Grüne wollen Asyl-Kompromiss der EU aufweichen - Macht hoch die Tür, die Tor’ macht weit

Erst vor wenigen Tagen hat es die EU in Sachen Asyl zu einem historischen Mini-Kompromiss gebracht. Aber die Grünen schämen sich dafür, dem Kompromiss zugestimmt zu haben – und wollen nun in Europa für dessen Aufweichung kämpfen.

Man werde jetzt nicht weichen, sondern genau so weiter machen, drohte Parteivorsitzende Ricarda Lang unter tosendem Applaus / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Der kleine Parteitag der Grünen in Bad Vilbel bei Frankfurt am Main stand mit dem Heizungsgesetz und der Migrationspolitik ganz im Zeichen der aktuellen politischen Debatten. Er diente dem Abgleich und der Vermittlung zwischen weitreichenden Erwartungen der eigenen Parteibasis und den komplexen politischen Anforderungen, die durch die grünen Regierungspolitiker zu bewältigen sind.

Führungen linker Parteien in Regierungsverantwortung müssen sich in solchen Situationen immer verhalten wie katholische Geistliche in einer Messe. In dem Bewusstsein, dass die Schäfchen der eigenen Gemeinde ganz unterschiedliche Sichten auf die Welt haben, wird das Gemeinsame in der Predigt durch Ausflüge in transzendente Welten gestiftet. Dort, wo es nur um den Himmel geht und man nicht mit den irdischen Herausforderungen konfrontiert ist, lässt sich leicht Konsens stiften.

Alle sind willkommen

Und als hätte es weder die Flüchtlingskrise 2015/16 noch den Wiederaufstieg der AfD gegeben und als ob diese Partei in Umfragen nicht längst SPD und Grüne überflügelt hätte, träumt selbst der Bundesvorstand der Grünen in seinem Leitantrag noch immer von einer Welt offener Grenzen. Ganz ausdrücklich distanzieren sich die Grünen sogar von der Einschätzung der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die jüngst erreichte Einigung auf europäischer Ebene sei ein „historischer Erfolg“. Die Grünen schämen sich regelrecht dafür, dass Europa mit ihrer Hilfe den Zustrom von außen bremsen möchte. Stattdessen formulieren sie das Ziel, die „Situation der Menschen, die in Europa Schutz suchen, (…) deutlich“ zu verbessern.

Egal ob ausländische Fachkräfte, Flüchtlinge oder Asylbewerber: Sie alle sind den Grünen unterschiedslos und offenbar auch grenzenlos willkommen. Es komme darauf an, „dass Migrant*innen sich schnell bei uns einleben und Geflüchtete schnell Teil der Gesellschaft werden“. Dazu müsste jetzt schnell gehandelt werden: mehr Kita- und Schulplätze, mehr Wohnungen, mehr Sprach- und Integrationskurse und vor allem: mehr Geld. Wie das alles angesichts eines eingebrochenen Immobilienmarktes, der Schuldenbremse und eines eklatanten Fachkräftemangels überhaupt möglich sein soll? Bei den Grünen findet man in dem Beschluss dazu nichts. Absolut gar nichts.

Stattdessen wollen sie sogar die Rückführungsmöglichkeiten nicht anerkannter Asylbewerber begrenzen. Ausdrücklich lehnen sie das bisher praktizierte Instrument sicherer Herkunftsstaaten ab: „Das Konzept der sicheren Herkunftssaaten finden wir falsch, denn es löst keine Probleme.“ Auch der Familiennachzug soll erleichtert und Abschiebungen vor allem als „freiwillige Rückkehr“ praktiziert werden. Eine „Politik der Humanität und Ordnung“ nennen die Grünen das. Von Humanität sieht man dabei viel, von Ordnung hingegen nichts.

Ohne Auswirkungen auf die Realität

Allein im Jahre 2022 wurden in der EU 880.000 erstmalige Asylanträge registriert, darunter 217.000 in Deutschland. Die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind darin nicht einmal enthalten. Der EU-Kompromiss, den Nancy Faeser als „historischen Erfolg“ feiert, gilt dabei ausschließlich für Asylbewerber aus Staaten, bei denen die Anerkennungsquote unter 20 Prozent liegt. Davon sind nur rund ein Viertel der Asylbewerber überhaupt betroffen. Nur ihre Asylverfahren sollen künftig in entsprechenden Zentren an den Grenzen der Europäischen Union bearbeitet werden. Was geschieht, wenn diese gar kein Asyl erhalten, ihre Herkunftsländer die Rücknahme aber verweigern, hat Bundesinnenministerin Faeser erst jüngst bei Maischberger eingestanden: Die werden dann einfach wie bisher auf die Länder der europäischen Union verteilt.

 

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Faeser verteidigt den errungenen Kompromiss dabei engagiert, denn erstmals erfolge die Verteilung von Flüchtlingen zumindest nach einem „verbindlichen Solidaritätsschlüssel“. Alle Länder müssten sich endlich daran beteiligen, betont sie. Auf ein wichtiges Detail geht sie dabei nicht so gerne ein: Der Mechanismus soll verbindlich nur für 30.000 Personen gelten – also ganze 3,5 Prozent aller Asylbewerber des Jahres 2022 auf dem Gebiet der EU. 

Und selbstverständlich haben Länder wie Ungarn und Polen längst angekündigt, an diesem Verfahren nicht teilnehmen und lieber je Fall 20.000 Euro Strafe zahlen zu wollen. Angesichts der Langfristkosten, die Asylbewerber und Flüchtlinge verursachen können, ist das allerdings ein Schnäppchen. Alles in allem wird das, was Nancy Faeser für einen „historischen Erfolg“ hält und vielen Grünen fast als humanitäre Katastrophe vorkommt, in Deutschlands Kommunen so gut wie gar nichts ändern.

Ohne Konzept zur Bekämpfung von Fluchtursachen

Mit keinem einzigen Wort gehen die Grünen in ihrem Beschluss dabei der Frage nach, ob es auch finanzielle, infrastrukturelle, gesellschaftliche und politische Grenzen bei Zuwanderung, Flucht und Asyl geben könnte. Als beklagten nicht schon heute die Kommunen eine völlige Überlastung und als nähme die Bereitschaft in der Bevölkerung, weiteren weitgehend unkontrollierten Zuzug zu akzeptieren, nicht rapide ab. Die Grünen scheinen zu einem Gesellschaftsexperiment bereit, dessen Belastung für das demokratische System für sie keine Rolle spielt.

Als eigentliche „Kernaufgabe“ bezeichnen sie es immerhin, „die Ursachen für Flucht und Vertreibung anzugehen“. Das allerdings steht im offenkundigen Widerspruch zur qualitativen wie quantitativen Dürftigkeit der entsprechenden Ausführungen. Wie genau sie das nämlich anstellen wollen, darüber erfährt der geneigte Bürger nichts. Außer: Man wolle „Außenpolitik, die Diplomatie und Prävention von Konflikten in den Mittelpunkt“ stellten. Schon das eklatante Missverhältnis zwischen einer ausgeprägten liberalen Willkommenskultur und der raunenden Sprachlosigkeit bei der Bekämpfung der Fluchtursachen verrät das eigentliche Problem.

Mit missionarischem Eifer gegen die Realität

Für gewöhnlich führen Regierungsbeteiligungen zu Lernprozessen beim politischen Personal. Die ach so hehren programmatischen Grundsätze, mit denen man noch die Wahlen gewonnen hat, werden einem Realitätscheck unterzogen und pragmatisch an die Erfordernisse angepasst. Die Grünen hingegen verbleiben im Predigtmodus, nicht nur in der Zuwanderungs- und Asylpolitik. 

Mit geradezu missionarischem Gestus bauten Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und die Parteivorsitzende Ricarda Lang die Delegierten nach Wochen öffentlicher Prügel und sinkender Zustimmungswerte wieder auf. Zwar wehe einem beim Regieren ein harter Wind entgegen, aber: „Wir kreuzen gegen den Wind“, „wir verändern Deutschland“, rief Habeck einer begeisterten Menge zu. Auch Lang führte in ihrer Eröffnungsrede die Delegierten zu trotziger Entschlossenheit. Man werde jetzt nicht weichen, sondern genau so weiter machen, kündigte sie unter tosendem Applaus an. 

Den Kompromiss wieder aufweichen

Auch das trug dazu bei, den Parteitag nicht zum Kippen zu bringen. Genau danach sah es zwischenzeitlich durchaus aus. Dazu trug vor allem Schleswig-Holsteins Integrationsministerin Aminata Touré bei. In einer leidenschaftlichen Rede und unter Tränen machte sie klar, dass die Zustimmung grüner Regierungsmitglieder zum EU-weiten Mini-Kompromiss für sie im Grunde so etwas wie Verrat an den Idealen der Grünen sei. Sie lehnte die Einigung rundheraus ab und erntete dafür viel Zustimmung. 

Das zwang die Parteiführung der Grünen zumindest zu einer Konzession an die Basis. Erst am Ende der noch ausstehenden Verhandlungen wollen die Grünen entscheiden, ob sie den Kompromiss auf auf EU-Ebene letztlich mittragen werden: „Unsere jeweiligen Positionierungen zu den Rechtsakten werden wir davon abhängig machen, ob unter dem Strich Verbesserungen in der Europäischen Asylpolitik und auch für Europa stehen.“

Die Grünen versprachen sich allesamt einstimmig in die Hand, in den kommenden Wochen und Monaten auf europäischer Ebene für die Aufweichung des gerade erst errungenen Kompromisses zu kämpfen. Auch Außenministerin Baerbock will sich entsprechend engagieren, weil sie sich selbst ganz „zerrissen“ fühle. 

Sonderlich erfolgreich dürften diese Bemühungen allerdings kaum sein, dafür werden allein schon Polen und Ungarn sorgen. Deutschlands Grüne kämpfen im Grunde gegen die gesamte Europäische Union. Das alles hat etwas vom Mut der Verzweifelten. Und von Gläubigen, die sich zu einer historischen, wenn nicht gar religiös inspirierten Mission berufen fühlen. 

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