Ex-Verfassungsrichterin - „Fördert die Offenheit für Sachargumente“

Die Zufriedenheit der Bürger mit der hiesigen Demokratie sinkt. Im Interview erklärt die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff die Vorteile direktdemokratischer Entscheidungsfindung für die Gesellschaft.

Der Bundestag muss nicht das einzige Organ der Gesetzgebung bleiben / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Gertrude Lübbe-Wolff wurde 1953 als Tochter des Philosophen Hermann Lübbe geboren. Sie studierte Jura in Bielefeld und Freiburg sowie an der Harvard Law School. 1992 trat sie eine Professur für öffentliches Recht an der Universität Bielefeld an, von 2002 bis 2014 war sie Bundesverfassungsrichterin am Zweiten Senat. Soeben erschienen ist ihr Buch „ Demophobie – Muss man die direkte Demokratie fürchten? “ (Klostermann, 212 Seiten, 24,80 € ). 

Frau Lübbe-Wolff, Umfragen zeigen, dass die Zufriedenheit der Deutschen mit der Demokratie in unserem Land sinkt. Auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas stellte unlängst fest: „Es stimmt etwas nicht zwischen Teilen der Bürgerschaft und dem demokratischen System.“ Bedarf unsere Demokratie einer Auffrischungskur? 

Die Bundestagspräsidentin gehört ja zu den Befürwortern einer Stärkung der Demokratie durch direktdemokratische Entscheidungsmöglichkeiten – und damit hat sie recht.

Aber inwiefern können direktdemokratische Entscheidungsmöglichkeiten die Demokratie stärken? Indem die Wählerinnen und Wähler mit konkreten Sachfragen konfrontiert werden?

Wenn die Bürger direkt über Sachfragen entscheiden können, stärkt das die Rückbindung der repräsentativdemokratischen Politik an den Willen der Stimmbürger. Probleme werden breiter und ernsthafter in der Öffentlichkeit diskutiert. Die Bürger haben ein stärkeres Motiv, sich zu informieren. Dabei lernen sie auch, dass manche Dinge nicht so einfach sind, wie man es sich macht, wenn man sich als Wähler, der nur alle vier Jahre einmal seine Stimme bei der Parlamentswahl abgeben darf, einfach zurücklehnt und auf die da oben schimpft. Das setzt allerdings alles eine vernünftige Ausgestaltung der direktdemokratischen Instrumente voraus. Direkte Demokratie ist nicht in jeder beliebigen Variante empfehlenswert.

Ein häufiger Einwand gegen direkte Demokratie lautet: Die meisten Fragen sind zu komplex, um sie normalen Bürgern zu überantworten. In einer repräsentativen Demokratie hätten die Mandatsträger hingegen mehr Zeit und Möglichkeiten, ein Problem zu durchdringen und entsprechende Lösungen aufzuzeigen. Halten Sie dieses Argument nicht für stichhaltig?

Das ist ein Argument aus der Mottenkiste der Demokratiekritik. Natürlich sind viele Fragen komplex, natürlich sind Stimmbürger oft wenig kompetent. Und natürlich sollen sie auch nicht zu Berufspolitikern werden, die sich zur Wahrung ihrer Interessen tagaus, tagein mit schwierigen politischen Fragen beschäftigen müssen. Wo man kein Interesse oder keine Zeit hat, sich schlau zu machen, kann man den Empfehlungen und Ansichten der Parteien, Staatsorgane und Medien folgen, denen man am ehesten vertraut. Das wird ja auch bei Wahlentscheidungen so gemacht.

Direktes Entscheidenkönnen über Sachfragen verführt aber eben doch mehr als bloßes Wählendürfen dazu, sich zu einzelnen Sachfragen gründlicher zu informieren. Das fördert die Offenheit für Sachargumente statt für Sprüche und Parolen – und führt zu Lerneffekten, die sich dann auch beim Wählen auszahlen. Aus Untersuchungen weiß man zum Beispiel, dass die Bürger über die EU besser als anderswo informiert waren in Ländern, in denen sie über Verfassungsfragen der EU abstimmen durften. In einer schweizerischen Untersuchung haben übrigens Befragte angegeben, dass sie das Wählen schwieriger finden als das Abgeben einer Stimme zu einzelnen Sachfragen.

Apropos EU: Der Brexit ist auch das Ergebnis einer direktdemokratischen Entscheidung. Inzwischen scheinen viele Briten den Austritt aus der EU jedoch zu bereuen. Und von den Brexit-Befürwortern wurde vor der Abstimmung mit zumindest sehr fragwürdigen bis hin zu irreführenden Argumenten geworben. Es scheint bei dieser Abstimmung also eher um Ressentiments oder um ein Bauchgefühl gegangen zu sein als um eine Entscheidung auf Basis von gründlicher Informiertheit.

Das kann man wohl sagen. Selbst die Politiker waren schlecht informiert. Einer warb zum Beispiel damit, dass das Land nach dem Brexit den Handel mit den verbleibenden EU-Staaten durch gesonderte Handelsabkommen mit diesen Staaten fördern werde. Er wusste offenbar nicht, dass das nicht geht, weil die einzelnen Mitgliedstaaten gar keine Kompetenz für solche Abkommen mehr haben. Die Brexit-Abstimmung ist ein Paradebeispiel dafür, wie man direkte Demokratie nicht ausgestalten sollte.

Die Abstimmung war von oben, vom Parlament anberaumt, angestiftet durch politische Hasardeure in der Regierung und beschlossen vom Parlament. Es gab keine vernünftigen Vorkehrungen für korrekte und ausgewogene Information im Abstimmungskampf. Die Bürger konnten auch gar nicht genau genug wissen, wofür sie sich mit einer Stimme für den Brexit eigentlich entscheiden würden, weil das Verhältnis eines Nichtmitglieds zur EU ja auf sehr unterschiedliche Arten gestaltet sein kann und völlig unklar war, welches Verhältnis die Regierenden anstrebten. Und wenn die Briten ihre Entscheidung mehrheitlich korrigieren wollten, könnten sie das nicht, weil ihnen ein Initiativrecht für Volksabstimmungen fehlt. 

 

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Das heißt, Sie plädieren für eine direkte Demokratie „von unten“ und nicht „von oben“? Ändert das etwas an der Gefahr, dass bei Volksabstimmungen vermeintlich „einfache Lösungen“ eine Mehrheit bekommen?

Nur wenn die Bürger selbst die Initiative ergreifen können, muss die Politik besser auf die Bürger hören und ihre Entscheidungen besser erklären. Nur dann gibt es die günstigen Rückwirkungen direkter Demokratie auf das repräsentativdemokratische System, das ja nicht ersetzt, sondern nur ergänzt werden soll. Auch die erhöhte Zufriedenheit durch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und durch die Möglichkeit, die Politikpakete aufzuschnüren, die man als Wähler nur im Ganzen bestellen kann, hängt von dieser Ausgestaltung ab. Und das Risiko einfacher, aber schädlicher Lösungen besteht auch in der rein repräsentativen Demokratie. Wenn autokratische Politiker gewählt werden oder Parteien, die, einmal an der Macht, rechtsstaatliche Strukturen opfern, um im Besitz dieser Macht zu bleiben, ist der Schaden viel größer, als wenn über eine einzelne Sachfrage unklug entschieden wird. Solche Entwicklungen im repräsentativen System sehen wir leider zurzeit an vielen Orten.

Können Sie Beispiele nennen für diese Fehlentwicklung in repräsentativen Systemen?

Wer das nicht aus der Zeitung weiß, sollte das Buch „Wie Demokratien sterben“ von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt lesen. Es ist voll von Beispielen. Demokratien, das zeigen die Autoren, enden heute meist nicht mehr durch Militärputsch, sondern auf einem längeren abschüssigen Weg, der damit beginnt, dass die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien mehr und mehr untergraben wird.

Wollen Sie damit sagen, dass die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien in einer repräsentativen Demokratie eher unter die Räder zu geraten droht als in einem System mit direkter Demokratie? Wo ist da der Kausalzusammenhang?

Einen deterministischen Zusammenhang gibt es da natürlich nicht. Aber man sollte auch nicht so tun, als hätte der Grad der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Bürger mit dem politischen System für die Aussicht des Systems auf Fortbestand keinerlei Bedeutung. Der Rechtsstaat wird nur abgewählt, wenn die Mehrheit der Bürger nicht mehr sieht, wozu er gut ist – oder wenn sie zumindest bereit ist, ihn zugunsten anderer Anliegen zu opfern. Die Wahrscheinlichkeit dafür verringert sich in dem Maß, in dem die Bürger erstens sich und ihre Anliegen ernst genommen sehen und zweitens Bürgerkompetenz und Institutionenverstand entwickeln. Genau dazu trägt direkte Demokratie in geeigneter Ausgestaltung bei. Sie nimmt die Bürger ernst, erhöht die Neigung der repräsentativdemokratischen Politik, das auch zu tun. Und sie stiftet die Bürger zu ernsthafter, verantwortungsvoller Beschäftigung mit politischen und institutionellen Fragen an.

Der bayerische Wirtschaftsminister und Freie-Wähler-Vorsitzende Hubert Aiwanger hat unlängst folgende Sätze getwittert: „Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung ist gegen das Verbot von Öl- und Gasheizungen, will kein Verbrennerverbot, keine unkontrollierte Zuwanderung. Trotzdem wird diese Politik vorangetrieben, weil die vernünftige Mitte eingeschüchtert ist und von einer Minderheit dirigiert wird.“ Könnte Aiwangers Frustration durch direktdemokratische Elemente gemildert werden?

Das weiß ich nicht. Aber gemildert werden könnte die Frustration in der Gesamtheit der Wähler, die sich in der Politik der jeweils regierenden Partei oder Koalition nicht wiederfinden. Wenn es direktdemokratische Entscheidungsmöglichkeiten gibt, die hinreichend leicht aktivierbar sind, sieht schon deren Politik im Zweifel anders aus, als sie im rein repräsentativen Rahmen aussähe. Und jedenfalls stellt sich durch Volksabstimmungen heraus, welche Behauptungen über den Mehrheitswillen überhaupt zutreffen. Der kann nach der gründlicheren Diskussion und Meinungsbildung, die direktdemokratischen Entscheidungen vorausgehen sollten, ganz anders aussehen als in Umfrageergebnissen. In der Praxis beobachtet man häufig erhebliche Meinungsverschiebungen im Lauf des Abstimmungskampfs.

Gegner der direkten Demokratie behaupten gern, dem Volk sei in Finanzfragen nichts zuzutrauen. Gibt es für diese Annahme empirische Belege? 

Da gibt es seit jeher zwei entgegengesetzte Befürchtungen. Einmal die, dass die Bürger sich hemmungslos und unverantwortlich aus den öffentlichen Kassen selbst bedienen würden. Das ist ein irreales Schreckgespenst. Untersuchungen zu Schweizer Städten und Kantonen und zu den Einzelstaaten der USA zeigen ganz überwiegend, dass die Staatsausgaben und die Schulden deutlich niedriger sind, wo die Bürger auch über finanzielle und finanziell relevante Angelegenheiten direkt entscheiden können. Zugleich kursiert die entgegengesetzte Befürchtung, dass die Bürger die Bereitstellung notwendiger Haushaltsmittel blockieren würden, weil sie ja wissen oder sich bei direktdemokratischen Entscheidungen eher dessen bewusst werden, dass sie selbst mit ihren Steuern und sonstigen Abgaben dafür aufkommen müssen. Dafür gibt es tatsächlich ein berüchtigtes Beispiel aus Kalifornien: Da haben die Bürger in den 1970er Jahren die sogenannte Proposition 13 angenommen, mit der die Grundsteuer gedeckelt wurde. Das brachte erhebliche Schwierigkeiten für die Finanzierung wichtiger öffentlicher Aufgaben, unter anderem im Schulwesen, und war zweifellos keine gute Entscheidung. Man muss dazu allerdings wissen, dass zuvor auch die repräsentativdemokratische Finanzpolitik massiv versagt und durch überhöhte Grundsteuern große Teile der Bevölkerung in Existenzängste getrieben hatte. Außerdem sind in Kalifornien die Rahmenbedingungen für direktdemokratische Entscheidungen nicht sinnvoll ausgestaltet, weil es praktisch keinen Raum für Kompromisslösungen gibt. Das begünstigt problematische Radikallösungen. In der Schweiz ist das anders, und da sind solche Probleme auch nicht aufgetreten.

Zum Schluss noch ein Wort zum Einwand, das Volk neige bei direktdemokratischen Verfahren zu konservativen oder rechtslastigen Entscheidungen.

Es gibt natürlich Beispiele für konservative oder rechtsgerichtete Abstimmungsergebnisse, aber eine allgemeine Tendenz ist das keineswegs. Neoliberale Wirtschaftspolitik zum Beispiel, wie die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, ist oft durch direkte Demokratie ausgebremst worden. In Irland wurden Schwangerschaftsabbruch und gleichgeschlechtliche Ehen durch Volksabstimmung erlaubt. Und wo es durch direktdemokratische Entscheidungsmöglichkeiten zu einer Senkung der öffentlichen Ausgaben kommt, ist das nicht gleichzusetzen mit einer unsozialen Politik. Es verbessert sich stattdessen die Effizienz des Einsatzes öffentlicher Mittel, und teure symbolische Politik hat schlechtere Chancen. Aber auch hier hängt wieder sehr viel von der Ausgestaltung der Verfahren ab. 

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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