Pflegebündnis-Vorsitzender über Corona- und Energiekrise - „Da kommt eine humanitäre Katastrophe auf uns zu“

Baden-Württemberg vollzieht eine Kehrtwende und proklamiert die Endemie. Doch die Rufe nach Normalität lassen Gesundheitsminister Karl Lauterbach weiter kalt. In Pflegeheimen werden die Bewohner mit Infektionsschutz-Verordnungen weiter gegängelt – und nach der Corona-Krise verschärft nun auch die Energiekrise die Bedingungen. Peter Koch vom Pflegebündnis Mittelbaden über eine Branche, die wie kaum eine andere von Symptompolitik geprägt ist.

Eine ältere Frau in einem Pflegeheim kommuniziert durch eine Fensterscheibe / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

So erreichen Sie Philipp Fess:

Anzeige

Peter Koch ist Vorsitzender des Pflegebündnisses Mittelbaden, ein Zusammenschluss von rund 60 Körperschaften im Bereich der Daseinsvorsorge. Daneben leitet der gelernte Krankenpfleger ein Pflegeheim im mittelbadischen Gaggenau. In der Corona-Krise hat das Pflegebündnis mehrfach Appelle an die Politik gerichtet und Briefe an Lauterbach und seinen Vorgänger Jens Spahn (CDU) verfasst.   

Herr Koch, auf der Website des Pflegebündnisses Mittelbaden heißt es: „Ziel des Vereins ist die Förderung, Organisation und Umsetzung einer humanen, vernetzten Pflege, insbesondere soll eine bewusste Wahrnehmung der Belange pflegebedürftiger Personen und deren Angehöriger in der Gesellschaft bewirkt werden.“ Sie sind also ein Lobby-Verein?
 
Absolut. Allerdings für beide Seiten, Pflegende und Gepflegte. Außer dem deutschen Pflegerat gibt es bundesweit ja auch keine wirkliche Interessenvertretung, es ist eher ein Hauen und Stechen von vielen Einzelverbänden. Es ist aber auch schwer, alle unter einen Hut zu bekommen. Gerade zwischen der Alten- und Krankenpflege gab es schon immer große Differenzen, was die Konditionen angeht, in dem Fall auf Kosten der Altenpflege. In den vergangenen zwei Jahren bewegen sich die verschiedenen Sektoren der Pflege erfreulicherweise aufeinander zu. Und zugegebenermaßen hat sich die Arbeit in den Kliniken deutlich verändert. 

Wieso?

Der wirtschaftliche Druck wird immer stärker. Ich bin von Haus aus studierter Krankenpfleger, aber jetzt seit mehr als 20 Jahren in der Langzeitpflege. Als ich im Studium war, wurde das DRG-System [der Fallpauschalen, d. Red.] eingeführt.

Von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und ihrem „Einflüsterer“ (Spiegel) Karl Lauterbach.

Genau. Da war schon klar, wo die Reise hingeht. Ich habe den Beruf aber ausgesucht, weil ich gerne mit Menschen zu tun habe. Und diese soziale Komponente kam mir damals in der Klinik schon zu kurz.

Wenn Sie an die vergangenen zwei Jahre denken: Ist die Politik dem Ziel Ihres Vereins da entgegengekommen, oder blieb es bei Lippenbekentnissen?

Die Politik hat schon Einfluss genommen, zumindest noch unter der GroKo. Die große Barriere in Bezug auf eine gerechte Entlohnung war ja die Tarifautonomie. Hubertus Heils Pflege-Tariftreue-Gesetz, das seit 1. September 2022 gilt und quasi einem Tarifvertrag entspricht, war da ein großer Fortschritt. In der Vergütung lag die Altenpflege bei vielen Einrichtungen 30 Prozent unter der Krankenpflege. Mit der Verpflichtung, in Höhe eines Tariflohns zu zahlen, ist die Politik den Forderungen der Verbände nachgekommen – auch wenn wir im Vergleich zum industriellen Bereich noch deutlich unter dem von uns geforderten Einstiegsgehalt von 4000 Euro für Pflegefachpersonen liegen. Das Problem ist, das eine zweite Forderung, die auch wir schon vor anderthalb Jahren gestellt hatten, vernachlässigt wurde.

Und zwar?

Peter Koch / Pflegebündnis Mittelbaden

Die Refinanzierung zu sichern. Man hat die Entlohnung geändert, aber nichts für die Menschen, die die Leistung in Anspruch nehmen müssen. Gerade im Osten ist die Pflege dadurch für viele unerschwinglich geworden. Für die Kollegen aus dem ambulanten Segment ist die Situation fatal: Die Personalkosten sind um 30 Prozent gestiegen, es gab aber noch keine Möglichkeit, die Preise gegenüber dem Kunden zu erhöhen, das passiert immer in Verhandlung mit den Pflegekassen und dem Sozialhilfeträger. Viele private kleinere Pflegedienste machen jetzt gerade enorme Verluste. Inhabergeführte Unternehmen, die jahrelang da waren, müssen jetzt schließen.

Also hat die Politik nur Symptome bekämpft?

Ja, gerade im Gesundheitswesen wird leider viel mit Symbolpolitik und Beschwichtigung gearbeitet. Das Thema [Refinanzierungs-Defizit] zieht sich durch alle Bereiche, man wollte immer alles rauspressen aus den Einrichtungen. DRG, was hat das gebracht? Die Pflege wurde nur als Kostenfaktor gesehen, die dem Gewinn der Klinikbetriebe im Weg steht. Der ärztliche Dienst wurde weiter ausgebaut, und jetzt haben wir nicht genug Kolleginnen und Kollegen. Wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, weil viele keine Lust mehr auf den Beruf haben, bringen auch Aktionen wie Spahns Versprechen, 20.000 neue Stellen zu finanzieren, nichts. Und seit Corona hauen immer mehr Leute ab. Dabei gibt es seit 2016 echte Konzepte für eine Pflegereform, die wir unterstützen. Stattdessen wurde viel Geld verbrannt, ob mit Impfdosen oder Paxlovid, das wir verpflichtet sind, im stationären Bereich vorzuhalten ...

... das verschreibungspflichtige Pfizer-Medikament, für das Lauterbach das Heilmittelwerbegesetz aufgeweicht hat und Geldanreize an Ärzte zahlt.

Genau. Das macht der Hygieneverantwortliche für Covid-19, den jedes Pflegeheim seit 2020 benennen muss. Diese Person muss dann den Hausärzten auf die Finger klopfen, dass sie Patienten impfen und genügend Medikamente bereithalten. Positiv daran ist: Das wird extra vergütet. Das Problem ist: Das macht ja schon jetzt jemand aus der regulären Belegschaft. Wenn ich den also vergüte, fehlt mir jemand, den ich mit dem normalen Budget stützen muss. Es hilft uns also wenig, aber die Politik kann wieder sagen „Wir haben was gemacht“. 

Im Januar 2022 haben Sie wegen der „Personalflucht“ auch einen offenen Brief an Karl Lauterbach geschrieben – und sich darin auch gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht ausgesprochen. Haben Sie eigentlich eine Antwort bekommen?

Ja, von seiner Pflegebevollmächtigten, jedoch ohne wirklichen Einsichtswillen erkennen zu lassen. Was die Impfpflicht angeht: In unserem Brief haben wir uns nicht per se dagegen ausgesprochen, im Gegenteil: Als Pflegekraft „an vorderster Front“ ist das für mich eine Selbstverständlichkeit, auch wenn ich nie jemanden dazu zwingen würde. Nein, es ging darum, dass wir uns auch als Vorhut für eine allgemeine Impfpflicht gesehen haben, die beschlossen werden sollte. Wie Sie wissen, ist das ja nie geschehen. Das war ein Schlag ins Gesicht, gerade weil wir jede Kraft dringend brauchen. Und mittlerweile haben sich die Rahmenbedingungen ja kolossal verändert. Es hieß, die Impfung schützt vor Infektion, Fakt ist aber, dass wir in allen Einrichtungen positive Fälle hatten, ich selbst hatte schon zweimal Corona. Spätestens bei Omikron hätte man sagen müssen, wir lassen das. Auch die Landesminister fordern das ja. Der einzige, der noch daran glaubt, ist Karl Lauterbach.

Dazu kommt jetzt die Energiekrise. Wie andere Verbände hat auch Ihr Pflegebündnis Ende vergangenen Monats vor einem Versorgungskollaps gewarnt.
 
Ja, das ist auch eine reale Gefahr. Die Eigenanteile liegen jetzt schon bei über 2000 Euro, und dazu kommen jetzt auch noch die teuren Energie- und Lebensmittelpreise. Da sind wir schnell bei mehreren hundert Euro pro Monat. Die Vorausberechnungen von unserem Energieversorger sehen eine Preissteigerung von 300 Prozent vor. Alleine für die Einrichtungen der Gaggenauer Altenhilfe, die ich leite, ist das insgesamt eine halbe Million.

Bedeutet?

Eigentlich müssten wir dringend die Preise anheben. Aber die Sozialhilfeträger und die Pflegekasse sagen „Ihr kriegt nicht mehr“. Wenn ich ein Restaurant habe oder Bäcker bin, kann ich meinen Betrieb schließen. Mit einer Klinik – oder einem Pflegeheim – geht das nicht. Es sterben schon Menschen in unserem Land, weil sie keine Versorgung mehr bekommen, das berichten mir zum Beispiel Kollegen aus der Palliativversorgung. Wenn wir jetzt noch unsere Daseinsvorsorge zusätzlich in Schieflage bringen, dann kommt da eine humanitäre Katastrophe auf uns zu.

 

Mehr zum Thema:

 

Inwiefern geht Lauterbach Ihrer Meinung nach die drängenden Probleme des deutschen Gesundheitswesens an? Er musste sich ja als „Corona-Minister“ viel Kritik anhören.

Ich sehe das genauso, Lauterbach fixiert sich auf nichts so stark wie auf Corona und lebt diesbezüglich in einer anderen Welt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im neuen Infektionsschutzgesetz steht, dass Bewohner von Pflegeheimen Maske tragen sollen. Das ist fernab der Lebensrealität der Menschen, entschuldigen Sie, aber: völlig gaga. Gerade während der Lockdowns, die besonders bei den 50 bis 70 Prozent der dementiell veränderten Bewohner Spuren hinterlassen haben, aber auch bei den Pflegekräften, die teilweise psychisch krank wurden, aus Angst, jemanden zu infizieren, haben wir immer geschaut, dass die Leute sich begegnen, sonst wären sie kaputtgegangen. Bei Sterbefällen haben wir immer die Angehörigen eingeschleust. Deshalb werden wir das Gesetz nicht umsetzen. Wir werden dagegen verstoßen, weil es Unsinn ist. Meiner Meinung nach fügt man mit solchen Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht auch unserer Demokratie schweren Schaden zu.

Am 21. September war der Landesgesundheitsminister zu Gast. Haben Sie dem Ihre Bedenken nicht auch vorgetragen?

Doch, natürlich. In Baden-Württemberg sieht man das auch eindeutig als unpraktikabel, die Verantwortlichen haben es in dieser Bund-Länder-Konferenz aber offensichtlich nicht geschafft, Lauterbach zu überzeugen. 

Wenn Sie zurückdenken an die letzten beiden Jahre und die Art, wie der Umgang mit Corona kommuniziert wurde – die Ächtung von Impfskeptikern, unverlässliche Inzidenz- bzw. Hospitalisierungszahlen, die ignorierten Kollateralschäden an Schulen und Pflegeheimen wie Ihrem –, würden Sie dann anders handeln?

Was die Lockdowns angeht: Wenn es noch einmal so eine Situation gäbe, in der man nicht genau weiß, was auf einen zukommt, würde ich es wieder tun. Aus Sorge um die mir anvertrauten Menschen. Aber mit der Erfahrung von heute würde ich es nicht mehr machen. Die Politik hat uns an vielen Ecken einen Bärendienst erwiesen, einige waren da sehr radikal unterwegs. Ich glaube, man hat sich leider Gottes bei vielen Entscheidungen nicht von der Evidenz leiten lassen, sondern von der öffentlichen Meinung und politischer Opportunität. Ich erinnere mich zum Beispiel auch an die RKI-Empfehlung, FFP2-Masken in den Backofen zu legen, um sie wieder anziehen zu können.

Teilweise schien sogar jedwede Kritik verboten. Ich erinnere an den Geschäftsführer der Acura-Kliniken Baden-Baden, Mitglied Ihres Bündnisses, der für den Vergleich von Corona mit der Grippe (wohlgemerkt nach Manfred Lucha) in der Lokalpresse geschmäht wurde.

Insgesamt muss man feststellen, dass unsere Diskussionskultur sehr gelitten hat. Gerade bei so einschneidenden Themen muss man auch mal Meinungen diskutieren, die nicht dem Mainstream entsprechen. Da hat die Presse schon dazu beigetragen, dass viele nur in eine Richtung gedacht haben. Wir hatten Menschen sowohl mit Impfproblemen als auch mit Long Covid, es lief nicht nur alles nach dem Motto: Nach der Impfung ist wieder alles schick.

Wie geht es jetzt weiter? Trotz Endemie ist die Normalität in den deutschen Pflegeheimen noch lange nicht in Sicht, oder?

Ohne Test kommt niemand in unsere Häuser. Auch die Belegschaft testet sich nach wie vor dreimal die Woche. Wir mussten am Anfang ja jeden kontrollieren, jetzt sind wir nur noch zu Stichproben verpflichtet. Das machen wir mit einem externen Dienstleister, wir zahlen das aus eigener Kasse. Seit dem ersten Juli ist der Pflegerettungsschirm ausgelaufen, und wir müssen die Schutzausrüstung aus dem laufenden Budget zahlen. Hier muss den Einrichtungen dringend unter die Arme gegriffen werden. Ich plädiere auch dafür, diese Dauertesterei wegzulassen und wieder auf die Einschätzung von uns Profis zu vertrauen. Ich bin ja auch nicht der verlängerte Arm vom Gesundheitsamt. Wir werden von Staats wegen immer wieder kontrolliert, gleichzeitig werden uns aber nicht die Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt, um ordentliche Arbeit machen zu können. Das ist ein verlogenes System, wir müssen diese Misstrauenskultur endlich überwinden.

Das Gespräch führte Philipp Fess.

Anzeige