Interview mit Hans-Peter Bartels - „Wolkenschiebereien im Verteidigungsministerium“

Die Lage ist dramatisch, doch bei der Bundeswehr tut sich nichts. Die berühmte Zeitenwende ist noch nicht angekommen. Der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels stellt fest: „Hohle Strukturen bei Material und Personal bestehen fort.“ Von den 100 Milliarden Euro Sondervermögen ist noch nichts ausgegeben und kaum etwas in Planung. Er ruft den Verantwortlichen zu: „Was jetzt gelingt oder scheitert, wird historisch sein.“

Mangelware: Bundeswehrsoldaten an einem Leopard-Panzer. /dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Hans-Peter Bartels ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war seit 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags von 2015 bis 2020. Er ist Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Herr Bartels, haben Sie eine Erklärung dafür, warum Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) keine weiteren Panzer in die Ukraine liefern wollen? 

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat ausdrücklich alle Bündnispartner aufgefordert, mehr Material an die Ukraine abzugeben als bisher, auch wenn das Lücken in die eigenen Bestände reißt. Und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) ruft dazu auf, nun die von der Ukraine erbetenen Kampfpanzer und Schützenpanzer wirklich zu liefern. Beide äußern sich gewiss nicht leichtfertig. Von daher wird das Zögern der Bundesregierung immer unverständlicher. Man will auf keinen Fall vorangehen. So aber kann „Führung“, die ja jetzt von der deutschen Regierung in Aussicht gestellt ist, nicht funktionieren.

Es wird ja immer über den Leopard 2 gesprochen. Der sei zu kompliziert, heißt es, schwer zu bedienen. Wieso ist der Panzer Leopard 1, der doch offenbar auch noch zur Verfügung stünde und keine Hightech-Waffe wäre, nicht Thema? 

In der Tat wäre die Abgabe von Leo 1 möglich. Bei der Industrie stehen noch Dutzende herum, die schnell lieferfähig wären. Mit dem Leopard 2 ist es tatsächlich komplizierter. Deutschland hatte nach dem Ende des Kalten Krieges sein Arsenal von 4600 Kampfpanzern auf 225 reduziert, die nun wieder auf 325 aufgestockt werden. Viele von den alten stehen gerade zur Kampfwertsteigerung in den Werkstätten der Industrie. Da haben wir also selbst eine Panzerlücke, aus der heraus schwer etwas abzugeben ist. Ganz hilfreich scheint mir hier der Vorschlag von Michael Roth, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses: Alle Länder, die gegenwärtig in Europa den Leo 2 nutzen, 13 Nationen, sollen sich zusammensetzen und klären, wie viele von ihren insgesamt 2000 Kampfpanzern sie hergeben können. Da dürfte eine dreistellige Zahl herauskommen, und kein Land hätte sich als Einzelnes exponiert.

Was halten Sie von dem Argument des Generalinspekteurs, Deutschland würde Russland mit solchen Lieferungen zu sehr reizen und zu einer Eskalation beitragen?

So meint er es sicher nicht. Die Eskalation ist von Russland ausgegangen, als Putin die Ukraine überfallen hat. Der Versuch, sich nun aber in den Kopf von Putin zu versetzen und sein künftiges Handeln vorherzusehen, ist bisher eigentlich immer schief gegangen. Ich glaube, der Westen muss bei seiner Linie bleiben: Die Ukraine so stark wie möglich zu machen, damit sie sich erfolgreich verteidigen kann – egal, wie Moskau die gewaltsam besetzten Gebiete nennt.
 

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Und dieses Argument, dass Deutschland sich durch Waffenlieferungen zu sehr selbst schwächen würde und die Landesverteidigung vernachlässigt, lassen Sie nicht gelten?

Russland schwächt im Moment sein eigenes Militär massiv selbst. Es nutzt seine Landstreitkräfte in der Ukraine blutig ab. Was dort verloren geht, steht der NATO nicht mehr gegenüber. Es ist ja keine andere russische Armee, die für uns zur Bedrohung würde, als genau die Armee, die im Moment in der Ukraine festliegt. Deshalb schwächen wir uns nicht, wenn wir Waffen abgeben. Die Ukraine muss standhalten können. First things first!

Schauen wir uns also diese Bundeswehr an, die sich ja nun besser rüsten will gegen diese Bedrohung. Wie läuft denn Ihrer Meinung nach die Ertüchtigung der Bundeswehr nach der vom Bundeskanzler erklärten Zeitenwende? Ist die Bundeswehr auf einem guten Weg?

Noch nicht. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, hat anlässlich der Bundeswehr-Tagung letzte Woche ausdrücklich gesagt: Die Bundeswehr befinde sich weiter im „freien Fall“. Hohle Strukturen bei Material und Personal bestehen fort. Viele Vorhaben sind bisher nur in der Planung, aber nicht in der Umsetzung. Es dauert und dauert. Dabei müsste alles jetzt sehr schnell gehen – und das eigentlich schon seit 2014, seit Russlands erstem Ukraine-Krieg.

Hans-Peter Bartels / dpa

Das heißt, seit der Zeitenwende vor einem halben Jahr hat sich die Lage der Bundeswehr erst einmal weiter verschlechtert?

Jedenfalls nicht verbessert. Was an Gerät da ist, steht immer noch ewig in der Instandsetzung. Lange wurde das einfach so hingenommen. Es ist deshalb ein bisschen kurios, nun plötzlich einsatzfähige Waffen zu zählen, zu erschrecken und nichts mehr abgeben zu wollen, damit die Verteidigungsfähigkeit nicht leidet.

Der Bundestag hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Ertüchtigung von Deutschlands Streitkräften verabschiedet. Was ist denn von dem Geld schon ausgegeben und bei der Bundeswehr angekommen?

Nichts. Für nächstes Jahr sind 8,5 Milliarden Euro Ausgaben aus dem Topf geplant. Wenn man die 100 Milliarden Euro in fünf Jahre umgesetzt haben will, ist das ein ziemlich bescheidener Anfang. Und je später man bestellt, desto teurer wird das Material. Jede Woche Verzögerung heute kann die Auslieferung der bestellten Waffen, Geräte und Munition um Jahre nach hinten schieben. Denn die Bundeswehr ist nicht der einzige Kunde bei den wehrtechnischen Unternehmen, sei es in Deutschland, sei es in Amerika. Deren Auftragsbücher füllen sich und die Lieferzeiten werden länger und länger.

Die Verteidigungsministerin hat in ihrer Grundsatzrede eine militärische Führungsrolle Deutschlands angemahnt. Stimmen Sie ihr zu? Und sieht man denn schon, dass die Bundesregierung in Richtung Führungsrolle etwas unternimmt?

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sogar hinzugefügt, Deutschland solle die stärkste konventionelle Streitmacht in Europa bekommen. Das finde ich sehr richtig, es wäre der Größe und Bedeutung unseres Landes absolut angemessen. Keine Atomraketen, keine Flugzeugträger, aber eine voll verteidigungsbereite Bundeswehr. Unsere Bündnispartner erwarten das von uns. Wir müssen in der Mitte Europas einen eindrucksvollen militärischen Kern zur Abschreckung gegenüber Russland bereithalten. Damit wäre Deutschland zweifellos eine erstrangige Führungsmacht. Aber ich würde den Begriff „Führung“ auch nicht zu hoch hängen. Das Offensichtliche erkennen und das Selbstverständliche endlich tun, wäre schon gut.

Was muss konkret jetzt passieren?

Unsere Soldatinnen und Soldaten warten auf eine Strukturreform der Bundeswehr, die umschaltet von globaler Krisenreaktion mit überschaubar großen deutschen Kontingenten hin zur Bündnisverteidigung in Europa mit unseren gesamten Streitkräften. Die militärische Führung weiß, welche Umgliederung erforderlich ist. Ausgearbeitete Pläne existieren. Allerdings will die politische Leitung immer noch auf eine sogenannte „Bestandsaufnahme“ warten – als würde man nicht alle Probleme längst kennen! Auch das Beschaffungswesen muss im Übrigen auf Tempo und größere Umsätze getrimmt werden, sonst scheitert das Projekt Vollausstattung. Und was das Personal angeht, da klafft eine riesige Lücke. Bisher wurde eine Soll-Stärke von 203.000 Soldatinnen und Soldaten angestrebt. Jetzt wurden noch einmal 6000 zusätzliche Dienstposten genehmigt. Aber das sind Wolkenschiebereien. Das Personal-Ist liegt im Moment bei 183.000. Man wird sich ehrlich machen müssen. 

Auch der Verteidigungshaushalt liegt noch nicht in der versprochenen Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Haben Sie eine Erklärung dafür? 

Widersprüchlichkeit ist nicht so selten in der Politik. Dabei hat der Bundeskanzler sich eigentlich festgelegt. Zwei Prozent lautete schon in seiner Zeitenwende-Rede vom 27. Februar die Ansage. Ab sofort zu erfüllen. Aber tatsächlich wurde der reguläre Verteidigungshaushalt eingefroren bei 50 Milliarden Euro. Die gleiche Summe für 2023 wie für 2022. Und in der mittelfristigen Finanzplanung ebenfalls keine Zuwächse, Nullkommanichts, egal wie stark die Betriebskosten der Bundeswehr mit der Inflation steigen. Der Zufluss aus dem Sondervermögen, die geplante Summe von 8,5 Milliarden für nächstes Jahr, bringt Deutschlands Verteidigungsausgaben damit dann vielleicht auf 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Nato-Selbstverpflichtung wird also nicht erfüllt. Und das Einfrieren des regulären Verteidigungshaushalts bedeutet natürlich auch, dass am Ende aus Teilen des Sondervermögens keine neue Ausrüstung, sondern Kostensteigerungen im laufenden Betrieb finanziert werden müssen. So war das nicht gedacht.

Sie kennen ja nun die Bundeswehr von innen sehr gut und sie kennen auch die SPD und auch den Bundeskanzler. Wo glauben Sie denn, liegt der größte Hemmschuh in Sachen Bundeswehr? Denn es ist ja offenkundig, dass hier Worten keine Taten folgen. 

Den heute Verantwortlichen würde ich gern zurufen: Keine Angst vor Reformen! Und Tempo machen! Die Zeiten sind ernst. Was jetzt gelingt oder scheitert, wird historisch sein.

Das Gespräch führte Volker Resing. 

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