Gedenken zum 9. November - „Es ist leeres Gerede. Es folgen keine Taten“

Vor genau 85 Jahren brannten in Deutschland die Synagogen. Wenn Politiker heute in ihren Gedenkreden nicht auch sagen, was sie konkret gegen die neue Welle des Antisemitismus unternehmen wollen, bleibt „Nie wieder“ eine hohle Phrase, sagt der Schriftsteller Rafael Seligmann im Cicero-Interview.

Außenministerin Annalena Baerbock legt am Holocaust-Mahnmal in Berlin Blumen nieder / dpa
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Rafael Seligmann, Jahrgang 1947, ist Historiker, Journalist und Schriftsteller. Er lehrte an der Ludwig-Maximilian-Universität Strategie und Sicherheitspolitik. In Kürze erscheint sein Buch „Brandstifter und Mitläufer. Hitler, Putin, Trump“ im Verlag Herder.

Herr Seligmann, heute ist der 85. Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938, und es wird wieder zahlreiche Gedenkveranstaltungen geben. Heute steht das Gedenken im Schatten des 7. Oktober. Auf deutschen Straßen finden wieder antijüdische Demonstrationen statt. Erwarten Sie von Politikern, bei Gedenkveranstaltungen auch darauf einzugehen?  

Ich erwarte es, ich nehme an, sie werden das auch tun. Aber wenn ich im Laufe meiner 76 Jahre eines gelernt habe, dann, dass es eine Sache ist, was man sagt, und eine andere Sache, was man tut. Und da sehe ich eine sehr, sehr große Diskrepanz, die weit über Deutschland hinaus geht. Aber es geht auch, und das vergessen viele, um Deutschlands innere Verfasstheit. Es geht nicht nur um die Juden, denen so viel angetan wurde, sondern es geht um Deutschland selbst. Das war 1938 so, und so ist es leider heute wieder.  

Sie haben den Eindruck, dass man das noch nicht so richtig verstanden hat?  

Nein, das hat man nicht verstanden. In vielen Medien wird jetzt zwar durchaus gefragt, ob Juden in Deutschland noch sicher sind. Man bebt vor Mitgefühl, macht sich aber nicht klar, dass das, was in Israel passiert ist, das Massaker an 1400 Juden, und vor allem das, was sich derzeit auf deutschen und europäischen, auf nord- und südamerikanischen Straßen abspielt, der Versuch einer Einschüchterung ist. Und zwar nicht nur der paar 100.000 Juden, die in diesen Ländern jeweils leben, sondern der Gesamtgesellschaft. Das ist das, was mich wirklich umtreibt.

Die Gesellschaft ist schon dermaßen eingeschüchtert. Ich kann mich erinnern, dass schon 2014 – nach Terrorangriffen aus Gaza, auf die es auch damals eine Reaktion Israels gab – islamistische Gruppen durch deutsche Innenstädte liefen und „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ oder „Juden ins Gas“ skandierten. Es gab im Endeffekt keine einzige Verurteilung, kaum Anzeigen.

Aber das ist doch jetzt anders, oder?

Rafael Seligmann / privat

Es wird diesmal zwar mehr Anzeigen geben, aber ich garantiere Ihnen, keine Verurteilung zu einer Haftstrafe. Da werden Fahnen verbrannt, da werden Juden misshandelt und eingeschüchtert. Und es geschieht nichts. Und es sind ja nicht nur Juden. Wenn ich an den Lehrer Samuel Paty denke, der in Frankreich enthauptet wurde, weil er es gewagt hatte, Kritik an Islamisten zu üben. Und das Ergebnis ist – da kaum eine reale Reaktion außer nichtssagenden Reden erfolgt –, dass sich kaum ein französischer Lehrer mehr traut, etwas zu sagen.

Das Ergebnis spiegelt sich dann in der großen Politik wider. Der französische Staatspräsident kommt nach den Massenmorden nach Israel, bekundet sein Mitleid. Und was geschieht dann? Seine Vertreterin bei den Vereinten Nationen stimmt einer Resolution zu, in der die Mörderbande Hamas nicht einmal beim Namen genannt wird, in der die Geiseln nicht einmal erwähnt werden.

Und Deutschland enthält sich der Stimme, obwohl man unmittelbar nach dem Massenverbrechen sagte: Das ist furchtbar und unser Mitleid und unsere Solidarität und deutsches Staatsinteresse und das ganze Mantra. Und wahrscheinlich wird es auch mehr Waffenlieferungen nach Israel zur Verteidigung geben. Aber man traut sich nicht mehr zu sagen: Wer ist der Schuldige und wer ist das Opfer? Ein großes deutsches Magazin hat jetzt geschrieben: Wie weit geht Israel noch?  

Das war wohl der Spiegel?  

So ist es. Wer hat nach dem 11. September 2001 so etwas gesagt? Wer sagt das bei irgendeinem Staat, der sich verteidigt? Bei der Ukraine? Nur gegenüber Israel. Ich werde tausendmal angesprochen: Das ist ja furchtbar, was in Ihrem Land geschieht, aber müssen die Juden so rachsüchtig sein? Wenn sie das Gleiche tun, wenn sie sich wehren, wie alle anderen Staaten es tun würden, dann sind sie rachsüchtig. Deutschland verteidigt seine Sicherheit am Hindukusch. Und Israel muss das im eigenen Land tun. Das alles wird ausgeblendet und man spricht von den bedauernswerten Opfern des 9. November 1938.  

Sind angesichts der Enthaltung Deutschlands und dieser Doppelmoral diese Gedenkreden dann nicht verlogen, wenn man zwar sagt „Nie wieder“, dem aber keine Taten folgen lässt?  

Es ist leeres Gerede. Es kommt mir vor wie ein Arzt, der das Zimmer eines Sterbenden betritt und sagt: „Wie geht es uns? Das wird schon wieder.“ Und dann drückt er seine Hand und geht wieder raus. Es folgen keine Taten. Was mich in die Verzweiflung treibt, ist nicht das Versagen. Sondern man begreift nicht, dass die Juden lediglich ein Seismograf sind, dass es um Dinge geht, die die gesamten westlichen Demokratien, die sogenannten aufgeklärten Gesellschaften betreffen.

Wenn sich Leute nicht mehr trauen, ihre Meinung kundzutun; wenn Lehrer schon nicht mehr wagen, in den Schulen zu sagen, was Sache ist; wenn Journalisten Angst haben, bestimmte Namen zu nennen. Selbst in der AfD, die sich doch so gerne brüstet, wie mutig sie ist, spricht ein Tino Chrupalla von 1400 israelischen „Kriegstoten“. Welcher Krieg? Das war ein kaltblütiger Mord. Und das verstehe ich nicht, dass die Gesellschaft nicht sieht, wie sehr sie bedroht ist. Die Bevölkerung spürt das natürlich. Die Neigung vieler zur AfD hat vor allem einen Grund: Man hat Angst vor einer radikalen Migration, die nicht nur die Juden betrifft, sondern die gesamte Gesellschaft. Das wusste man sehr früh.  

Nun ist ja die AfD offenbar auch keine Alternative, wenn man an die Äußerung von Chrupalla denkt, die Sie gerade erwähnt haben ...  

Nein, das ist keine Alternative. Es ist einfach erschreckend, wie auch in Amerika, dem Hort der Freiheit und dem einzig ernst zu nehmenden Alliierten Israels, der Präsident Angst hat vor einer dreifachen Koalition aus Moslems, Linksradikalen und Gruppen von Minderheiten, die auf die Palästinenser setzen.

Woher kommt denn diese Angst in den westlichen Gesellschaften? Ist das eine begründete Angst oder nicht auch einfach Feigheit, dieser politischen Koalition, die Sie erwähnt haben, entschlossen entgegenzutreten?  

Das Leben ist riskant. Wenn ich in der Frühe aufstehe, kann ich schon ausrutschen. Politik ist riskant, aber Leben heißt, die Angst überwinden. Angst ist nichts Negatives, das ist eine instinktive Reaktion. Aber frei zu leben, heißt auch, seine Angst zu überwinden. Die meisten denken, eine freie Gesellschaft ist das Schlaraffenland. Da können wir Tag und Nacht über Gender und Umwelt sprechen, das sind ja alles unglaublich wichtige Themen. Aber bei den Sachen, die uns direkt angehen, da hat man Angst, man könnte die Gefühle von Leuten verletzen oder sich selbst in Gefahr bringen. Das sind ja Leute, die verstehen keinen Spaß.

Man widmet sich auch nicht gründlich genug der Frage der Migration. Karl Lagerfeld hat 2017 seine vehemente Kritik an Angela Merkel geäußert und gesagt: Frau Merkel lässt Millionen geschworene Judenfeinde in diese Gesellschaft. Und das sind ja nicht nur Leute, die Juden hassen. Die hassen Homosexuelle, die hassen Frauen mit kurzen Ärmeln. Die hassen alles, was nicht ihren Maßstäben entspricht. Und wenn ich dann Gruppen sehe wie „Queer for Palestine“, denke ich, ich bin im Irrenhaus.  

 

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Warum machen solche Gruppen das? Ist das Identifikation mit dem Aggressor oder hofft man, dann verschont zu werden? Oder ist es tatsächlich ein Handeln aus Überzeugung? Was treibt diese Leute an?  

Vor allem Dummheit. Dummheit und Bequemlichkeit. Man hat entdeckt, dass der Kolonialismus schlecht war. War er ja auch. Und dann hat man sozusagen das Kapitel abgeschlossen. Man weiß, Kolonialisten sind schlecht, und Zionisten stehen scheinbar aufseiten der Kolonialisten. Man macht sich gar keine Gedanken, was heute Israelfeindschaft bedeutet.

Wir haben über Jahre hinweg die Vorläufer gesehen, etwa bei der Documenta. Man identifiziert sich mit dem globalen Süden, da kommen Antisemiten – anders kann ich sie nicht nennen – nach Deutschland und werden mit Stipendien gefördert und gefeiert. Und dass sich da ein paar Juden aufregen, ja gut ... Aber dass die Kunst insgesamt, die Gesellschaft insgesamt bedrängt und unterdrückt werden soll, das will man sich aus Trägheit und Feigheit nicht eingestehen.  

Ist es wirklich nur Trägheit und Feigheit, oder spielt nicht auch tatsächlich eine ganz gehörige Portion eigener Antisemitismus mit hinein?  

Der Antisemitismus ist eine Grundströmung in der Gesellschaft. Den gab es, gibt es und wird es weiter geben. Es gibt ja auch Juden, die da mitmachen. Ich habe Freunde mit Kindern in den USA, die studieren, die immer an Demos für BDS und gegen Zionismus teilgenommen haben. Die werden heute von Kommilitonen bedroht, weil sie Juden sind. Es wird natürlich nicht gesagt „Juden“, das ist politisch nicht korrekt. Nein, da ist jeder Jude automatisch Zionist, und man stellt sich auf die Seite des Rechts. Und man sagt: Sobald sie die Gelegenheit haben, bringen sie Palästinenser um. Ich kenne keine andere Armee der Welt – und das wird nirgends gewürdigt –, die immer wieder Feuerpausen einräumt und die Leute vorher warnt. Machen das die Amerikaner? Machen das die Franzosen?  

Die amerikanische Reaktion ist ja sowieso verlogen: von Israel Waffenstillstand und Feuerpausen zu fordern, was der eigenen Kriegführung überhaupt nicht entspricht.  

Unter der Präsidentschaft des heiligen Barack Obama wurden so viele gezielte Tötungen weltweit verübt wie unter keinem anderen Präsidenten. Es wird auch selten gesagt: Moment, die Hamas hat ja noch 240 Geiseln. Machen wir doch eine Feuerpause, in der alle Geiseln übergeben werden. Die Hamas bietet lediglich zwölf Leute an, das ist wirklich ein Handel mit Menschen, ein mörderischer Handel. Und 120 Staaten in der UNO wollen das nicht einmal erwähnt haben, und Deutschland hält dabei seinen Mund.

Überall wird verkündet, Israels Sicherheit ist Deutschlands Staatsräson. Und was macht man heute, am 9. November? Jetzt holt man die 102 Jahre alte Margot Friedländer aus der Versenkung und ist stolz darauf, dass sie wieder in Deutschland eine Heimat gefunden hat. Obwohl sie sagt, die Ereignisse jetzt machen sie unendlich traurig. Aber sie wird nur als Staffage irgendwo hingestellt und darf Schüler besuchen. Aber das sich die Gesamtgesellschaft in einer Bedrohungssituation befindet, das wird nicht erwähnt.

Offenbar fühlt sich die Gesamtgesellschaft noch nicht ausreichend bedroht.

Auf was wartet man denn? Ich prophezeie Ihnen, dass es demnächst in Europa wieder in vermehrter Zahl Anschläge geben wird. Und dann wird man sagen: Ja, das liegt an dieser heftigen Reaktion der Israelis. Man wird gar nicht mehr sagen, worauf denn reagiert wurde. Man sagt, es gab einen terroristischen Anschlag, nicht, wer ihn verübt hat, und jetzt überreagieren die Israelis in ihrer Rachsucht. Es wird gar nicht bedacht, in welche Gesamtsituation sich die westliche Welt befindet.

Mir hat ein einziger Mann in staatlicher Stellung imponiert. Das ist der Generalinspekteur der Luftwaffe, der Ingo Gerhartz, der nach Israel gefahren ist und Blut gespendet hat. Diese Geste zeigt tatkräftige Solidarität und nicht dieses Geschwurbel von den armen Juden und dass die Nazis böse waren, das wissen wir ja. Aber was tut ihr heute? 

Was sollten denn Ihrer Meinung nach Politiker bei Gedenkveranstaltungen heute sagen, damit das vielzitierte „Nie wieder“ keine hohle Phrase bleibt?  

Ich wünsche mir, dass gesagt wird, dass wir nicht nur keinen Antisemitismus, sondern überhaupt keinen Antihumanismus in diesem Land dulden. Und dass es nicht beim Reden bleibt. Leute, die Straftaten gegen Juden oder andere Menschen begehen, müssen abgeschoben werden. Es sollen 280.000 Migranten aus dem einen oder anderen Grund abgeschoben werden. Aber nur bei 14.000 gibt es konkrete Maßnahmen, das sind fünf Prozent.

Den Leuten muss klar gemacht werden, wenn sie Demonstrationen gegen einzelne Menschengruppen veranstalten – und mir ist es einerlei, ob das Juden sind oder nicht –, wenn sie gegen humanistische oder rechtliche Grundlagen verstoßen, dann müssen sie dieses Land verlassen. Das muss ganz klar sein und darf sich nicht auf Reden beschränken. Jedem muss klar sein, wenn ich so etwas tue, muss ich dieses Land verlassen.

Was halten Sie von der Forderung der Union, dass jemand, der eingebürgert werden will, bekennen muss, dass er kein Antisemit ist?

Es geht nicht nur um Antisemiten. Wer gegen irgendwelche Minderheiten agitiert oder gegen irgendwelche Freiheitsgrundsätze verstoßen will, hat in diesem Land nichts zu suchen. In ganz Europa haben sie nichts zu suchen. Sie müssen aus unseren freiheitlichen Ländern entfernt werden ohne Wenn und Aber. Solange es bei Gerede bleibt, ist es eigentlich noch schmerzhafter, weil der Patient weiß, er darf nicht übermäßig essen, bekennt sich dazu, und frisst trotzdem weiter. Er lässt sich alles bieten, und dann ist man entsetzt. Manche Länder benehmen sich heute wie die Beschwichtigungsländer England und Frankreich im Jahr 1938. Und die Quittung haben sie ein Jahr später bekommen.  

Werden Sie selber heute an Gedenkveranstaltungen zum 9. November teilnehmen?  

Ich bin eingeladen, an der Veranstaltung in der Brunnenstraße teilzunehmen. Ich beabsichtige, dort hinzugehen.  

Werden Sie da auch reden?  

Nein, nein, dazu müsste ich ja erst 102 Jahre alt werden.  

Was würden Sie denn sagen, wenn man Sie fragen würde?  

Ich würde vielleicht mit einem Zitat von Martin Buber anfangen: „Das Schlimme ist nicht, dass wir sündigen, dass wir Fehler begehen. Die Versuchung ist groß, und der Mensch ist schwach. Das Schlimme ist, dass wir nicht umkehren.“ Wir haben in jedem Augenblick die Chance zu sagen, wir haben ein demokratisches Selbstbewusstsein und lassen uns nicht auf der Nase herumtanzen. Niemand hindert uns daran, außer unsere jämmerlichen Feigheit. 

Das Gespräch führte Ingo Way.

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