Die Linke in der Vertrauens- und Identitätskrise - Warum linke Politik gefragt ist, aber nicht gewählt wird

Eigentlich liegen linke Themen derzeit auf der Straße: Die hohen Energie- und Lebensmittelpreise bedrücken viele Menschen; besonders die Geringverdiener. Trotzdem steht die Linke in Umfragen bei unter fünf Prozent. Auf dem kommenden Parteitag will sie sich neu aufstellen und wieder einmal ihren Kurs neu bestimmen. Doch die Krise ist tiefer, als dass sie durch eine Kurskorrektur oder eine Rückbesinnung zu beheben wäre.

Drei, die für die Entzweiung stehen: Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht und Susanne Hennig-Wellsow bei einer Wahlkampfveranstaltung 2021 / dpa
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Michael Freckmann studierte Politikwissenschaft in Göttingen und York (UK). Er beschäftigt sich journalistisch und wissenschaftlich mit Parteien im Wandel sowie mit politischen Wahlen.

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Bei den letzten Wahlen verlor die Linke ausgerechnet in ihren Kernmilieus besonders stark: Bei Arbeitssuchenden, Arbeitenden, Angestellten, Gewerkschaftsmitgliedern und Rentnern. Für wen ist die Linke dann überhaupt noch wählbar? Dazu hat die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung vor kurzem eine Analyse des Wählerpotentials der Partei veröffentlicht. In der Gesamtbevölkerung liege das Potential bei 18 Prozent. Ebenfalls 18 Prozent der SPD-Wähler könnten sich prinzipiell die Wahl der Linken vorstellen. Bei den Grünen seien es 35 Prozent, bei der AfD 12 Prozent und unter den Wählern von Kleinparteien und bei Nichtwählern jeweils 18 Prozent.

Trügerische Zahlen 

Nun ist das mit dem gemessenen Potential für Parteien so eine Sache. Denn dabei geht es um die Frage, ob Wähler sich „grundsätzlich“ vorstellen können, die jeweilige Partei zu wählen. Es tatsächlich zu tun, ist etwas ganz Anderes. Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach, der ebenfalls Parteienpotentiale misst, warnt vor einer zu einfachen Interpretation: „Diese Potentiale schwanken stärker als die tatsächliche Wahlabsicht“. Sie seien „abhängig von tagespolitischen Strömungen.“ Das Allensbach-Institut hat etwa für die Grünen im Mai dieses Jahres ein Potential von 40 Prozent gemessen, während sie in Umfragen bei 20,5 Prozent standen. Im September 2021 lag das Potential der Grünen noch bei 26 Prozent und ihr Wert in Umfragen bei 16 Prozent.

Für die Linke kommt erschwerend hinzu, dass viele potentielle Wähler für sie im Nichtwählerlager zu finden sind. Hierbei muss die Partei nicht nur das Interesse für die Partei wecken. Viele der Nichtwähler haben oftmals das Vertrauen in das gesamte politische System verloren. Potentielle Linken-Wähler, die aktuell einer Kleinpartei die Stimme geben, haben zudem sehr unterschiedliche Motive dafür. Große Teile von ihnen für die Linke zu gewinnen, ist daher eine große Herausforderung. Und dass diejenigen SPD- und Grünen-Wähler, die eine Sympathie für die Linke haben, letztlich doch bisher bei ihren Parteien geblieben sind, hat seine Gründe.

Nicht nur Streitigkeiten schrecken Wähler ab

Einer von ihnen ist, dass Linke in letzter Zeit immer wieder Schlagzeilen mit Führungskonflikten gemacht hat. Sahra Wagenknecht wollen manche aus der Partei ausgeschlossen sehen, ihr Ehemann und Parteigründer Oskar Lafontaine ist kürzlich von allein gegangen. Die Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow trat zurück und im Landesverband der anderen Vorsitzenden, Janine Wissler, kam kürzlich ein Sexismusskandal auf. Auch wenn die Studie der Luxemburg-Stiftung herausfand, dass „gute Politiker*innen“ nur der drittwichtigste Grund für die eigenen Wähler sind, die Partei zu wählen, kann dies die Parteiführung nur bedingt beruhigen. Denn langfristige Streitigkeiten dürften potentielle Wähler wohl trotzdem eher abschrecken.

Viel schwerwiegender ist die Frage, wofür die Partei inhaltlich derzeit glaubhaft stehen kann. Wie kaum eine andere Partei ist die Linke in ihrem eigenen Selbstverständnis eine Programmpartei. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Studie der Luxemburg-Stiftung. Demnach solle die Partei eine Haltung forcieren, welche ökologische mit sozialer Politik verbinde. Dies ist wenig überraschend. Gleichzeitig macht es umso mehr deutlich, dass die Linke zwischen SPD und Grünen, die geradezu diese beiden Pole bilden – und gegenwärtig sogar regieren – eine Lücke finden muss.
 

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Außen- und Identitätspolitik polarisieren

Selbst wenn es der Linken gelänge, würde dies aber Konflikte innerhalb der eigenen Wählerschaft bedeuten. Denn klimapolitische Maßnahmen sind oftmals mit sozialen Einschnitten verbunden. Die Frage wird dann sein, wie Geringverdienende, die einen sozialen Ausgleich beanspruchen, mit den aufgestiegenen Facharbeitern oder gutverdienenden Gewerkschaftern zusammengebracht werden können. Dazu kommen dann noch die Konflikte um den Stellenwert von Sozialpolitik versus Identitätspolitik. Auch da muss ein Interessenausgleich geschaffen werden zwischen klassisch sozialpolitisch orientierten Linken und einer urbanen, eher universitären Wählerschicht.

Die Wirkung der außenpolitischen Positionen der Linken auf Wähler sind bei der Analyse ihrer derzeitigen Situation besonders aufschlussreich. Vor allem bei SPD- und Grünen-Wählern ist die Außenpolitik der Linken ein wichtiger Grund, diese Partei nicht zu wählen. Jeweils über 55 Prozent von ihnen geben an, dass dies ein Haupthindernis sei, der Linken die Stimme zu geben. Erschwerend kommt für die Linke allerdings hinzu, dass ein Großteil der Wähler, die bei der letzten Wahl ihr Kreuz bei der Linken gemacht haben, dies ausdrücklich wegen der Außenpolitik der Partei gemacht haben. Dies macht das Spannungsfeld deutlich und den geringen Spielraum, welchen die Partei besitzt.

Profilschärfung mit einer „Populären Linken“?

Um mehr Profil zu gewinnen, hat eine Gruppe um Sahra Wagenknecht vor kurzem einen „Aufruf für eine populäre Linke“ verfasst. Hier geht es um die altbekannten Kernpunkte: Die Partei solle eine Sozialpolitik anstreben, die Ungleichheit abbaue. Sie solle sich für eine „gerechte Umwelt- und Klimapolitik“, für eine Friedenspolitik und die Stärkung der Demokratie einsetzen. Doch schon bei der adressierten Wählerschaft wird es diffus. Die Unterzeichnenden des Aufrufs wollen Schwerpunkte setzen bei Arbeitenden, Familien und sozial Benachteiligten. Gleichzeitig solle sie aber ebenso Politik für die „Mehrheit der Bevölkerung“ machen und sich „nicht auf bestimmte Milieus verengen“.

Der Aufruf fordert zudem, eine „allgemein verständliche Sprache“ zu sprechen. Die Linke müsse so aufzutreten, dass sie „die Menschen nicht moralisch von oben herab belehrt“. Auch dies ist natürlich leichter gesagt als getan. Denn was der eine als überheblichen moralischen Vorwurf empfindet, ist von dem anderen als gut gemeinter Rat für eine moralisch richtige linke Lebensweise gemeint gewesen. Dahinter liegen unterschiedliche Lebensstile und Lebenswelten der verschiedenen linken Milieus, die nur noch brüchige gemeinsame Grundlagen haben.

Kompromissbereitschaft: Ein Kernproblem der Partei  

Stattdessen ist in dem Aufruf etwas zu finden, was die Linke sehr oft betreibt, ja geradezu aufgrund ihrer komplizierten Wählerstruktur betreiben muss. Es finden sich Sätze wie: „Überzogene und unrealistische Forderungen schaden ebenso wie ein opportunistisches Streben nach Mitregieren um den Preis der Aufgabe linker Ziele.“ Der Leser erfährt, was die Partei nicht will. Nicht jedoch, was sie will. Es werden Gemeinsamkeit geschaffen durch Negativkompromisse. Dies gilt ebenso für die Zielsetzung, dass zwar in der Partei „verschiedene Auffassungen Platz haben“ sollten, aber gleichzeitig „die Fähigkeit der Partei, Einigungen zu finden, ausgebaut werden“ solle. So sind jenseits der Programmatik auch auf dieser strategischen Ebene viele Konflikte ungelöst.

Dies berührt ein Kernproblem der Partei: Entweder sie bietet möglichst vielen Strömungen parallel Platz und riskiert programmatische und strategische Unkenntlichkeit. Oder aber sie entschließt sich zu klaren Linien, was dann zu Parteiabspaltungen führen würde. Lange versuchte die Linke, es zu vermeiden, sich für eines von beiden zu entscheiden. In den vergangenen Jahren, als sie noch mit 9 Prozent im Bundestag saß, konnte sie sich diese Räume der Unklarheit leisten, in denen Differenzen ausgehalten wurden. Diese stellten dann den Strömungsproporz zufrieden, auch wenn sie einzelne Wählerstimmen kosteten. In ihrer aktuellen desolaten Lage ist ein solches Vorgehen für diese Partei kaum mehr möglich.

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