Landkreistagspräsident Sager über Kindergrundsicherung - „Wenn Frau Paus sagt, der Sozialstaat habe versagt, ist das hanebüchen“

Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistags, kritisiert die Pläne zur Kindergrundsicherung von Familienministerin Lisa Paus. Die bedeuteten noch mehr Bürokratie. Die Prioritäten sollten andere sein.

Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages / dpa,Sebastian Willnow
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Alexandre Kintzinger studiert im Master Wissenschafts- philosophie an der WWU Münster und arbeitet nebenbei als freier Journalist. Er ist Stipendiat der Journalistischen Nachwuchsförderung (JONA) der Konrad-Adenauer-Stiftung. 

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Herr Sager, Finanzminister Christian Lindner wurde von mehreren Parteien und Sozialverbänden heftig kritisiert wegen seiner Aussagen zur Kindergrundsicherung. Der Deutsche Landkreistag sieht die Dinge etwas anders. Was sehen Sie, was alle Kritiker scheinbar nicht sehen oder anders begreifen?

Reinhard Sager: Es ist nichts dagegen einzuwenden, Sozialleistungen, die das Armutsrisiko bei Kindern verringern, genau anzusehen und immer wieder zu überprüfen. Allerdings wird in der Ampel so getan, als betrete man Neuland. Man darf nicht vergessen, dass es bereits eine Grundsicherung für Kinder gibt, nämlich das Bürgergeld. Damit erhalten auch Kinder heute bereits eine Grundsicherung, die ihren Bedarf deckt. Zugleich teile ich den Gedanken, dass das Armutsrisiko von Kindern unmittelbar mit dem Erwerbsleben der Eltern zusammenhängt. Bei dem ganzen Thema dürfen jedoch nicht die Sachleistungen vergessen werden. Wir müssen Kinder so unterstützen, dass sie auch befähigt sind teilzuhaben an der Gesellschaft. Und das geht nicht allein über Geldleistungen. Das wird alles, ich will nicht sagen negiert, aber doch nur am Rande mit erwähnt.

Sie warnten vor wachsender Bürokratie durch Kindergrundsicherung. Warum sieht das Ministerium unter Familienministerin Paus nicht, dass die Kreise, die Kommunen,  also die Akteure vor Ort und ihre Infrastrukturen dadurch überlastet werden?  

Das fragen wir uns auch. Man sollte nicht übersehen, dass die meisten Sozialleistungen auf der kommunalen Ebene erbracht werden. Bislang kennen wir keinen konkreten Gesetzentwurf. Bisher wurden wir nur mit konzeptionellen Informationen aus dem Ministerium konfrontiert. Wenn das Ministerium möchte, dass eine neue Behörde zuständig sein soll für eine neue Kindergrundsicherung, die aber nicht bedarfsdeckend ist, dann droht ein Nebeneinander von Behörden, anstatt Bürokratie zu reduzieren. Wenn die Familienkasse die neue Aufgabe übernimmt, wird zudem die Flächendeckung zum Problem, denn diese gibt es nur etwa 100 mal in Deutschland. Aber die Jobcenter, die heute schon die Grundsicherung für Kinder erbringen, haben mehr als 1000 Standorte, in allen Landkreisen und Städten. Für die Eltern bedeutet dies am Ende neue Wege und neue Bürokratie. Das lehnen wir als Deutscher Landkreistag ab. Doch bisher wurde unsere Sichtweise nicht berücksichtigt. Wir befürchten, dass unsere Bedenken auch im zukünftigen Gesetzesentwurf nicht ernst genommen werden.

 

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Die Zahlen zeigen, nach der Statistikbehörde Eurostat, dass in Deutschland 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche von Armut gefährdet sind. Im Vergleich zum Vorjahr gab es einen deutlichen Rückgang um 14,8 Prozent. Ist das ganze Projekt von Paus ein Luftschloss? Braucht es wirklich eine Reform, oder ist das bisherige gesetzliche Handwerkszeug schon ausreichend?

Wir stellen uns als Deutscher Landkreistag nicht generell gegen die Absicht, Leistungen zu bündeln. Das halten wir für keinen verkehrten Ansatz. Doch wie das jetzt angegangen wird, wird das schiefgehen. Doppelstrukturen sind so unvermeidbar, die Bürokratie würde noch mehr aufgebläht werden. Denn für die bedürftigen Familien würden statt bislang eine Stelle – die Jobcenter – zukünftig mehrere Stellen zuständig sein: die Familienkasse für die Kindergrundsicherung, die Jobcenter für die restlichen Leistungen. Sollten wir die Gelder nicht besser für die direkte Förderung und Unterstützung von Kindern ausgeben, anstatt lediglich die Eltern mit mehr Geld zu versorgen? Diese Frage sollte mit aller Ernsthaftigkeit diskutiert werden. Bisher wurde das mit der Kindergrundsicherung gar nicht zu Ende gedacht. Es gibt nur unausgegorene Vorstellungen. Und alleine, dass Kosten von zwei bis 20 Milliarden Euro durch Deutschland geistern, ist ja auch angesichts der vom Kanzler ausgerufenen Zeitenwende völlig unverständlich. Gleichzeitig ist nicht mehr staatliches Geld da für die Flüchtlingskosten, sagt uns der Kanzler, obwohl die Flüchtlinge jetzt betreut werden müssen. Dazu kommt noch, dass einige Krankenhäuser bereits Insolvenz anmelden mussten. Das sind zwei Beispiele, wo jetzt gehandelt werden muss.

Also gibt es schon eher finanzielle Prioritäten an anderen Stellen, und die Kindergrundsicherung muss nicht unbedingt an vorderster Stelle stehen?

Der Staat muss priorisieren, und das mit breiter Mehrheit im Bundestag. Wenn ich mir aber nur die beiden Beispiele der Flüchtlingskosten und der Krankenhäuser anschaue, liegt dort ein riesiges Problem vor der Haustür. Die Prioritäten sollten anders gesetzt werden, bevor unausgegorene Reformüberlegungen mit Milliardensummen und neuer Bürokratie auf die Reise geschickt werden.

Im Streit um die Kindergrundsicherung sagte die Bundesfamilienministerin, dass der Sozialstaat versagt hätte. Ist das so?

Wenn Frau Paus sagt, der deutsche Sozialstaat habe versagt, ist das wirklich hanebüchen. Die letzten Sozialminister hießen Franz Müntefering, Olaf Scholz, Andrea Nahles und jetzt Hubertus Heil. Drei von denen waren sogar Parteivorsitzende der SPD. Also schwerer kann man die SPD ja nicht demütigen. Vor allem aber ist es falsch, der Sozialstaat hat alles andere als versagt! Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit sind die Zahlen insbesondere bei Kindern mit ausländischer Herkunft erheblich angewachsen, haben sich fast verdreifacht. Die Ukraine wird hier herangezogen als Beleg dafür, dass viele arm seien. Dabei haben wir diese Menschen aufgenommen und ihnen ohne Umwege direkten ungehinderten Zugang zum Bürgergeld gegeben. Das ist eine besondere Geste des deutschen Staates gegenüber den ukrainischen Geflüchteten. Und diese Menschen sind wegen des Krieges natürlich auf Leistungen angewiesen. Aber es ist  falsch zu behaupten, die Armut bei Kindern steige deswegen an. Das muss man scharf kritisieren. So kann man in Deutschland keine Politik machen. Das ist unerträglich.

Aus den aktuellen Daten der Bundesagentur für Arbeit geht hervor, dass die negative Entwicklung bei von Armut bedrohten Kindern vor allem auf Familien mit Migrationshintergrund zurückzuführen ist. Gibt es hier ein Problem, das bei den Eltern liegt wegen zu niedrigen oder fehlenden Erwerbseinkommen? Ist da die Integration in den Arbeitsmarkt vor Ort gescheitert?

Zu einem Teil gelingt sie ja erfreulicherweise. Dennoch ist es ein Indiz dafür, dass die Integration in den Arbeitsmarkt nicht genügend stattfindet, und Menschen mit Migrationshintergrund öfter erwerbstätig sein müssen. Dort muss man nachbessern. Wer dauerhaft in Deutschland leben will und gesund ist und arbeiten kann, der sollte arbeiten. Wir wollen gerade keine Zuwanderung direkt in die sozialen Sicherungssysteme und eine damit verbundene Aufblähung der Sozialausgaben. Im Gegenteil: Wir wollen die Menschen, die dauerhaft hier sind, befähigen, ihr eigenes Einkommen zu erzielen, um auch damit das Armutsrisiko von Kindern zu reduzieren. Darauf muss der Schwerpunkt gesetzt werden. Das ist eine Aufgabe der Jobcenter, für die wir eine Mitverantwortung tragen. Dort denke ich, müssen die Finanzen gestärkt werden, anstatt den Jobcentern im kommenden Jahr eine halbe Milliarde Euro zu streichen.

Notwendiger sei, so Finanzminister Lindner, dass stärker in die gesellschaftliche Infrastruktur investiert wird, also etwa in Kindertagesstätten oder Schulen. Sind das Überlegungen, die Sie unterstützen?

Ja, ich bin der Auffassung, dass wir in diese Bereiche investieren sollten, und dass die Bildungssysteme von der Kita über die Schule bis hin zu kultureller Teilhabe funktionieren müssen. Bei Kindern, die aus einkommensschwachen Familien kommen, muss ein Zugang geschaffen werden, dass sie teilhaben können, dass sie nicht von der Klassenfahrt, von den Kulturangeboten, der Theater-AG ausgegrenzt sind und sich zum Beispiel in einem Sportverein betätigen können. Das muss funktionieren, ohne dass dies an finanziellen Dingen scheitert. Es darf nicht vorkommen, dass die Eltern ihre Kinder zu Hause lassen, weil sie sich das nicht leisten können. Die Kinder müssen befähigt werden zu Eigenständigkeit, zu Verantwortungsbewusstsein wie auch zu solidarischem Verhalten mit anderen Kindern. Dass diese Kinder dieses Rüstzeug fürs Leben mitbekommen, das ist, glaube ich, das Wichtigste, was wir Kindern mit auf den Weg geben können. Neben Geld muss dies ein Hauptanliegen sein, um insbesondere Armutsrisiken zu verringern. Das sollte stark in den Blick genommen werden. Es wird nicht allein über Geldzuwendungen zu regeln sein, das funktioniert nicht.

Bei der Debatte entsteht auch der Eindruck, dass vieles, was auf Bundesebene entschieden wird, in der Praxis an der Bürokratie scheitert. Hier liegt anscheinend eine große Wurzel des Übels.

Ja, das ist ein weiteres großes Feld, das beackert werden muss. Die Bürokratie wird leider immer weiter ausgeweitet in Deutschland, auch mithilfe der EU. Wir brauchen aber das Gegenteil: weniger Vorschriften und mehr Freiraum in der Betätigung, auch für Kommunen. Die drohen an überbordender Bürokratie teilweise zu ersticken. Darauf muss auch in Deutschland ein großer Schwerpunkt gelegt werden.

Die Fragen stellte Alexandre Kintzinger.

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