Klimaschutz und Schuldenbremse - Wie Kaugummi an grüner Schuhsohle

Kurz vor ihrem Bundesparteitag fordern die Grünen eine Abschaffung oder zumindest Aussetzung der Schuldenbremse. Denn sie bedrohe – kleiner hat man’s nicht – „die menschliche Lebensgrundlage“, weil sie Klimaschutz verhindere.

„Nicht in die Misere sparen“: Die Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour / dpa
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Johanna Henkel-Waidhofer ist Korrespondentin für Landespolitik in Baden-Württemberg für mehrere deutsche Tageszeitungen. 

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Sie sitzen in der Falle, ausgerechnet auf der Bundesdelegiertenkonferenz, die den 40. Geburtstag der Grünen nachfeiern sollte. Stattdessen droht in Karlsruhe neben kräftezehrenden Debatten über Migration, Ukraine, Israel, Europawahlprogramm und demoskopischen Abschwung zusätzlicher Streit auf offener Bühne: Ein kurz vor Schluss noch präsentierter Dringlichkeitsantrag verlangt die sofortige Aussetzung der Schuldenbremse.

„Wir dürfen uns nicht immer tiefer in die Misere sparen“, greift Parteichef Omid Nouripour wenige Stunden vor dem Start in die längste Bundesdelegiertenkonferenz der grünen Geschichte zu einer Formulierung, die schon die Gegenwart dieser Misere anzeigt. Eine, an der die Grünen ihren Anteil haben: weil sie es selbst als Regierungspartei nicht geschafft haben und nicht schaffen, die politische Verantwortung für den Kampf gegen die Erderwärmung, für Erfolge in der „Menschheitsaufgabe“ (Winfried Kretschmann) anderen Parteien mit zu übertragen. Jenen, die in Bund und Ländern an Kabinettstischen sitzen oder sogar – wie Baden-Württembergs CDU ab 2016 – unbedingt gemeinsam regieren wollen.

Die „vermeintlich ideologiefreie“ Schuldenbremse sei ohnehin fortschrittsfeindlich

Stattdessen klebt Klimaschutz wie Kaugummi wieder allein an der grünen Schuhsohle. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts einschließlich des dadurch verursachten mindestens 60 Milliarden Euro großen Finanzlochs trifft die Partei besonders schwer. „Die Schuldenbremse verhindert wirksamen Klimaschutz“, heißt es in dem vom Kreisverband Hamburg-Altona ausgehenden Dringlichkeitsantrag, der inzwischen auf mehrere Dutzend Unterschriften aus der ganzen Republik kommt, „sie ist es, die die menschliche Lebensgrundlage und die Zukunft der kommenden Generationen bedroht.“ Für 2024 sei ein „vehementer Sparhaushalt“ zu erwarten, „welcher realen Einfluss auf die Lebenswirklichkeit aller Menschen in Deutschland mit sich bringt“ und ohnehin fortschrittsfeindlich die „vermeintlich ideologiefreie“ Schuldenbremse. Verlangt wird die Aussetzung samt einer „realen Perspektive“ ihrer Abschaffung.

 

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Die Auseinandersetzung, gleich nach der Migrationsdebatte und vor den Vorstandswahlen ist programmiert. Zumal Programmatisches recyclebar in der grünen Schublade liegt. „In die Zukunft investieren“ heißt das sechsseitige, so hoffnungsfroh präsentierte „Impulspapier“ von 2019, das die Unterschriften zahlreicher Promis trägt, von Anton Hofreiter bis Robert Habeck. Es verspricht, „die Begrenzung der Staatsschulden mit Investitionen in Infrastruktur zu kombinieren“, sowie zwecks Absicherung und sauberer Implementierung eine Änderung des Grundgesetzes. In den Koalitionsvertrag der Ampel haben es diese Ideen allerdings nicht geschafft. Da stehen weichgespülte Formeln wie „Wir werden im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse die nötigen Zukunftsinvestitionen gewährleisten“. Aber selbst diese Verheißung ist nach dem Spruch der höchsten Richter auf dem besten Wege zur Makulatur.

„Investitionsbedarf nicht abhängig von der Kassenlage machen“ 

„Es braucht eine Möglichkeit, im Rahmen der Schuldenbremse mehr Investitionen zu tätigen“, sagt denn auch Danyal Bayaz, Finanzminister vom gastgebenden Landesverband Baden-Württemberg, der für sich in Anspruch nehmen kann, diese Position nicht gerade erst entwickelt zu haben. Schon als Heidelberger Bundestagsabgeordneter warb er dafür, den „gigantischen Investitionsbedarf nicht abhängig von der Kassenlage“ zu machen, sondern Investitionsspielräume zu eröffnen. Die Haltung hat Tradition: 2009, als das neue Regelwerk im Bundestag verabschiedet wurde, stimmten die Grünen dagegen. Fraktionschef Fritz Kuhn nannte die Grundgesetzänderung nicht realitätstauglich und investitionshemmend: „Schulden sind Schulden, aber es macht nach unserer Überzeugung einen elementaren Unterschied, warum und zu welchem Zweck sich die öffentliche Hand in einer bestimmten Situation verschuldet.“

Ausgerechnet jetzt, auf der ohnehin komplizierten BDK, soll das heikle Thema ausdiskutiert werden. „Unser größtes Familientreffen“ nennt Nouripour die anstehenden dreieinhalb Tage in einer Mischung aus Vorfreude und Bammel. Passieren kann bei derartigen Gelegenheiten bekanntlich fast alles: Zank und Händel unter den Generationen, die Neuordnung von Hinterlassenschaften nach Testamentseröffnung. Sogar rührselige Versöhnungen unter Oberhäuptern und sollen dann und wann schon gelungen sein.

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