Historiker Thomas Großbölting über Missbrauch in der Katholischen Kirche - „Die Gesellschaftliche Wahrnehmung ist verzerrt“

Ein Forscherteam der Universität Münster hat erstmals alle Akten zu Fällen von sexuellem Missbrauch im Bistum Münster aufgearbeitet. Die exemplarische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es bis zum Jahr 2000 eine systematische Vertuschung gegeben hat. Zugleich kritisiert der Chef der Untersuchung, Thomas Großbölting, eine einseitige Wahrnehmung in der Gesellschaft. „Kommunionsunterricht ist für Kinder nicht gefährlicher als der Sportverein“.

Heute wird eine Untersuchung zu Missbrauchsfällen im Bistum Münster vorgestellt. /dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Thomas Großbölting ist seit August 2020 Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professor an der Universität Hamburg. Von 2009 bis 2020 lehrte und forschte er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Neben der Münsteraner Untersuchung leitet er auch ein Projekt zur Aufarbeitung von Missbrauch in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD). Zuletzt erschien sein Buch Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche" (Verlag Herder, Freiburg 2022).

Herr Bölting, heute wird Ihre Studie über Missbrauch im katholischen Bistum Münster vorgestellt. Was sind die wichtigsten Ergebnisse? 

Wir haben quantitativ und qualitativ erarbeitet, was sexuellen Missbrauch in Münster ausgemacht hat: Wie viele Akteure gab es und wer war verstrickt. Dabei haben wir auch kritisches Verhalten der Strafverfolgungsbehörden aufdecken können. Wir konnten erstmals ungefiltert alle Akten und auch das staubige Geheimarchiv einsehen, so dass sich quantitativ eine höhere Zahl feststellen ließ, als dies bisher bekannt war. Wir haben darüber hinaus mit über 60 betroffenen Männern und Frauen gesprochen, die für uns eine ganz wichtige Informationsquelle waren.

Wie hat sich der Umgang mit Missbrauch seit 1945 entwickelt? 

Wir können nachweisen, dass über die Kontinuität der verschiedenen Bischöfe es seit dem Krieg eine kontinuierliche Beschäftigung mit dem Thema gibt und eine kontinuierliche Vertuschungspraxis vorliegt. Der Fisch stinkt vom Kopf her, die Redewendung trifft den Punkt auch hier. Bei allen Nuancen, die die verschiedenen Bischöfe in der Praxis im Umgang mit sexuellem Missbrauch gezeigt haben, gibt es bis 2001 erstmal durchgehend die Praxis der bewussten Vertuschung. 

Es gibt bereits Studien für Aachen, Berlin, Köln und München, die alle juristisch vorgehen. Was ist Ihr Ansatz? 

Unser historischer und soziologischer Ansatz reflektiert die katholische Lebenswelt, die katholische Theologie und die kirchlich-pastorale Praxis. Wir können zeigen, was pastorale Macht bedeutet und wie sie sich als spezifisch katholischer Faktor auswirkt. An einigen Beispielen zeigen wir sehr genau, wie stark das Wissen und das implizite Wissen um sexuellen Missbrauch auch in den Gemeinden verbreitet war und wie wenig gelegentlich auch der normale Katholik oder die normale Katholikin da reagiert haben. Und wir können an einigen Beispielen auch zeigen, wie es Rücksichtnahmen von Seiten der Justiz gegeben hat.

Halten sie die juristische Aufarbeitung für falsch?

Die juristische Aufarbeitung ist jede Mühe wert. Juristen prüfen, ob Gesetze und Verordnungen verfehlt wurden oder ob es da entsprechende Straftaten gab. Ich glaube aber, dass man die Missbrauchsproblematik mit diesem juristischen Angang nicht vollständig in den Blick nimmt, weil es nicht nur um strafrechtlich relevante Fälle geht, sondern auch um die Kultur und die besondere katholische Ausprägung des Missbrauchs. 

Konnten Sie feststellen, dass sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche verbreiteter ist als überhaupt in der Gesellschaft

Nein, das lässt sich so nicht belegen. Es fehlt an Studien zur Häufigkeit von sexuellem Missbrauch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Wir müssen mehr wissen, was im Bereich des Sports passiert, wie in anderen religiösen Gemeinschaften oder im Bildungsbereich die Lage ist. Wir wissen auch wenig aus der empirisch basierten Forschung über sexuellen Missbrauch in familiären Zusammenhängen. 

Thomas Großbölting

Sie schreiben in Ihrem umfassenden neuen Buch, es sei für Kinder keineswegs im  Kommunionsunterricht gefährlicher als im Sportverein oder in der Musikschule. Die gesellschaftliche Wahrnehmung ist aber eine andere?

Die gesellschaftliche Wahrnehmung ist in dieser Hinsicht verzerrt. Die Fokussierung auf die katholische Kirche ist unzureichend. Es ist richtig, die speziellen katholischen Mechanismen zu verstehen, über katholische Machtkonstellationen, über die katholische Sexualmoral zu reden. Es spielt auch eine Rolle, dass die Kirche lange auf dem hohen Ross der moralischen Instanz saß. Und trotzdem scheint die Zurückhaltung der Politik, die katholische Kirche mit dem Problem allein zu lassen, auch damit zusammenzuhängen, dass es ein waches Gespür dafür gibt, was insgesamt in der Gesellschaft noch verborgen ist. Wenn man von staatlicher Seite beginnen würde, in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinzuschauen, dann wäre die Aufregung und der Ärger groß. Und gelegentlich macht es schon den Eindruck, dass die Politik diese Auseinandersetzung scheut und froh ist, dass alle nur über die Kirche reden. 

Trotz vieler Studien und Gutachten heißt es immer wieder, dass die Aufarbeitung in der katholischen Kirche gescheitert sei. Warum?

Wichtig ist, da genau zu differenzieren. Es gibt tatsächlich seit 2000 und mehr noch seit 2010 einen quantitativen Rückgang von Fällen. Zwar werden seit 2010 vermehrt Fälle von sexuellem Missbrauch gemeldet, aber der Tatzeitpunkt liegt zumeist weit zurück. Es gibt also Fortschritte bei der Vermeidung von sexuellem Missbrauch. Das muss man ganz klar konstatieren. Defizite gibt es zum Beispiel noch im Umgang mit Betroffenen. Den Betroffenen muss ermöglicht werden, ihre eigenen Interessen unabhängig zu vertreten, zu formulieren und dann ins Gespräch mit der Kirche zu treten. Das bedeutet für die Kirche, bewusst die Kontrolle über den Aufarbeitungsprozess abzugeben. 

Die katholische Kirche widmet sich augenscheinlich mehr der Aufarbeitung als andere Institutionen, aber hat sich das Bewusstsein bei dem Thema wirklich geändert?  

Es gibt beides, auf der einen Seite wird seit zwölf Jahren mit viel Dynamik der Prozess der Aufarbeitung vorangetrieben. Auf der anderen Seite bleibt immer wieder auch der Eindruck, dass die Kirchenvertreter immer dann reagieren, wenn sie von außen dazu getrieben werden. Und wenn es dann wieder mal eine Entdeckung gegeben hat, dann wird erst agiert, also oft zu spät und zu zaghaft. Dass wir mittlerweile auch über Fälle sexualisierter Gewalt in anderen Zusammenhängen wie dem britischen Unterhaus, der Linken in Hessen oder über den erschreckenden Fall in Wermelskirchen sprechen, zeigt, wie gesamtgesellschaftlich die Sensibilität für Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und der Verletzung wächst. 

In der katholischen Kirche gibt es einen intensiven Reformprozess, es wird etwa über die Abschaffung des Zölibats oder das Frauenpriestertum gesprochen. Wo liegt der Zusammenhang zur Missbrauchs-Thematik? 

Zunächst ist es wichtig klarzustellen: Der Zölibat, also die verpflichtende Ehelosigkeit für Priester, ist nicht die Ursache für Missbrauch. Auch die katholische Sexualmoral mit all ihren Schwierigkeiten und mit all ihrer Bigotterie ist nicht die Ursache für sexuellen Missbrauch. Aber beides sind Ermöglichungsbedingungen, die als Faktoren relevant sind. In einer katholischen Kirche, in der die Kluft zwischen offizieller Sexualmoral und der Praxis der Katholikinnen und Katholiken so groß ist, dass jeder, wenn man ganz streng auf die Regeln guckt, irgendeine Leiche im Keller hat, dann erzeugt das eine Atmosphäre der Verlogenheit, eine Stimmung des Verheimlichens und Vertuschens. Diese Atmosphäre der Bigotterie weitet sich dann leicht auch strafrechtlich relevante Fälle aus wie den sexuellen Missbrauch von Kindern. Alle wissen, da läuft was, aber wir sprechen nicht darüber, weil so vieles verschwurbelt geheim bleibt und als offenes Geheimnis gehandelt wird. Das ist eine der toxischen Bedingungen, die es einem pädosexuellen und pädokriminellen Mehrfachtäter möglich macht, diese Strukturen für sich zu nutzen. Deswegen ist die zölibatäre Lebensform selbst nicht ursächlich für den Missbrauch, sie spielt aber als Ermöglichungsraum eine fatale Rolle. 

Wie viel Prozent der Priester des Bistums Münster sind zu Tätern geworden?

Wir gehen von 4 bis 4,5 Prozent Beschuldigten aus. Ich spreche nicht von Tätern, weil wir zwar in Zeugenaussagen und Dokumenten die Taten belegen können, aber keine nachträglichen Gerichtsprozesse geführt haben. Zugleich ist wichtig festzuhalten, dass dies eine so genannte Hellfeldstudie ist, über das Dunkelfeld können wir auch keine Aussage machen. 

Gibt es Vergleichszahlen aus der Gesamtbevölkerung?

Es gibt keine validen Zahlen, mit der man unsere Untersuchungen jetzt wirklich vergleichen kann. 

In Ihrem Buch kritisieren das sakrale Weihepriestertum. Sollte die Katholische Kirche ihrer Meinung nach wegen der Missbrauchsproblematik die Priester abschaffen?

Diese Schlussfolgerung ziehe ich nicht, das ist auch nicht mein Job. Als Historiker weise ich darauf hin, dass es zwar keinen ursächlichen, aber einen sehr dezidierten Zusammenhang von Missbrauch und sakraler Überhöhung des Priesters gibt. Es gibt ein Machtgefälle: Die pastorale Macht von Priestern entsteht durch die Idee, dass es zwischen dem mit dem Weihesakrament versehenen Priester und dem Laien einen substanziellen Unterschied gibt. Und auch das Vertuschen und der Schutz der eigenen Institution kommt unmittelbar aus dieser besonderen Vorstellung vom Priestertum. Natürlich wollen auch andere Institutionen, wie ein Gymnasium oder ein Sportverein, versuchen, ihren Ruf zu retten, wenn es Vorwürfe gibt. Aber die katholische Kirche toppt das noch einmal durch die theologische Überhöhung und diesen sakramentalen Charakter der Institution. 

In ihrem Buch ziehen Sie ein klares Fazit, nämlich dass die hierarchische Organisationsform der Kirche dem christlichen Glauben nicht angemessen sei. Muss die Kirche auf Papst und Bischöfe verzichten?

Solche Ratschläge gebe ich nicht. Aber mein Resümee ist schon, dass es nötig sein wird über Macht und Autorität in der Kirche neu nachzudenken. Derzeit ist ein Bischof so etwas wie ein oberster Manager und zugleich eine geistliche Gestalt, ein Seelsorger. Das ist gefährlich, hier braucht es eine Rollendifferenzierung. Zwischen geistlicher Autorität und weltlicher und organisatorischer Autorität muss unterschieden werden. Und ich glaube sogar, dass mittlerweile der eine oder andere Bischof gar nicht so böse wäre, wenn er viel mehr als Seelsorger auftreten könnte und nicht als weltlicher Manager.

Das Gespräch führte Volker Resing. 
 

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