Migration - Ändert unsere Politik!

Die Zuwanderung über das Asylsystem ist so ungeordnet, dass sie auch nicht humanitär ist. Wir brauchen ein neues System, das Humanität durch Regulierung schafft. Fürsorge, Vulnerabilität, Sicherheit und Lebenswirklichkeit müssen dabei wichtige Kriterien sein.

Migranten gehen im Hafen von Salerno von Bord eines Such- und Rettungsschiffs / dpa
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Autoreninfo

Kristian Klinck ist Bundestagsabgeordneter, Mitglied im Verteidigungsausschuss, Mitglied in der Arbeitsgruppe Migration und Integration der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Ad hoc Committee on Migration der OSZE-Parlamentarierversammlung.

 

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Alle Menschen in Deutschland brauchen Bildung, Ausbildung, Wohnraum und Sicherheit. Der deutsche Staat hat eine Fürsorgepflicht für geflüchtete Personen, die bei uns einen Schutzstatus erhalten. Gleichzeitig muss dieses Fürsorgeversprechen für die eigene Bevölkerung gelten. Deutschland kommt dieser Fürsorgepflicht nicht mehr ausreichend nach.

Die Zahl der ankommenden Personen bringt die Kommunen an den Rand des Machbaren und darüber hinaus. Eine Überlastung des Wohnungsmarkts, von Schulen und Kitas und des Gesundheitssystems ist deutlich zu erkennen. Zur Stabilisierung sind massive Investitionen erforderlich, die sich nur langfristig realisieren lassen. Für eine aktive Integrationspolitik, die auf Spracherwerb und berufliche Eingliederung setzt, fehlen zunehmend die Kapazitäten.

Eine große Orientierungslosigkeit

Der Bund gibt in diesem Jahr voraussichtlich etwa 27 Milliarden Euro für geflüchtete Personen und Asylbewerber aus. Gleichzeitig ringen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in diesen Wochen um 20 Millionen Euro für die „Respekt Coaches“. Die „Respekt Coaches“ sind Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die in Schulen demokratische Werte und Normen vermitteln und für Toleranz eintreten sollen.

Auch aufgrund der – in der jetzigen geopolitischen Situation falschen – strikten Auslegung der Schuldenbremse wird das Projekt zum Jahresende auslaufen, wenn der Haushaltausschuss nicht doch noch eine Lösung findet. Dabei besteht bei vielen Jugendlichen angesichts der terroristischen Angriffe der Hamas eine große Orientierungslosigkeit, und die Coaches werden dringend benötigt.

Unser Defizit bei der politischen Regulierung von Migration erschwert zunehmend Investitionen in den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das ist kein gutes Zeichen. Die Diskussion über Migration wird zu wenig unter dem Aspekt der Sicherheit der Menschen in Deutschland geführt – dazu zählen neben Deutschen auch viele Migrantinnen und Migranten –, und auch zu wenig unter Berücksichtigung ihrer Lebensrealität. Es werden politische Konflikte der Herkunftsländer bei uns ausgetragen. Es gibt Straftaten und Bandenkriminalität. Eine Überlastung unseres Bildungswesens und unserer Infrastruktur trifft vor allem Menschen mit geringem Einkommen und in schwieriger sozialer Lage.

Zurück zum Erfolgsmodell der regulierten Migration

Die Migrationspolitik der Ära Merkel hat unser Land in eine schwere Belastungsprobe geführt. Das ist auch deswegen fatal, weil Deutschland grundsätzlich Zuwanderung braucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ernsthaft glaubt, beispielsweise unser Gesundheitssystem ohne ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufrechterhalten zu können.

Die überwiegend regulierte Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Erfolgsgeschichte. Viele Deutsche mit türkischem Familienhintergrund sind Stützen unserer Gesellschaft. Die große Mehrheit der Russlanddeutschen lebt vorbildlich integriert im eigenen Haus. Zu diesem Modell müssen wir wieder zurück. Dazu brauchen wir eine Refokussierung unserer Migrationspolitik – weg von der Einwanderung über das Asylsystem und hin zur Gewinnung von Fachkräften.

Gleichzeitig gibt es eine humanitäre Verpflichtung gegenüber Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Diese Verpflichtung ist nicht verhandelbar, und auch in ihrem Sinne muss Deutschland seine Politik ändern. Denn auch wir sind es, die die Menschen, die am Rande unseres Kontinents warten, dazu verleiten, sich auf den gefährlichen Weg nach Europa zu machen, auf dem viele von ihnen dann – meiner Überzeugung nach mit heimlicher Billigung von Teilen der Politik! – umkommen.

Unser System ist nicht humanitär

Der deutsche Staat erlaubt jeder einreisenden Person das Stellen eines Asylantrags und erteilt bei Vorliegen der Voraussetzungen einen Aufenthaltstitel. Gleichzeitig bestand die europäische und ja, auch die deutsche politische Reaktion auf gestiegene Einreisezahlen lange Zeit darin, die Fluchtrouten schwerer begehbar zu machen und nach Möglichkeit ganz zu schließen. Unser angeblich humanitäres System wird nur durch Zäune, Stacheldraht, Push-Backs und Schurkenstaaten noch aufrechterhalten.

Das Mittelmeer war einst die Wiege der europäischen Zivilisation. Nun ist es ein Massengrab. Die deutsche Migrationspolitik hat zur Entstehung eines brutalen, sozialdarwinistischen Systems beigetragen: Nach Europa kommt, wer stark ist. Wer vulnerabel ist, hat wesentlich geringere Chancen, zu uns zu kommen.

Durch den Versuch, die Fluchtrouten abzuriegeln, haben Deutschland und Europa ein weiteres Problem geschaffen, nämlich das unausgewogene Alters- und Geschlechterverhältnis der ankommenden Personen. Denn Familien oder Gemeinschaften schicken oftmals diejenige Person auf die Reise, der sie es am ehesten zutrauen, die gefährliche Route zu bewältigen, und das ist meistens ein lebensjüngerer Mann.

 

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Ja, das deutsche Asylverfahren ist das objektivste der Welt. Das ist eine Errungenschaft. Und ja, es gibt zahlreiche Erfolgsgeschichten. Viele Geflüchtete sind gut in Deutschland angekommen, haben sich integriert und arbeiten. Sie sind ein Teil unserer Gemeinschaft, und wir begrüßen sie in unserer Mitte. Doch insgesamt hat die deutsche Migrationspolitik es nicht verdient, mit humanitären Argumenten verteidigt zu werden.

Die Zuwanderung über das Asylsystem ist so ungeordnet, dass sie auch nicht humanitär ist. Und: Unsere Politik wird mittlerweile von den Feinden der Demokratie gegen uns eingesetzt. Hinter vielen Flüchtlingsbewegungen der letzten Monate steht Putin. Sein Ziel ist die Destabilisierung Deutschlands. Unsere Migrationspolitik macht uns angreifbar. Wir müssen sie ändern.

Humanität durch Regulierung schaffen

Ein Drehen an einzelnen Stellschrauben hilft nicht mehr weiter. Weder durch das (sinnvolle) Ausweisen weiterer sicherer Herkunftsstaaten noch durch eine (alles in allem ebenfalls sinnvolle) Bezahlkarte werden wir die Dimensionen der vor uns liegenden Herausforderung in den Griff bekommen. Grenzen zu schützen ist gut – ohne Grenzen gibt es keinen Staat –, es wird aber bei der jetzigen Rechtslage die Zahl der Asylanträge nicht senken.

Fluchtursachen zu bekämpfen ist richtig, wird aber Jahrzehnte dauern. Mehr noch: Eine zentrale Fluchtursache sind wir selbst. Wir erwecken bei vielen Menschen die Hoffnung, über einen Asylantrag einen Aufenthaltstitel in Deutschland zu bekommen. Das ist das Strukturproblem, welches die deutsche und europäische Politik – leider – immer wieder durch ethisch inakzeptables Handeln zu kompensieren versucht. Unser System funktioniert nicht mehr. Es verletzt täglich die Menschenwürde. Wir brauchen ein neues System, das sowohl geordnet als auch humanitär ist.

Rückführungen müssen funktionieren

Wie kann ein solches System aussehen? Aufgrund der unterschiedlichen Motivationen und Interessenlagen aller Beteiligten wird es wohl nie eine perfekte Lösung geben. Wahrscheinlich kann nur ein Kompromiss Ergebnisse erzielen, und Verbesserungen müssen Schritt für Schritt erfolgen. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem ist ein solcher Schritt nach vorne.

Durch das GEAS werden die Asylanträge derjenigen Menschen, die, wenn überhaupt, dann nur über ein Regelwerk der Arbeitsmigration nach Europa einwandern sollten, an den europäischen Außengrenzen bearbeitet. In Verbindung mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Ampel bietet das GEAS das Potential, viele Menschen auf einen regulären Migrationsweg nach Deutschland auszurichten. Es war richtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz die deutsche Zustimmung zum GEAS durchgesetzt hat.

Darüber hinaus gilt: Jede Migrationspolitik scheitert, wenn die Rückführung von Personen ohne Aufenthaltstitel nicht gelingt. Wenn Personen bereits lange geduldet sind, kann ein Bleiberecht beispielsweise durch das Chancenaufenthaltsrecht durchaus das Ergebnis pflichtgemäßen staatlichen Ermessens sein – besonders offenkundig ist dies bei Menschen in Ausbildung oder im Berufsleben. Doch in Zukunft muss es vermieden werden, dass eigentlich ausreisepflichtige Personen über einen langen Zeitraum in Deutschland bleiben.

Gerade eine Politik, die Humanität durch Regulierung schaffen will, ist auf funktionierende Rückführungen angewiesen. Hier brauchen wir eine gemeinsame Kraftanstrengung des Bundes, der Länder und der Kommunen. Einreisende Personen ohne Bleibeperspektive müssen in den Gemeinschaftsunterkünften der Länder verbleiben und direkt aus diesen zurückgeführt werden. Dafür ist die Schlagzahl bei der Vereinbarung von Rücknahmeabkommen deutlich zu erhöhen.

Ehrlichkeit statt unerfüllbarer Erwartungen

Noch besser wäre es, wenn Personen, die keine Bleibeperspektive haben, sich gar nicht erst auf den Weg nach Europa machen würden. Dies erfordert vor allem eine klare Kommunikation darüber, wer ein Aufenthaltsrecht erhalten kann und wer nicht. Und an dieser Stelle sollten wir den Gedanken einer besseren Regulierung von Migration konsequent zu Ende denken.

Die Flüchtlingssituation innerhalb Europas wird mittlerweile fast ausschließlich von Deutschland und wenigen weiteren Ländern bewältigt, da sich immer mehr Länder aus der Aufnahme geflüchteter Personen zurückziehen oder für diese nicht attraktiv sind. Dieser Zustand wird sich auch durch das GEAS nicht wesentlich ändern. Wir sollten ehrlich zu uns selbst sein: Auch die Zahl neu einreisender Menschen, deren Heimatländer von politischer Instabilität oder Gewaltherrschaft betroffen sind, übersteigt unsere Kapazitäten. Das gilt umso mehr dann, wenn wir die Personen, die einen Aufenthaltsstatus erhalten, gut integrieren wollen.

Der Satz „Wir können nicht alle aufnehmen“ ist genauso unpassend wie der Satz „Wir können das Klima nicht allein retten“, da niemand erwartet, dass wir alle Geflüchteten aufnehmen. Aber wir sollten es dann auch nicht von uns selbst erwarten. Das deutsche Asylverfahren ist nicht das geeignete Rechtsinstitut für Menschen, die über ein System der Arbeitsmigration nach Europa einreisen sollten, und es ist meiner Auffassung nach auch nicht das richtige Rechtsinstitut für Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind und am Rande der Krisengebiete schlecht versorgt, aber in relativer Sicherheit ausharren.

Der zivilisatorische Wert des Asylverfahrens besteht darin, diejenigen Menschen zu schützen, denen aufgrund für sie unverfügbarer Merkmale durch ihren Heimatstaat Rechtsverletzungen zugefügt werden, die sie in eine ausweglose Lage bringen. Dieser Kern des Asylrechts muss verteidigt werden, und dabei ist durchaus die Frage erlaubt, warum ein solcher Antrag nicht im Ausland gestellt werden kann.

Humanitäre Aufnahmekontingente

Weder im Asylkompromiss 1993 noch danach ist es gelungen, den heute gegenüber dem Asyl zahlenmäßig viel bedeutenderen Sachverhalt Flucht ausreichend zu regeln. Dieses Strukturproblem sollten wir heilen. Wir sollten zukünftig für jedes Jahr ein Aufnahmekontingent aus humanitären Gründen festlegen, idealerweise auf europäischer Ebene, ansonsten für Deutschland.

Einen Aufenthaltstitel als anerkannter Flüchtling oder aufgrund subsidiären Schutzes sollte nur erhalten können, wer Teil des Kontingents ist. Die Auswahl der Kontingentflüchtlinge erfolgt unter Einbeziehung der Vereinten Nationen in der Nähe der Krisengebiete. Wesentliche Kriterien sollten die Vulnerabilität sowie ein ausgewogenes Alters- und Geschlechterverhältnis sein. Es muss nach menschlichem Ermessen sichergestellt sein, dass von den ausgewählten Personen keine Gefahr für unsere innere Sicherheit ausgeht. Die Kontingentflüchtlinge werden direkt nach Deutschland überführt.

Anstelle einer inhumanen Auswahl durch immer gefährlichere Fluchtwege brauchen wir eine Steuerung durch Verwaltungshandeln auf der Grundlage humanitärer Kriterien. Dabei müssen wir die Kraft haben, diejenigen Menschen zurückzuschicken, die sich auf eigene Faust auf den Weg machen. Reist jemand selbständig nach Deutschland ein, muss, sofern ein Aufenthaltstitel als asylberechtigte Person nicht erteilt werden kann, unverzüglich die Ausreisepflicht festgestellt werden. Anschließend erfolgt eine Rückführung in den Heimatstaat, sofern die Verhältnisse dort dies zulassen, ansonsten in einen sicheren Drittstaat.

Dort wird die Person einer internationalen Organisation – idealerweise im Geschäftsbereich der Vereinten Nationen – übergeben, die die Person übernimmt und ihre weitere Unterbringung regelt. Dabei darf es nur in eng umrissenen Ausnahmefällen Rückführungshindernisse geben. Dazu benötigen wir die Möglichkeit, Personen in einen sicheren Drittstaat zurückzuführen, falls die Verhältnisse im Heimatstaat eine Rückführung nicht zulassen. Diese Möglichkeit wirkt auch dem politischen Erpressungspotential durch kooperationsunwillige Herkunftsstaaten entgegen. Unionsrechtliche Regelungen, die der Rückführung in einen Drittstaat entgegenstehen, sind zu ändern oder auszusetzen.

Ein echter Systemwechsel

Zielgerichtet umgesetzt, richtet das Kontingentsystem geflüchtete und einwanderungswillige Personen auf reguläre Zuwanderungswege aus und reduziert den Anreiz für irreguläre Migration sehr stark. Es ermöglicht es, Kapazitätsreserven für Situationen zu schaffen, in denen wir schnell reagieren müssen, wie beispielsweise am Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Zudem werden höhere Investitionen in Integration analog zum dänischen Modell möglich.

In der Summe ist das Kontingentsystem sowohl geordneter als auch humanitärer als das bestehende. Dies erfordert allerdings ein ausreichend großes Kontingent, denn eine Lösung, in der Deutschland sich vollständig aus der Aufnahme geflüchteter Personen zurückzieht, wäre menschen- und völkerrechtlich nicht vertretbar und würde auch politisch kaum Akzeptanz finden. Weitere Voraussetzungen für das Gelingen eines Systemwechsels sind umfassende Investitionen in die Unterbringung, Versorgung und Bildung von geflüchteten Personen außerhalb Europas und ein klares Bekenntnis Deutschlands und der EU zur langfristig angelegten Bekämpfung von Fluchtursachen.

Das Sterben auf den Fluchtrouten muss enden

Durch eine solche Änderung unserer Politik wären auch die Voraussetzungen gegeben, um das Sterben auf den Fluchtrouten zu verhindern. Angesichts der gegenwärtigen deutschen Politik findet die Seenotrettung bei unseren südeuropäischen Partnern keinerlei Akzeptanz. Die Konsequenz aus dem Streit um die Rettungsschiffe darf aber nicht lauten, die Seenotrettung einzustellen. Sie muss lauten, unsere Politik zu ändern. Danach ist eine neue, gemeinsame EU-Rettungsmission aus meiner Sicht möglich und erforderlich. Wir brauchen „Mare Nostrum 2“ – ohne durch die Seenotrettung die Frage des Aufenthaltsrechts zu präjudizieren.

Viele Jahrzehnte lang war Zuwanderung nach Deutschland eine Erfolgsgeschichte. Wir müssen wieder zu einem regulierten System zurückkommen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Recht, als er vor kurzem in der SPD-Fraktion sagte, dass die Beendigung eines inhumanen Zustands die Grundlage für eine humanistische Politik sein kann. Dieser Satz sollte der Maßstab für unser weiteres Handeln sein.

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