Digitalisierung der Hausarztpraxen - Ärzte unter Druck

In Deutschlands Arztpraxen ist die Stimmung schlecht. Freie Termine sind rar, und infolge von Überlastung werden oftmals keine neuen Patienten angenommen. Kann die Digitalisierung die Probleme in der ambulanten Versorgung lösen? Ein erfahrener Facharzt schildert seine Bedenken und Nöte.

Einsatz von Mixed-Reality in der Medizin / dpa
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Autoreninfo

Dr. med. Carl-Joachim Mellinghoff ist Internist und Diabetologe mit eigener Praxis in Lindau.

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Carl-Joachim Mellinghoff ist Facharzt für innere Krankheiten mit einer eigenen Praxis in Lindau. Der Digitalisierung in der Medizin stand er von Anfang an positiv gegenüber. Doch die aktuellen Entwicklungen in Sachen eRezept und Elektronischer Patientenakte werfen auch bei ihm viele Fragen auf. Den ohnehin längst unattraktiv gewordenen Beruf des niedergelassenen Kassenarztes werden sie nicht aufwerten. Ein Praxisbericht.

Seit über 20 Jahren betreibe ich eine hausärztlich-internistische Praxis, über viele Jahre mit einem zusätzlichen Schwerpunkt in der spezialisierten Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus. Als ich mich 1998 für die Niederlassung entschied, war für mich klar, dass ich eine sogenannte „digitale Praxis“ führen wollte. Damals bereits nicht ungewöhnlich. Die von mir dann übernommene rein analoge Praxis erhielt ein Netzwerk mit zentralem Server und Rechnern an jedem Arbeitsbereich; die Karteikartenschränke wurden in den Keller verlagert, wichtige Befunde gescannt und in die digitale Patientenakte eingelesen, wo auch EKGs, Ultraschalbilder und Laborbefunde landeten.

Im Laufe der Jahre dann wurden Hard- und Software immer wieder dem aktuellen Stand angepasst. Aus Gründen der Datensicherheit wurde allerdings über viele Jahre dringend davon abgeraten, mit dem Server oder den Praxisrechnern online zu gehen. Ich stellte deshalb einen zweiten Rechner in mein Sprechzimmer, mit dem ich auch unabhängig vom Praxisnetz online gehen konnte, auch um die bereits 1998 auf der wichtigsten Deutschen Medizinmesse Medica in Düsseldorf über das DGN (Deutsches Gesundheitsnetz) angekündigte Möglichkeit zu nutzen, mich mit Kollegen, Kliniken und diversen medizinischen Einrichtungen zu vernetzen.

Dass wir in Deutschland 25 Jahre später immer noch keine flächendeckende, jederzeit zuverlässig und sicher funktionierende, von allen Playern im Gesundheitssystem genutzte digitale Infrastruktur besitzen, erstaunt zu Recht. Dies liegt allerdings nicht an den Arztpraxen, wie leider so oft von Politik und Presse behauptet, wo der Umgang mit digitalen Patientendaten seit Jahren Alltag ist. Was sich nun allerdings im deutschen Gesundheitssystem vollzieht, ist ein vor allem von Industrie- und Kasseninteressen bestimmter Paradigmenwechsel, bei dem das zentrale Sammeln und Auswerten von Daten („Die Rohstoffe der Zukunft“), die entscheidende Triebkraft sind. Hierzu wurde 2005 eine Nationale Agentur für Digitale Medizin, die sogenannte Gematik gegründet, die zunächst paritätisch mit Vertretern von Politik, Kassen und Patientenversorgung besetzt war; unter Gesundheitsminister Jens Spahn dann aber zu 51% unter staatliche Kontrolle gestellt wurde, um Mehrheitsentscheidungen zu erleichtern. Aktuell soll die Gematik zu 100% verstaatlicht werden. Sie wird vielfach als Einfallstor für Lobbyverbände wahrgenommen, nicht erst seit dem im Juni 2020 vom Handelsblatt zitierten vielsagenden Ausspruch des noch amtierenden Gematik-Chefs Dr. Markus Leyck Diecken: „Wir bauen die Arena, auf deren Spielfeld die Industrie ihre digitalen Lösungen in den Gesundheitsmarkt bringen kann.“. 

Ärzte begrüßen die Digitalisierung 

Der „Gesundheitsmarkt“ ist ein hochinteressantes Betätigungsfeld für Investoren und damit Fluch und Segen zugleich für die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Segen durch Innovationen, die unser diagnostisches und therapeutisches Spektrum erheblich bereichern können, Fluch durch die damit verbundenen, oft erheblichen Kosten, die dann zum größten Teil von der Solidargemeinschaft der Versicherten getragen werden müssen. Gelingt es, ein Produkt zu platzieren (und hier kommt die Lobbyarbeit ins Spiel), so muss man sich um dessen Absatz in der Regel keine Sorgen machen. 

Erschwert wird das Geschäftsmodell allerdings, wenn das Produkt bei den Verordnern und Anwendern nicht die gleiche Begeisterung auslöst wie bei Investoren und nicht selten durch Interessenvertreter beeinflussten (Gesundheits-)Politikern. Mit diesem Problem kämpfen derzeit die Anbieter von oft massiv überteuerten digitalen Gesundheits-Apps, sogenannten DIGAs; hieran liegt auch die schleppende Umsetzung von elektronischer Patientenakte ePA, elektronischem Rezept eRezept und elektronischer Krankmeldung eAU. 

Ich kenne keine Ärztin und keinen Arzt, die einen funktionierenden und sicheren digitalen Datenaustausch ablehnen würden, der die Patientenversorgung verbessert und den Praxisalltag erleichtert. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben jedoch leider das Gegenteil gelehrt: Zunächst mussten sogenannte Konnektoren erworben werden (die zwischenzeitlich auch schon wieder ausgetauscht werden mussten – ein Millionengeschäft für deren Anbieter und eigentlich schon lange nicht mehr Stand der Technik), um in die sogenannte Telematik-Infrastruktur TI zu gelangen. Dann bestand die Aufgabe der Praxen über Jahre lediglich darin, zu überprüfen, ob die Daten auf den Versichertenkarten der Patienten stimmen (sog. Versichertenstammdatenabgleich, eigentlich genuine Aufgabe der Krankenkassen).

Gehackte Daten

Bereits bei Einlesen und Online-Überprüfung der Versichertenkarten zeigten sich teilweise sehr zeitaufwändige Probleme im Praxisempfang, die den Betrieb erheblich störten; dann kam circa zwei Jahre später als ursprünglich geplant die eAU als erste digitale Anwendung. Nicht nur, dass gegenwärtig dennoch ein Ausdruck der Krankmeldung erstellt werden muss und die elektronische Übertragung oft problembehaftet ist, die übermittelten Daten wurden auch bereits mehrfach gehackt oder fehlgeleitet. 

Bedenken bezüglich der Datensicherheit sind der entscheidende Grund, warum die zentrale Speicherung der Gesundheitsdaten von vielen Ärzten abgelehnt wird. Nach spektakulären Hackings von Patientendaten in Deutschen Kliniken und Arztpraxen und der aufsehenerregenden Aneignung intimster Gesundheitsdaten von 40.000 psychisch kranken Patienten einer landesweit agierenden finnischen Psychotherapieeinrichtung 2020 haben sich trotz erheblicher finanzieller Sanktionen von Seiten der Krankenkassen bis heute Praxen immer noch nicht an die digitale Infrastruktur TI angeschlossen oder wieder „den Stecker gezogen“.

Die tatsächlich angeschlossenen Praxen sind dies oft nur, um die Sanktionen zu vermeiden und den Betrieb weiterführen zu können; aus Überzeugung oder mit Begeisterung wegen des Nutzens für die eigene Arbeit hat dies bisher kaum ein Praxisinhaber getan. 

Wenn Patienten sich vertrauensvoll mit ihren gesundheitlichen Problemen in ärztliche Behandlung begeben, müssen sie sich darauf verlassen können, dass die besprochenen Themen die Praxis nicht gegen ihren Willen verlassen. Die ärztliche Schweigepflicht stellt deshalb ein zentrales Element unseres Berufsbildes dar. Da diese mit der für Ärzte verbundenen staatlich verordneten Weitergabe von Patientendaten nicht vereinbar ist, haben bereits viele das Kassensystem verlassen und entweder die Praxis früher als geplant aufgegeben oder beschlossen, diese als Privatpraxis weiterzuführen. 

Großer bürokratischer Aufwand

Durch Einführung einer Bürgerversicherung würde sich die Zahl der Arztpraxen mit großer Wahrscheinlichkeit weiter verringern. Eine von mehr als 60.000 Personen gezeichnete Petition mit dem Titel „Keine zentrale Datenspeicherung sämtlicher Patientendaten / Anschluss von Arzt- und Psychotherapiepraxen an die Telematik-Infrastruktur nur auf freiwilliger Basis vom 02.09.2019“ wurde mit fast einjähriger Verzögerung beim Petitionsausschuss zugelassen, änderte jedoch nichts am Gesetzgebungsverfahren, das aktuell mit der sogenannten Opt-out-Entscheidung abgeschlossen wurde. 

Jeder Kassenversicherte, der nicht aktiv widerspricht, bekommt also künftig eine elektronische Patientenakte ePA, die nach Arztbesuchen mit neuen Daten gefüttert wird. Hier geht die Phantasie von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bereits so weit, dass diese während des Patientengesprächs automatisch durch eine mithörende KI mit den relevanten Daten versorgt wird (Data for Health Conference 20./21.6.2023, Berlin). 

 

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Der bürokratische Aufwand für die Praxen, die ePA mit Befunden, Arztbriefen etc. zu befüllen und aktuell zu halten, ist erheblich und wird die ohnehin beschämend knappe Zeit, die einem Arzt pro Patientenkontakt zur Verfügung steht, weiter begrenzen. Der Nutzen einer solchen Patientenakte, in der die Patienten dann auch noch selber Befunde wieder herausnehmen oder nur teilweise sichtbar machen können, ist sehr fraglich, wie die Erfahrung nach zehn Jahren Electronic Health Record EHR in den USA zeigen. 

Die Flut an Informationen einer umfangreichen ePA, die einem Arzt beim Erstkontakt oder im Notfall präsentiert wird, stellt sicher keine Erleichterung der Behandlungssituation dar und wirft erhebliche forensische Probleme auf, wenn ein in einem Brief „versteckter“ wichtiger Befund in der Fülle der Informationen übersehen wird. Aus dem Grund fordern auch viel Ärzte seit Jahren eine dezentrale und damit datensichere Speicherung essentieller Gesundheitsdaten z.B. auf der Versichertenkarte, die einen schnellen Überblick im Notfall und beim Erstkontakt ermöglichen: Medikationsplan, Allergien, Dauerdiagnosen und Impfungen. An einer solchen günstigen und pragmatischen Lösung würde die Digitalindustrie allerdings nichts verdienen, vergleichbar einer Vignette für die Autobahnnutzung versus einer Lösung im Stile Toll-Collect

Technische Ausfälle

Die Nutzung der digitalen Lösungen eRezept, eAU und ePA setzt natürlich ein funktionierendes schnelles (Glasfaser-)Netz voraus und auch eine reibungslose Kommunikation des Praxisverwaltungssystems mit den entsprechenden Servern. Auch hier kommt es immer wieder zu teilweise stundenlangen Ausfällen, die die Praxisabläufe – und hier besteht ständig Zeitdruck! – aufhalten oder ein erneutes Erscheinen der Patienten nötig machen, um z.B. ein eRezept anzulegen und zu versenden. 

Natürlich überfordern die digitalen Lösungen oft unsere meist alten und sehr alten Patienten (das ist unsere Hauptklientel, nicht der junge „Digitalfreak“), ganz erheblich aber belasten sie unsere Medizinischen Fachangestellten MFA, das Rückgrat jeder Praxis und wichtige Bezugspersonen für unserer Patienten. Was diese tagtäglich leisten (und das nicht nur während der Corona-Pandemie), ist unseren Patienten bestens bekannt; in Politikerkreisen wird dies aber nicht wahrgenommen. 

Ein Corona-Bonus wurde ihnen lange vorenthalten, obwohl sechs von sieben Corona-Patienten in Deutschland ausschließlich in den Praxen behandelt wurden und die Ansteckungsquote bei den MFAs zu den höchsten aller Berufsgruppen zählte. Da auch ihr Gehalt (Personalkosten stellen 60-70% der Praxiskosten dar) im Vergleich mit anderen Berufsgruppen zu niedrig liegt, erwägen aktuell circa 40% einen Jobwechsel, u.a. zu Krankenkassen, an Kliniken oder Pflegeeinrichtungen und künftig eventuell auch an die geplanten Gesundheitskioske. 

Es schließen bereits Praxen, weil sie kein Personal mehr finden. Auf dieses Problem hat die Ärzteschaft seit Jahren hingewiesen und eine bessere Entlohnung der Arztpraxen gefordert. Diese wurde jedoch durch Politik und Kassen stets vorenthalten. Die von Kassenärzten abgerechneten Leistungen werden in Punkten bemessen, denen ein Punktwert zugeordnet ist. Die Anpassungen dieser Punktwerte bei den jährlichen Verhandlungen mit den Kassen bringen (oft erst nach einem Schlichterspruch) zumindest seit den von mir überblickten bald 24 Jahren allenfalls Anstiege im niedrigen einstelligen Bereich. 

Schlechte Stimmung unter Ärzten

Eine Aktualisierung der Gebührenordnung für Ärzte wird seit Jahren von der Politik blockiert. Hier gelten noch die Preise von 1982 mit einer Teilreform von 1996, d.h. ein EKG, welches bis 31.12.2021 53 DM gekostet hat, kostet seit 1.1.2002 26,50 Euro, und das bei einem Anstieg des Verbraucherpreisindex von 77,8 im Jahr 2002 auf 117,3 im August 2023, also um nahezu 40%!

Dass die Stimmung bei den Ärzten angesichts dieser Vergütungssituation und der auch weiterhin bestehenden Budgetierung der erbrachten Leistungen schlecht ist, braucht nicht zu wundern. Hochgradig demotivierend ist aber die Respektlosigkeit der Gesundheitspolitiker und Kassenvertreter im Umgang mit den Vorschlägen, Bedenken und Sorgen der Ärzte. Symptomatisch ist die zunehmende „Verbannung“ von Berufsvertretern aus wichtigen Entscheidungsgremien der Gesundheitspolitik, da sie nur noch als Sand im Getriebe wahrgenommen werden. Dabei können nur sie den wichtigen Input von der Basis, vom Alltag in den Praxen und der Situation der Patienten widerspiegeln.

Umso bedeutsamer wird der Einfluss interessierter Kreise aus der Industrie oder von sogenannten Vordenkern wie Yuval Noah Harari, dessen folgender Satz bei Ärzten und Patienten sicher aber nicht bei zahlreichen jungen Gesundheitspolitikern nur Kopfschütteln hervorrufen kann: „Allgemeinärzte, die in erster Linie bekannte Krankheiten diagnostizieren und gängige Behandlungen verabreichen, werden vermutlich durch KI-Ärzte ersetzt werden. Aber gerade deshalb wird viel mehr Geld zur Verfügung stehen, mit dem man menschliche Ärzte und Labormitarbeiter dafür bezahlen kann, Grundlagenforschung zu betreiben und neue Medikamente oder Operationsverfahren zu entwickeln.“

Durch solche und vergleichbare Äußerungen aus der Politik, durch Drangsalierungen durch Krankenkassen mit Kürzungen tatsächlich erbrachter Leistungen und durch Regressforderungen für verordnete Medikamente fühlen sich viele Ärzte entwürdigt und treten in innere Distanz zu ihrer Arbeit, der sie gerade als Hausärzte (inklusive Hausbesuchen nach der Sprechstunde oder am sogenannten freien Nachmittag) in der Regel über 50, oft bis zu 70 Stunden der Woche widmen. So verwundert es nicht, dass mehr als 50% der Ärzte Burnout-Symptome zeigen. Natürlich werden diese Entwicklungen von der nachwachsenden Ärztegeneration intensiv wahrgenommen. Es ist bestens bekannt, dass die jüngeren Kollegen nicht mehr bereit sind, ständig um eine faire Entlohnung zu kämpfen oder das Arbeitspensum der jetzt 45- bis 65-jährigen Ärzte abzuleisten, deren finanzieller Erfolg ganz wesentlich auf ihrer „Selbstausbeutung“ beruhte und beruht  gerade auch während der Corona-Pandemie, in der natürlich höhere Praxisgewinne generiert werden konnten, aber dies nur im Zuge einer massiven Mehrarbeit durch die Abklärung und Behandlung von Corona-Patienten, die in Deutschland eben zu circa 85% in den Arztpraxen stattfand, und durch Corona-Impfungen – alles zusätzlich zum üblichen Praxisbetrieb.

Es ist Betreibern von MVZs und Praxisübergebern bestens bekannt, dass heutzutage ein Praxisbetreiber „vom alten Schlag“ durch zwei bis drei Ärzte ersetzt werden muss, damit eine vergleichbare Patientenbetreuung sichergestellt ist. Auch deshalb brauchen wir dringend mehr Medizinstudienplätze. Wenn aber die Studienabsolventen ihren Beruf gar nicht ausüben, ins Ausland gehen oder zum immer größer werdenden Teil nur in Teilzeit arbeiten, wird es uns nicht gelingen, die ambulante medizinische Versorgung zur Zufriedenheit der Bürger sicherzustellen.  

Die Bürger unseres Landes werden sich wohl darauf einstellen müssen, dass die Arztpraxen, wie man sie kennt, zunehmend durch medizinische Versorgungszentren mit wechselnden in Teilzeit arbeitenden Ärzten ersetzt werden und dass längere Wartezeiten in immer weniger zur Verfügung stehenden medizinischen Einrichtungen der Normalzustand werden.

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