten Inhalt der Posts überhaupt an? Sicher nicht. Entscheidend ist, dass sie keinen strafbaren Inhalt enthalten haben. Das hat die Polizei ausdrücklich bestätigt. Haben die Posts also harmlose Sprüche enthalten oder rechtsextreme Propaganda? Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist das irrelevant. Alles, was nicht strafbar ist, ist verfassungsrechtlich erlaubt. Das ist die Magna Charta der Freiheit.

Die Meinungsfreiheit – Fundament der Demokratie

Wer in sozialen Medien aktiv unterwegs ist, nimmt das Grundrecht der Meinungsfreiheit in Anspruch. Er nimmt die Verfassung ernst und tut das, was das Grundgesetz ausdrücklich schützt: Er äußert seine Meinung frei und verbreitet sie. Dieses Grundrecht ist nicht nur wichtig für die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Es ist auch essenziell für die Demokratie. Eine Demokratie lebt nur dann, wenn in ihr frei gedacht, geredet und abgestimmt werden kann. Sie braucht freie Bürger, keine braven Untertanen. Ohne Meinungsfreiheit gibt es keine Demokratie. Deshalb findet man in autoritären Staaten oder Diktaturen auch keine Meinungsfreiheit. Sie ist eine zutiefst demokratische Errungenschaft – und gefährlich für Machthaber. 

Die Meinungsfreiheit, die das Grundgesetz meint, reicht sehr weit. Die Verfassung schützt auch wertlose, dumme, unbegründete, gefährliche Meinungen. Man darf sogar – das ist die großzügige Sicht des Grundgesetzes – die Abschaffung der Demokratie fordern. So etwas hält die deutsche Demokratie aus. Sie wehrt sich dagegen durch politische Auseinandersetzung, nicht durch Unterdrückung und Verbote unliebsamer Meinungen.

 

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Völlig grenzenlos ist die Meinungsfreiheit allerdings auch in einer Demokratie nicht. Das kann sie auch gar nicht sein. Denn es gibt ja nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch andere Werte, die genauso wertvoll sind. Manchmal muss die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden, um andere Grundrechte oder den Bestand des Rechtsstaats zu schützen. Deshalb wird auch die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes im extremen Ausnahmefall durch Strafgesetze beschränkt. Die demokratisch-freiheitliche Regel ist: Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt.

Einschüchterung statt freiheitsbewusster Pädagogik

Juristisch ist der Fall der Schülerin also völlig klar. Sie hat nichts falsch gemacht. Sie war in den sozialen Medien unterwegs und hat Meinungen gepostet, die nicht dem politischen Mainstream entsprechen. Das ist in einer Demokratie natürlich erlaubt, sogar erwünscht. Trotzdem wirft der Fall Fragen auf. Was ist das für ein Lehrer und Schulleiter, der wegen eines Schülerposts die Polizei ruft? Warum sucht er nicht das pädagogische Gespräch mit der Schülerin, wenn er die Posts für problematisch hält? Ist es seine Vorstellung von Pädagogik, eine Schülerin von drei Polizisten in Uniform ermahnen zu lassen, in Zukunft vorsichtig mit ihren Meinungen zu sein? Was für eine pädagogische Bankrotterklärung. 

Auch die Polizei muss sich Fragen gefallen lassen: War der Einsatz nicht völlig unverhältnismäßig? Das ist keine banale Frage. Die Polizei – also die Staatsmacht in unmittelbarer Form – muss im Rechtsstaat immer verhältnismäßig agieren. Sonst ist ihr Handeln rechtswidrig. Auch die Bildungsverwaltung macht eine schlechte Figur. Warum gibt sie unter der Hand Informationen weiter, wenn sie doch das Persönlichkeitsrecht der Schülerin schützen will? Und gibt es wirklich eine Dienstanweisung an Lehrer, in solchen Fällen die Polizei einzuschalten? Das wird jedenfalls behauptet. Dass Schulen eng mit der Polizei zusammenarbeiten, ist hoch problematisch und weckt böse Erinnerungen.

Die Meinungsfreiheit stirbt zentimeterweise

In demokratischen Staaten ist die Meinungsfreiheit nicht durch einen Militärputsch oder einen autoritären Regimewechsel bedroht. Gefährdet ist die Meinungsfreiheit aber immer. Die Meinungsfreiheit schützt natürlich auch Minderheitsmeinungen, die dem Mainstream widersprechen. Gerade sie sind in einer lebendigen Demokratie besonders nötig. Sie stellen die Herrschaft der Mehrheit in Frage, sie geben Anstöße und fördern neue Lösungen. Aber es braucht Zivilcourage, um abweichende, unbeliebte, innovative oder irritierende Meinungen zu äußern. Damit setzt man sich in Konflikt mit der Mehrheit. Das kann beängstigend sein. Ob Meinungen frei geäußert werden, hängt deshalb nicht nur am Verfassungsrecht, sondern noch viel mehr am gesellschaftlichen Klima. Einschüchterungen sind Gift für die Meinungsfreiheit. Das hat die Corona-Pandemie in bedrückender Weise gezeigt.

Vor diesem Hintergrund ist der Fall der Schülerin in Mecklenburg-Vorpommern so bedrückend. Er zeigt, wie gesellschaftliche Einschüchterung funktioniert. Spitzenpolitikerinnen wie Nancy Faeser und Lisa Paus geben die Marschrichtung vor. Diensteifrige Beamte wie etwa der Präsident des Verfassungsschutzes oder der Direktor des Gymnasiums in Mecklenburg-Vorpommern setzen sie in den Alltag um. An einzelnen Fällen – hier der Schülerin mit ihren Posts – werden Exempel statuiert, die abschreckende Wirkung über den konkreten Fall hinaus haben. So wird das gesellschaftliche Klima vergiftet. Die Folgen zeigen sich: Nach neueren Umfragen sind nur 40% der Deutschen der Meinung, sie könnten sich frei äußern. Für eine Demokratie ist das ein erschreckender Befund. Die Freiheit – auch und gerade die Meinungsfreiheit – stirbt zentimeterweise. Und mit der Freiheit stirbt die Demokratie.

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