Haushaltskrise der Ampel-Koalition - Warum Christian Lindner am längeren Hebel sitzt

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt schränkt den finanziellen Spielraum der Bundesregierung massiv ein, SPD und Grüne sehen ihre Felle davonschwimmen. Für die FDP hingegen ist der Karlsruher Richterspruch eine einmalige Chance.

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Während bei der SPD und bei den Grünen die Hektik nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum zweiten Nachtragshaushalt groß ist, scheint die dritte Regierungspartei ziemlich gelassen zu bleiben. Anders als Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der während seiner mitunter kopflos wirkenden Statements gelegentlich den Tränen nahe ist, gibt Finanzminister Christian Lindner (FDP) den Staatsmann pur nach dem Motto: Jetzt bloß keine Aufregung, sondern kühlen Kopf bewahren. Tatsächlich hat Lindner, der anders als Habeck (und anders als Bundeskanzler Olaf Scholz) auch Vorsitzender seiner Partei ist, weniger von dem Karlsruher Richterspruch zu befürchten als seine beiden Kabinettskollegen. Bei Lichte besehen könnte sich das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom vorigen Mittwoch für den Chef-Liberalen sogar als Chance erweisen.

Lars Feld gibt die Richtung vor

Warum das so ist und in welche Richtung es gehen könnte (zumindest aus Sicht der FDP), das wurde Anfang dieser Woche in einem Meinungsbeitrag des Ökonomen Lars Feld für die FAZ ersichtlich. Feld ist nämlich nicht nur ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch Lindners wichtigster „persönlicher“ Wirtschaftsberater – und ein dezidierter Vertreter ordoliberaler Positionen sowie ausgesprochen wettbewerbsfreundlich. Der 57-jährige Professor für Wirtschaftspolitik ließ also in der FAZ die Genese des Nachtragshaushalts Revue passieren und setzte in diesem Zusammenhang einige bemerkenswerte Punkte, die hellhörig machen sollten.

 

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Da heißt es nämlich schon ganz zu Anfang wörtlich: „Im Oktober 2021 – kurz nach der Bundestagswahl, der Bundesfinanzminister hieß noch Olaf Scholz – kam die Idee auf, in der Corona-Pandemie nicht genutzte Kreditermächtigungen etwa des Wirtschaftsstabilisierungsfonds für die klima- und industriepolitischen Vorstellungen der sich abzeichnenden Ampelkoalition zu nutzen.“ Mit anderen Worten: Der wahre und eigentliche Verursacher der aktuellen Haushaltsmisere ist der amtierende Bundeskanzler höchstpersönlich; im Finanzministerium hätten hingegen „Bedenken“ ob der offensichtlichen Tricksereien geherrscht. Lindner hätte sich dann allerdings – so Feld sinngemäß – um des lieben Friedens willen auf die Sache eingelassen, um „die weit auseinanderliegenden finanzpolitischen Vorstellungen von SPD und Grünen auf der einen Seite und der FDP auf der anderen Seite“ unter einen Hut zu bringen. Subtext: Überzeugt war der heutige Finanzminister von Anfang an nicht, es handelte sich aus seiner Sicht vielmehr um einen faulen Kompromiss mit absehbarem Verfallsdatum.

Lindners Exit-Option

Genau so ist es auch gekommen, und aus Lindners Sicht erweist sich der Zusammensturz des finanzpolitischen Kartenhauses sogar als Segen. Denn jetzt ist für ihn die Gelegenheit da, seine Partei aus ihrer existentiellen Krise zu führen, die nach etlichen verlorenen Landtagswahlen kaum noch zu bewältigen schien. Wenn die Ampel-FDP jedenfalls so weitermachen würde wie bisher, müsste sie sich auf einen abermaligen (und diesmal womöglich endgültigen) Rauswurf aus dem Reichstag nach der nächsten Bundestagswahl gefasst machen. Ein vorzeitiges Ausscheiden aus der Regierungskoalition wiederum würde den Liberalen als staatspolitische Bankrotterklärung ausgelegt werden – zumal ohne triftigen Anlass und noch dazu in Zeiten schwerster geopolitischer Verwerfungen.

Kurzum: Um die FDP zu retten, müsste Lindner entweder schnell raus aus dem ungeliebten Ampelbündnis – bräuchte für diesen Schritt aber eine nachgerade zwingende Begründung, die auch über die FDP-Kernwählerschaft hinaus verfängt. Oder er bleibt Teil der Koalition – allerdings unter der Voraussetzung, dass er den Rest der Regierung auf einen klaren marktwirtschaftlichen Kurs zwingt, der die Mitglieder und Anhänger seiner Partei zufriedenstellt. Beide Optionen stehen jetzt offen.

Keine neuen Tricks mehr

Klar scheint jedenfalls, dass die Liberalen nicht bereit sind, sich auf abermalige Tricks einzulassen, wie sie aktuell von SPD und Grünen ins Spiel gebracht werden. Insbesondere der Umgehung der Schuldenbremse durch Ausrufung einer „Notsituation“ erteilt Lars Feld (der hier durchaus als Lindners Sprachrohr fungieren dürfte) in seinem FAZ-Beitrag eine deutliche Absage. Denn das einer Notlage zugrundeliegende Ereignis dürfe weder von der Regierung selbst verursacht sein, noch dürfe es zu lange in der Vergangenheit liegen. Feld wörtlich: „Je mehr Zeit zwischen einer Entscheidung für eine zusätzliche Kreditaufnahme zur Bewältigung einer außergewöhnlichen Notsituation und dem auslösenden Ereignis vergeht“, desto stärker werde der „Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers eingeengt“. 

Das heißt konkret: Der Ukrainekrieg oder die Energiepreissteigerungen kommen als Begründungen für das Aussetzten der Schuldenbremse schon deshalb nicht in Frage, weil sie eben nicht neu sind. Auch die Klimakrise, so Feld, werde vom Bundesverfassungsgericht „nicht als Krise im Sinne der Schuldenbremse anerkannt“.

Damit bleibt faktisch – zumindest nach liberaler Lesart und ohne Steuererhöhungen – nur eine Möglichkeit übrig, um einen Bundeshaushalt verfassungskonform auf den Weg zu bringen: Einsparungen. Auch hier lässt es Lindners Wirtschaftsberater an Deutlichkeit nicht vermissen: Alle Koalitionspartner müssten „an ihren Lieblingsthemen Abstriche machen“, die SPD in der Sozialpolitik, die Grünen an den klima- und industriepolitisch motivierten Subventionen „und die FDP bei Steuervergünstigungen“. 

Der letztgenannte Punkt zeigt also schon mal an, wo die Liberalen mit sich reden ließen. Allerdings wiegt die Preisgabe von Steuervergünstigungen weit weniger schwer als Abstriche im Sozialen für die SPD und eine teilweise Rückabwicklung der Klimamaßnahmen für die Grünen (beide Bereiche sind für die jeweiligen Parteien nämlich sinn- und existenzstiftend).

SPD und Grüne mit zwei schlechten Optionen

Sinn- und existenzstiftend ist sowohl für die SPD, noch mehr aber für die Grünen aber eben auch ein Verbleib in der Bundesregierung (zumal mit einem Bundes- und einem Vizekanzler). Und genau deswegen befindet sich die FDP gegenüber ihren Koalitionspartnern seit vorigem Mittwoch in einer strategisch vorteilhaften Situation. Denn wenn die Sozialdemokraten oder die Grünen nun versuchen sollten, durch abermalige Taschenspielertricks die Schuldenbremse zu umgehen, hätte die FDP einen absolut nachvollziehbaren Grund, um die Ampelkoalition zu verlassen: Sie könnte sich bei diesem Schritt auf die Verfassung berufen und gleichzeitig ihren Ruf als Bewahrerin des Rechtsstaats und der Marktwirtschaft festigen (beziehungsweise wiederherstellen). 

Es wäre keine „Fahnenflucht“, sondern könnte als Akt der Verantwortung dargestellt werden. Die Wähler würden das bei der nächsten Bundestagswahl womöglich entsprechend honorieren.

Ein Ausscheiden der Liberalen hätte für die SPD und für die Grünen – zumindest unter diesen Umständen – weit gravierendere Folgen als für die FDP selbst. Denn es käme mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Neuwahlen, die die Sozialdemokraten das Kanzleramt kosten würden und die Grünen sogar die Regierungsbeteiligung. Das plausibelste Szenario für die Zeit danach sieht nämlich so aus: ein Bundeskanzler Friedrich Merz in einer großen Koalition mit der geschrumpften SPD als Juniorpartner. Das ist wenig verlockend insbesondere für den roten oder den grünen Ampel-Partner; halbwegs erträglich hingegen für eine ohnehin ums Überleben kämpfende FDP.

Zwei Autos rasen aufeinander zu

Es läuft also auf etwas hinaus, das in der Spieltheorie als „chicken game“ bekannt ist: Zwei Autos rasen aufeinander zu, und wer zuerst ausweicht, hat verloren; weicht keiner aus, kommen beide Autofahrer ums Leben. In diesem konkreten Fall hat allerdings der Fahrer des gelben Autos die bessere Ausgangslage, weil die Besatzung des rot-grünen Wagens sehr wohl um Christian Lindners Situation weiß, der sich jetzt kein Ausweichmanöver mehr leisten kann (weil dies ebenfalls zu seinem politischen Tod führen würde, zumal soeben auch noch die FDP-Basisinitiative für den Ampelausstieg die erste Hürde genommen hat). 

Spieltheoretisch gesehen wäre es für Grüne und SPD also rational, „auszuweichen“ und inhaltlich der FDP zu folgen. Was das konkret bedeutet, hat Lars Feld in seinem FAZ-Beitrag übrigens wie folgt formuliert: „Die Finanzpolitik der Bundesregierung wird nicht durch eine Änderung der Schuldenbremse, sondern durch eine Stärkung der privaten Investitionstätigkeit und der Innovation verbessert.“

Oder wie der berühmte „Pate“ Don Vito Corleone in diesem Fall gesagt hätte: Wir machen euch ein Angebot, das ihr nicht ablehnen könnt.

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