SPD-Fraktionschef - Rolf Mützenich wird Kanzlerkandidat - wenn es nach Eskabo geht

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat mit einer missglückten Personalie und der Absage an die atomare Beteiligung Deutschlands seine Partei in Aufruhr versetzt. Der Parteilinke ist der Favorit der SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Kanzlerkandidat.

Herzenskandidat der Parteivorsitzenden und möglicher Sargnagel einer einst stolzen Volkspartei: Rolf Mützenich / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Manchmal möchte man Fotograf sein. Weil ein Bild oft mehr sagt, als man beschreiben kann. Das von Rolf Mützenich und Eva Högl im Bundestag ist so eines. Der SPD-Fraktionschef fasst sich mit einer Hand an die Brust und sieht aus, als wolle er sagen: „Für mich?“, während die soeben neu gewählte Wehrbeauftragte des Bundestags ihrem Parteifreund einen Blumenstrauß entgegenreckt, den er gerade erst seiner Fraktionskollegin in die Hand gedrückt hatte.

„Für mich?“ - Rolf Mützenich und Eva Högl / dpa

Högl hätte allen Grund, Mützenich auf Rosen zu betten. Er hat ihr zu diesem neuen Posten verholfen. Ein Dornengesteck wäre aber auch passend gewesen. Denn der Weg zu dieser Personalie lag voller Dornen, und damit sie zustande kam, musste die SPD einen ihrer umtriebigsten, auch streitbarsten Politiker verlieren. An einer scheinbar unbedeutenden Personalfrage hat sich abermals eine Richtungsentscheidung festgemacht.

Falke gegen Taube

Es kursieren verschiedene Versionen darüber, warum der Hamburger Johannes Kahrs, der 22 Jahre lang für die SPD im Bundestag kämpfte, seinen Traum nicht erfüllt bekam, Wehrbeauftragter zu werden. Zum Beispiel jene, dass die Berliner Abgeordnete Eva Högl statt seiner versorgt werden musste, um Michael Müller, dem traurigen und scheidenden Bürgermeister von Berlin, mit einem sicheren Platz auf der nächsten Wahlliste einen Trostpreis als Bundestagsabgeordnetem zu verschaffen. 

Die Versionen sind alle falsch. Es ist wie so oft in der Politik viel einfacher. Mützenich konnte den Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels „noch nie leiden“, wie jemand aus der Fraktionsspitze formuliert. Wollte ihn dort weghaben, auch weil Bartels diesen Posten nutzte, um eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen, die nicht diejenige des Friedenspolitikers Rolf Mützenich ist. Falke gegen Taube, Realo gegen Fundi, das war die Ausgangslage. 

Die Selbstsprengung des Johannes Kahrs

Dann stellte sich heraus, dass Johannes Kahrs in der Unionsfraktion nicht durchsetzbar war. Neben Fraktionschef Ralph Brinkhaus hatten sich auch Verteidigungsministerin Annegret Kramp-­Karrenbauer und Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen Kahrs gestellt. Sondierungen nach ausreichend Leihstimmen von Grünen und FDP durch den Parlamentarischen Geschäftsführer Carsten Schneider blieben erfolglos. Eine Niederlage von Mützenich drohte. Das war die Geburtsstunde der Kandidatin Eva Högl, Juristin, sicherheitspolitisch unbeleckt, Fraktionsvize und Kopf des sogenannten Netzwerks, einer dritten Vereinigung von SPD-Parlamentariern neben der Parteilinken und deren Gegenpol, dem Seeheimer Kreis, dem Kahrs lange Jahre vorstand. 

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Nicht zu einer Niederlage, aber zu einem dornigen, verlustreichen Sieg wurde die Angelegenheit für Mützenich dann doch, weil Kahrs, gewiefter, manche würden sagen: ruchloser Strippenzieher und Kenner des politischen Geschäfts, größtmöglichen Kollateralschaden stiftete, indem er sich in der entscheidenden Fraktionssitzung zu Wort meldete und seinen Rückzug von allen Ämtern verkündete. Völlig überraschend kam das selbst für Leute, die Kahrs gut kennen. Die Selbstsprengung des Johannes Kahrs in den eigenen Reihen verfehlte ihre Wirkung nicht.

Man muss nicht Oberst der Reserve sein

Man könnte die Personalie Högl als Betriebsunfall abtun, zumal absehbar ist, dass sie den Job der Wehrbeauftragten auch als Novizin gut ausüben wird. Man muss dafür nicht an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg studiert haben und nicht Oberst der Reserve sein wie Kahrs. Claire Marienfeld, in den Neunzigern erste Frau in diesem Amt, war auch eine geschätzte Wehrbeauftragte, die ein Ohr für die Soldaten hatte. Und diejenige, die die fachliche Eignung von Högl am lautesten infrage stellte, die FDP-Abgeordnete Marie-­Agnes Strack-Zimmermann, war Vize-Bürgermeisterin in Düsseldorf, bevor ihre Fraktion sie zur Verteidigungsfachfrau erklärte.

Nein, die Weiterungen des Vorgangs führen nicht in die Bundeswehr und ihre Belange. Sie führen direkt in die SPD. Zu ihrem Spitzenduo und eben Rolf Mützenich

Einzelgänger mit Prinzipien 

Der 60-jährige Politikwissenschaftler ist ein klassischer linker Sozialdemokrat: aus einer Arbeiterfamilie, 1975 als Schüler in die SPD eingetreten, holt seinen Wahlkreis in Köln regelmäßig direkt. Seine Mission ist die Friedenspolitik, seine Grundsätze klingen wie die Sprechgesänge der Protestler in Mutlangen und Neu-Ulm, als seinerzeit die atomare Aufrüstung zwischen den USA und der Sowjetunion ihren Lauf nahm, mit der Folge, dass gerade auf deutschem Boden viele atomare Mittelstreckenwaffen stationiert wurden. 

Anfang der neunziger Jahre promovierte Mützenich an der Uni Bremen zum Thema „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“. Eine Mission, die ihn seither begleitet – als außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, ab 2013 als stellvertretender Fraktionschef. Er ist langjähriges Mitglied der Parlamentarischen Linken und hatte den Kampf um die Nachfolge von Andrea Nahles an der Fraktionsspitze mit der Unterstützung dieses Teiles der Partei gewonnen. Zu seinem Amtsantritt schrieb ein in SPD-Belangen versierter Korrespondent des Tagesspiegels, in seiner Fraktion gelte er als „Einzelgänger mit Prinzipien“. 

Das neue Häkelmuster der SPD

Dass ein „Parteirechter“ wie Bartels von einem Parteilinken wie Mützenich abgesägt wurde und ein weiterer wie Kahrs nicht zum Zuge kam, passt in ein Muster, an dem in der SPD seit ziemlich genau einem Jahr gehäkelt wird. 

Am 4. Juni 2019 war es, dass Andrea Nahles sich wie Kahrs jetzt von allen Ämtern zurückzog und in die heimatliche Eifel eilte wie seinerzeit Oskar Lafontaine nach seinem Zusammenstoß mit Gerhard Schröder ins Saarland. Die SPD stand ohne Partei- und Fraktionschefin da und hatte nach dem Abgang von Sigmar Gabriel nun das nächste politische Schwergewicht verloren. 

Kühnerts Wunschduo

Der Juso Kevin Kühnert stieß damals in das machtpolitische Vakuum und bugsierte sein Wunschduo an die Spitze der SPD. Sogar bei der Partnerwahl war er behilflich. Für seine Favoritin Saskia Esken fand sich Norbert Walter-­Borjans, vormals Finanzminister in Nordrhein-Westfalen. Eben jener Walter­-Borjans sprach im außen- und sicherheitspolitischen Teil seiner Rede vor der Wahl auf dem Berliner Parteitag im Dezember so, als hätte Rolf Mützenich ihm die Sätze in den Block diktiert. 

Milliardenschwere Investitionen „in Panzer und Haubitzen statt in Schulen und Straßen“ prangerte Walter-Borjans da an und bezichtigte die in gemeinsamer Koalition amtierende Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer einer „Militarisierung der Außenpolitik“. Mützenich hatte zuletzt den etwaigen Kauf von amerikanischen F-18-Jets durch Kramp-Karrenbauer zum Anlass genommen, die nukleare Teilhabe Deutschlands infrage zu stellen. Der scheidende Wehrbeauftragte Bartels hatte zuletzt Kampfdrohnen für die Bundeswehr gefordert. Das zeigt, wie groß der Riss ist, der in dieser Frage durch die SPD geht. 

Beliebtheitswerte der SPD wie festgenagelt

Nach der Wahl des linken Duos hat es in der SPD eine Austrittswelle der Realos gegeben, die sich vor allem von der strammen Linken Esken nicht mehr vertreten sehen. Die letzten verbliebenen Exemplare dieser Art schütteln heute nur noch mit dem Kopf. „Ich verstehe meine Partei und ihre Spitze nur noch bedingt“, sagt der frühere Wehrbeauftragte und Seeheimer-Sprecher Reinhold ­Robbe gegenüber Cicero. Und der frühere Partei- und Fraktionschef Rudolf Scharping, einstmals Verteidigungsminister, erinnerte in einem Gastbeitrag für Cicero an die Wegmarken von Herbert Wehner und Willy Brandt, mit denen die SPD einen eskapistischen und isolationistischen Außen- und Sicherheitsansatz hinter sich gelassen habe.

Es ist nicht nur dieser Teil der Politik, der die SPD so unattraktiv macht. Der Kurs der Parteispitze lässt die Regierungspartei SPD in den Umfragen wie vernagelt bei 15 Prozent verharren, während die CDU wieder in Höhen von 40 Prozent wie vor der Flüchtlingskrise entschwebt. Bei der SPD profitieren lediglich die Minister in ihren persönlichen Beliebtheitswerten, namentlich Arbeitsminister Hubertus Heil und Finanzminister Olaf Scholz. „Die machen einen guten Job“, bekommen Leute aus der Fraktion in ihren Wahlkreisen bestätigt. Die Stunde der Exekutive zahlt aber bei der SPD im Unterschied zum Koalitionspartner überhaupt nicht ein. 

Die Parteispitze macht Oppositionspolitik

Manche, die sich ein anderes Führungsduo gewünscht hätten, stellen sich jetzt vor, Scholz und die Potsdamerin Klara Geywitz steuerten die Partei. Dann, so sehen sie es jedenfalls, würde das Wasser durchaus auch auf die Mühlen der SPD gelenkt werden. So aber regieren die Minister in einer Großen Koalition, doch schon der Fraktionschef macht Oppositionspolitik, die Parteispitze sowieso. 

Mit großer Sorge sehen das jene, die sich nur eine Person als Kanzlerkandidaten für die SPD vorstellen können. „Es gibt nur einen, der das machen kann, und das ist Olaf Scholz“, heißt es aus der Fraktion. Zugleich wird gesehen, wie weit Scholz und die drei anderen politisch auseinanderklaffen. Beinfreiheit müsse er bekommen, heißt es, Scholz dürfe auf keinen Fall zu „Steinbrück 2“ werden. Dem Kanzlerkandidaten von 2013 hatte die SPD damals ein Programm auf den Leib geschneidert, das seinen Überzeugungen widersprach.

Hätte, hätte, Fahrradkette

Scholz, das fällt allen auf, die bei den Sitzungen und Videoschaltungen dabei sind, verhält sich respektvoll gegenüber der neuen Parteispitze. Das wird angesichts der von ihm gerne an den Tag gelegten intellektuellen Hybris als Ehrerbietung gegenüber dem Amt des Parteivorsitzenden gedeutet, vielleicht auch als Gunstbeweis, für den er sich die Kanzlerkandidatur als Gegengunst erhofft. Unter den maßgeblichen Präsidiumsmitgliedern und den Ministerpräsidenten gebe es ohnehin viele, die sich nur einen als Kanzlerkandidaten vorstellen können, nämlich Olaf Scholz.

Aber geht das? Der Oberrealo Scholz und die Fundis Esken und Walter-Borjans im Gleichschritt in einem Wahlkampf? Eigentlich wäre es jetzt so einfach, sagen die Unterstützer von Scholz. Olaf und Angela, Merkel und Scholz, das seien die Garanten der Stabilität in der Krise, wieder und wieder müsste man diesen Refrain singen, und schon würde auch die SPD parteipolitisch von der Corona-­Krise profitieren. Dann nach der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen im September ein SPD-Parteitag, der ­Scholz zum Kanzlerkandidaten kürt, und schon hätte man sogar die Nase vorn, weil die CDU erst einmal einen neuen Parteichef braucht und dann einen Kanzlerkandidaten.

Hätte, hätte, Fahrradkette, hat Peer Steinbrück einmal gesagt. Denn es sieht danach aus, dass den Sozialdemokraten die Causa Kahrs in Extragröße bevorstehen könnte. Niemand in Scholz’ Lager ahnt bisher, dass die beiden Vorsitzenden einen ganz anderen Plan in ihrem Herzen tragen. 

Die Endschmelze geht weiter

Demzufolge wird just Rolf Mützenich, die Figur im Zentrum des Betriebsunfalls bei der Ernennung der neuen Wehrbeauftragten, auf den Schild des Kanzlerkandidaten gehoben werden. Dabei könnte eine Rolle spielen, dass, wie zu hören ist, Walter-Borjans in selbstkritischen Momenten erkennt, dass schon das Amt des Parteivorsitzenden eine Nummer zu groß für ihn ist. Von solchen Selbstzweifeln wird seine Ko-Vorsitzende Esken zwar nicht geplagt. Für kanzlerabel hält sich Saskia Esken aber möglicherweise doch nicht.

Walter-Borjans und Esken als Parteispitze und Fraktionschef Rolf Mützenich als der Kanzlerkandidat ihrer beider Herzen. Andrea Nahles hat inzwischen, ein Jahr nach ihrem Ausscheiden, endlich einen neuen Job bei einem Amt in Bonn, ihr Vorgänger Sigmar Gabriel kommentiert zusammen mit Wolfgang Bosbach bei Bild die Corona-Krise aus dem heimischen Wohnzimmer. Was für eine Entwicklung, was für ein Zustand einer ehemals stolzen Volkspartei. Was für ein Verschleiß an Spitzenpersonal.

Die SPD, sie war einmal stark und mächtig wie ein Gletscher, jetzt liegen noch ein paar Eisbrocken von ihr herum. Die Endschmelze geht aber weiter. Bald könnten nur noch Löcher in der Landschaft davon zurückbleiben wie auf den weiten Feldflächen Mecklenburg-Vorpommerns. Dort hat sich jüngst die populäre Ministerpräsidentin Manuela Schwesig als gesund zurückgemeldet. Sie hat ihren Krebs besiegt, dessentwegen sie nicht ins Rennen um den Parteivorsitz vor einem Jahr eingetreten war. Es könnte sein, dass sie sich im richtigen Moment aus dem Spiel zurückgezogen hat – und den richtigen Moment für die Rückkehr erwischt. Für die Zeit nach der Bundestagswahl im Herbst 2021.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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