Lambrecht geht, Pistorius kommt - Die Bundeswehr à la carte hat ausgedient

Der Fall Christine Lambrecht verdeutlicht gleich ein mehrfaches Dilemma deutscher Sicherheitspolitik, und er zeigt zugleich, wie dringend geboten ein grundlegendes Umsteuern ist. Denn Deutschlands Soldaten müssen sich wieder auf die Staatsführung verlassen können.

In der Slowakei stationierte Bundeswehrsoldaten / dpa
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Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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In der Geschichte der Rücktritte der Bundesrepublik Deutschland nimmt derjenige von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht eine besondere Rolle ein. Die von der Ministerin im Rücktrittsschreiben gewählte Formulierung von der „medialen Fokussierung auf ihre Person“ ist eine durchsichtige Mystifikation und fügt sich in das mediale Kommunikationsdesaster, das die gesamten 13 Monate ihrer Amtszeit geprägt hat.

Christine Lambrecht ist nicht wegen eines Aufsehen erregenden Skandals oder einer gravierenden personellen Fehlentscheidung, sondern in der Konsequenz eines in allen Bereichen ihrer Amtsführung erwiesenen Unvermögens von ihrem Amt zurückgetreten, dem sie zu keinem Zeitpunkt gewachsen gewesen ist. Dieses Scheitern wirft Fragen nach der Personalauswahl in unserem politischen System und zugleich nach der Stellung des Verteidigungsressorts im politischen Gesamtgefüge auf.

Eine schlechte Behandlung

Die in die Länge gezogene Suche nach einem Nachfolger und die diese Suche begleitenden Personaldiskussionen unterstreichen dies. Wo die von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete Zeitenwende als Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, der damit grundlegend veränderten gesamtpolitischen Lage sowie der in der Folge gewachsenen Bedrohung es hätten erwarten lassen, dass Verteidigung im deutschen System an Wert und Bedeutung gewinnen, ist das Gegenteil eingetreten.

Christine Lambrechts Amtsführung und die mit ihrer Kommunikation verbundenen öffentlichen Diskussionen haben dem Ansehen Deutschlands im Ausland geschadet und den Streitkräften nicht gutgetan. Bundeskanzler Willy Brandt hat einst im Vorwort zum Weissbuch 1971/72 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr geschrieben: „Die Soldaten der Bundeswehr dienen dem Frieden. Den Frieden und die Freiheit zu sichern ist wichtigste Aufgabe unserer Politik.“

Daran gemessen ist der Dienst in den Streitkräften vor allem in den letzten 13 Monaten – aber auch schon zuvor – von der Staatsführung schlecht behandelt worden. Daran kann auch nicht ändern, dass zentrale Entscheidungen zu Streitkräftefragen und zu Waffenlieferungen im Bundeskanzleramt getroffen worden sind. Der Fall Christine Lambrecht verdeutlicht gleich ein mehrfaches Dilemma deutscher Sicherheitspolitik, und er zeigt zugleich, wie tiefgreifend ihr Nachfolger ein grundlegendes Umsteuern angehen muss. 

Ein Instrument der Politik

In den deutschen Streitkräften ist auch ein gesellschaftlicher Wandel sichtbar geworden, der auf absehbare Zeit die politische ebenso wie die Streitkräfteführung mit erhöhten Anforderungen konfrontiert und in seiner Dimension noch gar nicht hinreichend verstanden worden ist. Die Soldaten können ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie sich darauf verlassen können, dass Staatsführung, Öffentlichkeit und Gesellschaft diese Aufgabe anerkennen und den Soldaten in die Gesellschaft integrieren.
 

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Dies heißt, die Belastungen des Dienstes zu kennen, aber auch zu wissen, dass es Grenzen für die Vergleichbarkeit des Soldatenberufs mit zivilen Berufen gibt. Die Bundeswehr ist ein Instrument der Politik und wurde in den vergangenen Jahren durch die Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Wahrnehmung der deutschen Verpflichtungen im Bündnis arg strapaziert. Die bisweilen mangelhafte Ausrüstung mit militärischem Gerät, politisch verordnete Umstrukturierungen, steckengebliebene Reformen und wiederkehrende öffentliche Debatten haben viele Angehörige der Streitkräfte zermürbt, das Vertrauen in die politische Führung arg strapaziert.

Kein Wunder, dass die Attraktivität des Dienstes dadurch gelitten hat. Im Transformationsstakkato der letzten Jahre wurde den Streitkräften politisch mehr zugemutet als dem inneren Gefüge guttat. Der innere Zustand der Streitkräfte und das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft in Deutschland hängen zusammen. 

Wahrheiten endlich anerkennen

Für den Soldaten bedeutet die Einsatzwirklichkeit, dass die Realität des Kampfes zum Alltag dazugehört. Lange haben sich viele in Deutschland selbst in den Streitkräften schwergetan, diese Wahrheiten anzuerkennen. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb es in Deutschland lange gedauert hat, bis die Begriffe „Krieg, Kriegsähnliche Zustände und Gefallene“ Eingang in den offiziellen Sprachgebrauch gefunden haben.

Streitkräftefragen stehen zwar immer wieder im Zentrum von politischen Debatten in Deutschland, doch von einem echten Interesse der deutschen Gesellschaft an der Bundeswehr – geschweige denn von einer entsprechenden Würdigung und Anerkennung des Dienstes in den deutschen Streitkräften – kann nicht die Rede sein.

Ein distanziertes, bisweilen auch misstrauisches, zumindest aber zurückhaltendes Verhältnis von Staat und Gesellschaft dem Militärischen gegenüber hat in Deutschland seine Wurzeln in der deutschen Historie. In der fast 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik haben sich jene historisch begründeten Verhaltensweisen so sehr ins allgemeine Bewusstsein eingeprägt, dass man sich an eine Bundeswehr à la carte gewöhnt hatte, die nur punktuell im öffentlichen Raum auftrat.

Eine neue Bedeutung der Streitkräfte

Vor dem Hintergrund einer veränderten Sicherheitslage und einer neuen Bedeutung der Rolle von Streitkräfte für die Sicherung der Grundlagen unseres demokratischen Gemeinwesens, wäre es angezeigt, eine politische Initiative zu starten, die darauf zielt, die Bedingungen für den Dienst in den Streitkräften signifikant zu verbessern und das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Streitkräften, Staatsführung und Gesellschaft landauf landab zu stärken.

Mit Townhall Meetings zur Sicherheitspolitik wird dies nicht gelingen. Das zögernde Agieren Deutschlands mit Blick auf Waffenlieferungen an die Ukraine, die nur scheibenweise Korrektur längst unhaltbarer Positionen und fortgesetzte Materialengpässe schaden Deutschlands Rolle im Bündnis. Wir sind nach außen umso stärker, je mehr wir im Inneren gefestigt sind (Willy Brandt). Zu diesem Innenteil zählt Klarheit über Grenzen, aber auch Möglichkeiten, die uns Grundgesetz und Völkerrecht geben, über die Notwendigkeit parlamentarischer Kontrolle und ein Werben für ein breiteres strategisches Grundverständnis in diesem Land.

Wandel aus der Perspektive der Soldaten

Die Wahrnehmung unserer nationalen Sicherheitsinteressen erfolgt nicht nur, aber ganz wesentlich auch im Nordatlantischen Bündnis. Bündnistreue und Bündnispflichten liegen beieinander. Im Bündnis gestalten zu wollen, erfordert eine klare Analyse der strategischen Lage und eine Vorstellung über die eigenen Ziele, auch eine Anpassung an die ständig sich wandelnden Erfordernisse des Bündnisses.

Das Bundesministerium der Verteidigung aber hat unter Christine Lambrecht bei der Ausarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie auf die Federführung verzichtet, die das Haus seit 1969 bei der Erstellung der Weissbücher zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der Bundeswehr innehatte. Damit ist eine entscheidende Möglichkeit vertan worden, im Verständnis einer gemeinsamen Strategie Diplomatie und Militärführung zusammen zu denken und den überfälligen strategischen Wandel aus der Perspektive der Streitkräfte heraus zu gestalten.

Wenn das Bundesministerium der Verteidigung im Gesamtgefüge der Ressorts unter Christine Lambrecht weiter an Gewicht verloren hat, so liegt dies nicht zuletzt auch daran, dass sie nie den Anspruch erhoben hatte, kraftvoll den Kompetenzbereich, das Ineinandergreifen von zivilen und militärischen Kompetenzbereichen, die unterschiedliche Führungskultur von militärischen Stäben und ministeriellen Abteilungen aus einer Hand zu gestalten.

Abgrenzungen und Informationsblockaden

Helmut Schmidt hatte bereits 1971 die Führungsorganisation des Bundesministeriums der Verteidigung als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet und die „Spitzengliederung des Ministeriums und die Kompetenzabgrenzung innerhalb des Hauses als unzweckmäßig und zum Teil von früheren Prestigebetonten Kompetenzstreitigkeiten zwischen zivilen und militärischen Abteilungen geprägt“ kritisiert. Viele unvollendet gebliebene Reformen haben sich seitdem an einer Auflösung versucht. Die Schwerfälligkeit, die immer wieder auch zu Fehlleistungen und Versäumnissen der gesamten Bundeswehr geführt hat, bedrückt die Truppe bis heute in hohem Maße und führt zu einer sich immer weiter verbreiternden Enttäuschung. 
 

Cicero Politik Podcast mit Guido Steinberg
„Wir haben das strategische Denken verlernt“


Fehler der Führungsorganisation führen zu Abgrenzungen und Informationsblockaden. Eine nicht ausgeprägte Kultur des Vertrauens führt dazu, dass Fehler vertuscht werden, und hinter dem großen Ganzen öffnen sich verdeckte Systeme mit eigenen Agenden und doppelten Loyalitäten. Dies führt auch dazu, dass immer wieder vertrauliche Information aus den inneren Zirkeln des Ministeriums nach außen durchsickern und im Resultat nur weiteres Misstrauen und Abschottung der politischen Leitung hervorrufen.

Nur mehr Bürokratie geschaffen

Reformen der vergangenen Jahre, im Ausrüstungsbereich zumal, haben indes mehr Bürokratie geschaffen und weiteres Absicherungsdenken hervorgerufen. Grundlegende Strukturfragen der ministeriellen Führung, insbesondere mit Blick auf Informationswege und eine politisch-militärische Gesamtbetrachtung, sind bis heute ungelöst. Lange Zeit war es in Deutschland kommod, beim Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik der Nichts-als-Zivilmacht zu huldigen und eine Kultur der Zurückhaltung zu predigen. Der Konsens, dass Streitkräfte ein konstitutives Element des Staates sind, geriet darüber bisweilen in Vergessenheit.

Diesen Dienst können Streitkräfte am besten erfüllen, wenn ihre Leistungen anerkannt werden. Voraussetzung für Anerkennung allerdings sind Verständnis und Einsicht in die Grundprobleme des Dienstes und ein Verständnis für politische Gestaltung im Bündnis. Auf den neuen Minister Boris Pistorius kommen daher große Aufgaben zu. Er wird sie nur bewältigen können, wenn Staatsführung – allen voran der Bundeskanzler mit seiner Richtlinienkompetenz – und der Deutsche Bundestag in seiner Verantwortung für die Streitkräfte, aber auch die Gesellschaft als Ganzes, die Einsicht in die Defizitanalyse teilen und ihn dabei unterstützen. Es ist Zeit zum Handeln. 

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