FDP-Politiker Benjamin Strasser - „Woke Identitätspolitik führt sich selbst ad absurdum“

Der FDP-Politiker Benjamin Strasser ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium. Im Cicero-Interview erklärt er, wie er die Protestaktionen der „Letzten Generation“, das Selbstbestimmungsgesetz der Ampel-Koalition und die Abschaffung des Werbeverbots bei Abtreibungen rechtlich einordnet.

„Katholisch und liberal zu sein, ist kein Widerspruch“, sagt Benjamin Strasser / dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Benjamin Strasser, 1987 in Weingarten geboren und seit 2006 FDP-Mitglied, ist Rechtsanwalt und Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium. Seit Kurzem ist er zudem Präsident des Kuratoriums der Deutschen Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit.

Herr Strasser, schauen Sie die Spiele der Fußballweltmeisterschaft?

Diesmal schaue ich mir die Spiele nicht an. Ich bin sowieso nicht der große Fußballfan, aber bei der WM und der EM war ich schon dabei. Bei dieser Weltmeisterschaft tue ich mich einfach unglaublich schwer, weil ich diese Vergabe an Katar für einen schweren Fehler halte. Doch das beinhaltet auch eine Rückfrage an uns. Wenn wir keine Spiele in diktatorisch oder autoritär regierten Ländern wollen, sind wir dann auch wieder bereit, eine Großveranstaltung auszurichten und beispielsweise die Olympischen Spiele oder eine Weltmeisterschaft nach Deutschland zu holen? Wir sollten die Chance nutzen, bei uns mal wieder große Spiele und Turniere zu organisieren, die dann Vorbild für weitere Länder sein können.

Sie haben zusätzlich gerade ein neues Amt übernommen. Sie sind jetzt Präsident des Kuratoriums der Deutschen Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit. Sie beschäftigen sich auch mit der Rechtsstaatlichkeit auf der arabischen Halbinsel. Wie bewerten Sie die Lage in Katar?

Die Menschenrechtslage in Katar ist schwierig, das ist hinlänglich bekannt. Die IRZ hat derzeit keine gemeinsamen Projekte mit Katar. Wir sind grundsätzlich bereit, mit allen Ländern zusammenzuarbeiten, die sich auf den Weg in Richtung Rechtsstaatlichkeit machen. Konkret haben wir als Stiftung schon seit vielen Jahren die Ukraine als Partnerland. Wir sind auch in Afrika unterwegs. Gerade in diesen Staaten geht es auch um Investitionssicherheit. Rechtsstaatlichkeit ist ein Standortfaktor für viele Unternehmen.

Es wird gerade viel über Diskriminierung von sexuellen Minderheiten in Katar gesprochen. Wie bewerten Sie die Frage der Beziehungen zu Israel und das Thema Antisemitismus? Muss man da nicht auch noch mal ein deutliches Wort finden?

Definitiv brauchen wir hier eine klare Haltung. Das sogenannte „Abraham-Abkommen“ zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten hat einen echten Fortschritt in der Normalisierung der Beziehungen zwischen arabischen Ländern und Israel gebracht. Katar ist noch nicht dabei. Ich erwarte, dass die deutsche Außenpolitik weiterhin Druck macht. Denn für uns ist das Existenzrecht eines jüdischen Staates Israel Staatsräson.

In der Innenpolitik sind Sie ein Kenner der Probleme von Terrorismus und Verfassungsfeindlichkeit. Gibt es bei den Klimaaktivisten der selbsternannten „Letzten Generation“ Tendenzen in Richtung Verfassungsfeindlichkeit?

Entscheidend ist für mich nicht ein Bauchgefühl, sondern die Einschätzung unserer Sicherheitsbehörden, insbesondere des Bundesamts für Verfassungsschutz. Wenn ich die Äußerungen von Thomas Haldenwang richtig verstehe, ist bei der „Letzten Generation“ die Grenze zum verfassungsfeindlichen Extremismus noch nicht überschritten. Was wir aber durchaus feststellen, ist eine Radikalisierung dieser Bewegung. Man versucht, das eigene Handeln mit einem Klimanotstand zu rechtfertigen und sich aus vermeintlich lauteren Motiven über Recht und Gesetz zu stellen. Das ist eine Grenzüberschreitung, die ein offener, liberaler Rechtsstaat nicht tolerieren kann und gegen den er vorgehen muss. Deswegen ist es richtig, dass die Gerichte in Deutschland die Taten der „Letzten Generation“ strafrechtlich ahnden.

Was macht das Bundesjustizministerium zum Umgang mit der „Letzten Generation“?

Wir verfolgen als Ministerium die Rechtsprechung sehr genau. Wenn wir in den kommenden Monaten feststellen sollten, dass es Lücken im Strafrecht gibt, müssen wir auch gesetzgeberisch reagieren. Die Diskussion aber, so wie sie jetzt läuft, dass man allein den Strafrahmen erhöhen will, ist eine reine Phantomdiskussion der Opposition. Entscheidend ist, dass diese Menschen Konsequenzen des Rechtsstaates spüren, wenn sie Straftaten begehen. Die Nebelkerzen, die die Union wirft, helfen nicht weiter.   

Nebelkerzen aber werfen ja auch die Aktivisten, weil sie die Formel des „zivilen Ungehorsams“ benutzen, um ihre Taten zu rechtfertigen.

Eine offene Gesellschaft lebt von legitimem Protest, und dieser Protest muss den Regierenden auch nicht gefallen. Aber es gilt eben für alle Recht und Gesetz. Und von der „Letzten Generation“ sind nun ja ganz offensichtlich Straftaten begangen worden. Angefangen bei einer strafrechtlich relevanten Nötigung oder einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, wenn man Straßen blockiert, bis hin zu einer versuchten Sachbeschädigung, wenn man Bilder mit Lebensmitteln bewirft. Entscheidend ist, dass diese in der Praxis entsprechend abgeurteilt werden.

Die „Letzte Generation“ bekommt aber viel Aufmerksamkeit. Ist sie so gesehen erfolgreich?

Meiner Auffassung nach bewirkt die „Letzte Generation“ das Gegenteil von dem, was sie voranbringen will. Viele Menschen in diesem Land haben ein großes Interesse daran, dass wir beim Klimaschutz echte Fortschritte erzielen. Und da ist sicher in den zurückliegenden Jahren auch einiges versäumt worden und liegengeblieben. Aber ich denke an die Leute, die da dann in diesen Blockaden stehen – an die Krankenschwester, die zur Arbeit will, an den Vater oder die Mutter, die ihre Kinder in die Kita bringen wollen. Wie wirkt so ein Vorgehen eigentlich auf die? Ich glaube nicht, dass es bei diesen Menschen zu mehr Unterstützung für das Thema führt, im Gegenteil. Wir hatten ja in der Vergangenheit mit der Fridays-for-Future-Bewegung im Jahr 2019 durchaus große Demonstrationen, die bei der Politik einiges bewirkt und in Bewegung gebracht haben. Was dagegen die „Letzte Generation“ veranstaltet, ist destruktiv und kriminell.
 

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Sie haben mal gesagt, dass Sie als ein Liberaler auch Traditionen schätzen und verteidigen können. Nun gibt es auch Kritik an der Fortschritts-Regierung. Wo sehen Sie als Liberaler die Grenzen sogenannter „woker Identitätspolitik“?

Identitätspolitik ist nicht Grundlage des Koalitionsvertrags. Wir haben uns in der Ampel auf ganz konkrete Projekte geeinigt, die folgen aber nicht dieser woken Logik. Und ich bin auch überzeugt, dass sich eine übersteigerte Identitätspolitik selbst ad absurdum führen wird. Das sehen wir ja bei manchen Diskussionen, die bei Anhängern einer solchen Identitätspolitik geführt werden. Also beispielsweise die Diskussion, wie „schwarz“ Menschen sein müssen, um für schwarze Menschen sprechen zu dürfen. Das ist grotesk! Meine These ist: Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind nicht nur ein Problem der betroffenen Gruppe, es ist das Problem der Mehrheitsgesellschaft. Vertreterinnen und Vertreter der Mehrheitsgesellschaft müssen sich ernsthaft mit diesen Themen befassen und diese wahrnehmbar adressieren. Insgesamt komme ich deshalb zum Ergebnis: Woke Identitätspolitik konterkariert sich in aller Regel selber.

Halten Sie das Gesetz für richtig, mit dem jeder seinen Geschlechtseintrag und seinen Personenstand unabhängig von der Biologie frei wählen kann?

Nach freiem Belieben wird der Geschlechtseintrag auch künftig nicht wählbar sein. Wer den Eintrag ändern möchte, wird versichern müssen, dass die eigene Geschlechtsidentität nicht mit dem Eintrag übereinstimmt. Anders als es auf den ersten Blick erscheinen mag, geht Deutschland da nicht einen neuen Weg, sondern wir laufen der Debatte hinterher. Andere Staaten dieser Welt haben bereits die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, über die wir in der Bundesrepublik momentan diskutieren. Darunter beispielsweise die Schweiz. Es geht um eine höchstpersönliche Entscheidung und betrifft den Kernbereich unserer Identität. Jeder soll selbst sagen können, wer er oder sie ist und welche geschlechtliche Identität er oder sie hat. Auch das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner Rechtsprechung, dass man das Geschlecht nicht allein an biologischen Kriterien festmachen kann, sondern weitere Faktoren zu berücksichtigen sind.

Aber die Biologie spielt also auch eine Rolle?

Beim Selbstbestimmungsgesetz geht es um die Erklärung gegenüber dem Standesbeamten, also um das Verhältnis des Bürgers zum Staat. In der Praxis regeln wir mit dem Personenstandrecht zum Beispiel, welches Geschlecht im Pass steht oder mit welcher Anrede Behördenschreiben versandt werden. Das Gesetz betrifft gerade nicht die Frage von medizinischen, geschlechtsangleichenden Operationen oder anderen Eingriffen. Es greift auch nicht in das Hausrecht von Privaten ein. Diese ganzen Beispielsfälle, die in der Debatte als vermeintliche Gegenargumente vorgetragen werden, werden von dem Gesetz nicht erfasst. Was ist künftig mit Frauenhäusern? Was ist künftig mit Saunen? Diese Fragen sind nicht neu und stellen sich bereits heute nach dem geltenden Transsexuellengesetz. Es gilt weiterhin das Hausrecht des Betreibers. Und uns ist es als Justizministerium ebenfalls ganz wichtig, dass jetzt in der konkreten Ausgestaltung des Gesetzestextes sichergestellt ist, dass das Gesetz keine neuen Klagemöglichkeiten nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ermöglicht.

Was bedeutet das? Der Eintrag hätte dann ja direkt keine Folgen.

Das Gesetz sorgt dafür, dass wir die diskriminierende und unwürdige Begutachtung von Menschen, die ihren Personenstand verändern wollen, beenden. Wir trauen als Fortschrittskoalition den Menschen verantwortliche Entscheidungen über höchstpersönliche Fragen zu. Wir werden sicherstellen, dass es zu keiner Flut von AGG-Klagen gegenüber Privaten kommt. Und das biologische Geschlecht wird natürlich weiterhin eine Rolle spielen. Die Sorge etwa, Menschen könnten sich eine Änderung des Personenstands der Strafverfolgung wegen Exhibitionismus entziehen, ist unbegründet: Im Strafrecht kommt es auf die persönlichen Körpermerkmale an.

Sollen Kinder künftig, wenn sie noch minderjährig sind, gegen den Willen der Eltern per Gerichtsbeschluss ihr Geschlecht wechseln können?

Auch da wollen wir nichts Neues einführen. Minderjährige können schon jetzt bei familienrechtlichen Streitigkeiten das Familiengericht anrufen. Klar ist: Bis zum 14. Lebensjahr entscheiden die Eltern alleine unter Berücksichtigung des Kindeswohls. Zwischen dem 14. und dem 18. Lebensjahr haben die Eltern ein Mitspracherecht. Sollten der Wille der Eltern und der des Kindes auseinanderfallen, dann entscheidet wie in anderen Fragen im Zweifel das Familiengericht auf Basis des Kindeswohls. Und auch hier geht es wie bereits gesagt nicht um geschlechtsangleichende Operationen. Es geht nur um den Eintrag im Personenstandsregister.

Aber bei der Geburt entscheidet allein die Biologie, oder?

Babys kann man nicht nach ihrer Meinung fragen. Auch körperliche Merkmale sind allerdings nicht immer eindeutig. Wo die Zuordnung nicht eindeutig ist, besteht bereits jetzt die Möglichkeit, keine Geschlechtsangabe oder den Eintrag „divers“ einzutragen.

Gibt es in der Koalition da Einigkeit mit den Grünen?

Wir haben als Koalition gemeinsame Eckpunkte vorgelegt. Diese werden nun in einen konkreten Gesetzesentwurf ausformuliert. Die skizzierte Linie ist aus meiner Sicht zwingend notwendig, damit das Gesetz in der Gesellschaft Akzeptanz findet. Auf der einen Seite müssen die diskriminierende Begutachtungspraxis bei einem Geschlechtswechsel abgeschafft werden, bei der intimste Fragen gestellt werden. Entscheidend wird künftig die Aussage des oder der Betroffenen gegenüber dem Standesbeamten sein. Das ist das Kernanliegen dieses Gesetzesentwurfs. Auf der anderen Seite müssen alle potenziellen Missbrauchsgefahren, die uns bisher bekannt sind, eindeutig mit dem Gesetz ausgeschlossen werden. Ich sehe aber keinen Dissens in dem Ziel, mögliche Missbräuche auszuschließen.

Nehmen wir uns ein anderes schwieriges Thema vor. Die Abschaffung des Werbeverbots bei Abtreibungen, der Paragraf 219a, wurde als Meilenstein der Ampel bezeichnet und bejubelt. Haben Sie mitgefeiert?

Ich finde das Thema so ernst, dass man da nicht feiern sollte. Die Frage einer Abtreibung ist für eine Frau, aber eigentlich auch für das Paar, eine sehr schwere und existenzielle Entscheidung, oftmals in einer extremen Konfliktsituation. Niemand macht sich diese Entscheidung leicht. Deshalb gibt es da auch nichts zu bejubeln. Ich war am Anfang sehr kritisch beim Thema 219a, ob wir das tun sollten, und habe in der vergangenen Wahlperiode noch mit dem Gesetzentwurf der Großen Koalition gegen eine Abschaffung gestimmt. Ganz offensichtlich hat die Änderung der Rechtslage aber nicht zu einer Verbesserung in der Realität geführt. Mir ist wichtig, dass auch die Personen sachlich informieren dürfen, die medizinisch fachkundig sind, ohne dabei werbend aufzutreten. Im Internet darf sonst jeder alles Mögliche über Abtreibungen schreiben – nur nicht Ärztinnen und Ärzte. Das ist nicht verständlich. Die Norm entstammt eben aus einer Zeit ohne die Möglichkeiten des Internets und ist deswegen wortwörtlich aus der Zeit gefallen.

Aber dahinter steht die Regelung des Paragrafen 218, die Abtreibung zunächst verbietet und unter bestimmten Bedingungen straffrei stellt. Steht das zur Disposition?

An dem Schwangerschaftskonfliktgesetz wird nicht gerüttelt. Für mich ist das Beratungsverfahren wichtig. Das wird nicht angetastet. Das müssen Frauen weiterhin in Anspruch nehmen. Gleichzeitig schaffen wir aber neue Informationsmöglichkeiten, indem Ärzte auf ihren Webseiten darstellen dürfen, was sie in ihrer Praxis genau machen und was die medizinischen Risiken seien können. Wir sorgen also dafür, dass Frauen zu einer noch fundierteren Entscheidung finden können. Gerade wenn man Lebensschutz will – wie ich es tue –, ist es wichtig, sachliche Informationen nicht mit Strafe zu belegen.

Die Koalitionspartner wollen aber gerade diese Regelung des Paragrafen 218 überwinden. Abtreibung solle nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt werden, so die Forderung.

Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir in einer Regierungskommission mit Expertinnen und Experten diskutieren und beratschlagen, welche Möglichkeiten es gäbe, Abtreibung außerhalb des Strafgesetzbuches zu regeln. Das Strafrecht ist unbestritten das schärfste Schwert eines Rechtsstaats, es ist die Ultima Ratio. Deswegen finde ich es grundsätzlich legitim, zu diskutieren, ob es das Strafrecht braucht, um menschliches Leben zu schützen. Das Verfassungsgericht hat für eine Regelung außerhalb des Strafrechts sehr, sehr hohe Hürden aufgestellt. Es hat gesagt, im Grundsatz wäre so etwas möglich, wenn es effektiv den gleichen Schutz bietet, wie die generalpräventive Wirkung des Strafrechts. Ich sehe es ehrlich gesagt sehr skeptisch, ob das rechtlich überhaupt umsetzbar ist. Ich will aber der Kommission nicht vorgreifen.

In der Debatte wurde betont, es gehe hier um einen notwendigen emanzipatorischen Fortschritt. Widersprechen Sie?  

Es ist komplizierter. Abtreibung ist die Beendigung von Leben. Beendigung von Leben ist der größte Freiheitseingriff, den man sich vorstellen kann. Egal ob er am Anfang des Lebens stattfindet, irgendwo in der Mitte oder am Ende des Lebens. Bei der Frage des Schwangerschaftsabbruchs stehen zwei gewichtige Rechtspositionen gegeneinander. Diesen Konflikt muss man versuchen aufzulösen. Auf der einen Seite das Selbstbestimmungsrecht von Frauen, über den eigenen Körper entscheiden zu können. Und auf der anderen Seite ist eben eine Person beteiligt, nämlich das Kind im Mutterleib, das sich nicht äußern kann. Da hat der Gesetzgeber auch nach der Verfassungsrechtsprechung den Auftrag, auch dieses Leben zu schützen.

Ist es denkbar, dass die Ampel-Koalition den Paragrafen 218 abschafft?

Am Ende wird das eine Gewissensentscheidung eines und einer jeden einzelnen Abgeordneten sein. Solche Fragen sind aus guten Gründen nicht dem Fraktionszwang unterworfen. Ich persönlich werde als Abgeordneter dafür nicht meine Hand heben können, weil ich nicht daran glaube, dass wir das rechtsstaatlich hinbekommen. In meiner Fraktion gibt es ganz viele, die das ähnlich sehen, auch bei denjenigen, die sehr aktiv für die Abschaffung des 219a StGB eingetreten sind.

Zum Schluss noch zu einer vielleicht für einen Liberalen ungewöhnlichen Betätigung. Sie sind Blutreiter. Die 900 Jahre alte Tradition des so genannten Blutritts ist eine katholische Reliquien-Prozession. Nun sollten auch Frauen mitreiten dürfen, Sie waren dagegen. Wie ist der Konflikt ausgegangen?

Katholisch und liberal zu sein, ist kein Widerspruch. Aber zu der Prozession: Es gibt die so genannte Blutfreitags-Gemeinschaft, das ist die Vereinigung aller Blutreiter-Gruppen, zusammen mit dem Stadtpfarrer. Die Gemeinschaft hatte nach der Corona-Zwangspause den Gruppen freigestellt, ob sie Frauen mitreiten lassen wollen oder nicht. Ich war da immer ein bisschen skeptisch, nicht weil ich gegen Gleichberechtigung bin. Aber es gibt eben bestimmte Traditionen, die gelebt werden wollen. Genauso wie es in der Kirche bestimmte Frauenwallfahrten gibt, war der Blutfreitag seit jeher eine Männerwallfahrt. Unsere Gruppe hat jetzt entschieden, vorerst keine Frauen aufzunehmen. Wir hatten aber auch keine Anfragen von Frauen.

Warum war Ihnen das wichtig?

Der Blutritt ist nicht nur irgendein Ausritt oder ein geselliges Beisammensein. Wir beten zusammen, wir führen beim Ritt über die Fluren auch teils sehr ernsthafte Gespräche mit Kameraden über das eigene Leben. Natürlich sind das manchmal andere Gespräche als beispielsweise bei gemischten Gruppen. Aber ich will gar nicht ausschließen, dass es in den nächsten Jahren auch bei uns Frauen mitreiten.

Steht so eine Verwurzelung wie die Ihre gegen den unbändigen Fortschrittsoptimismus des Koalitionsvertrages?

Überhaupt nicht. Ich sehe mich auch nicht als Konservativen oder Wanderer zwischen den Welten. Liberale stehen an der Spitze von Fortschritt, weil sie dem Einzelnen die Fähigkeit zu guten Entscheidungen zutrauen. Ich bin ein total optimistischer Mensch und glaube auch, dass Fortschritt eine Gesellschaft voranbringt. Konservativ ist dagegen auch eine gewisse Form von Wachstums- und Veränderungskritik. Irgendwie soll alles so bleiben, wie es jetzt ist. Eine Gesellschaft muss aber in verschiedenen Dimensionen wachsen, um sich verändern können. Weiteres Wachstum abzulehnen, ist ein sehr elitärer Gedanke gegenüber denjenigen, die in unserer Gesellschaft weniger privilegiert sind. Unser liberales Ziel ist und bleibt es, dass Menschen unabhängig von ihrer Herkunft durch Leistung und Anstrengung etwas aus ihrem Leben machen können.

Die Fragen stellte Volker Resing.

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