Deutschland und Österreich nach der Europawahl - Die Parallelaktion

Hier Rezo, dort Strache – in Deutschland und Österreich haben Videos die Regierungsparteien und ihre Protagonisten in Erklärungsnot gebracht. Das ist nicht die einzige Parallele zwischen den Nachbarländern derzeit. In Österreich gibt es bald Neuwahlen. Und in Deutschland?

Sebastian Kurz ist nicht mehr Kanzler, wie lange bleibt es Merkel noch? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

Anzeige

Alle sagen: In Österreich war es erst eine Regierungskrise und erst nach dem Sturz von Kanzler Sebastian Kurz eine Staatskrise. Das stimmt. Aber die ganze Wahrheit ist auch: In Deutschland haben wir das auch, eine Regierungskrise in jedem Fall, eine Staatskrise ist nicht ausgeschlossen. Man könnte von einer „Parallelaktion“ sprechen, wie im epochalen Roman „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, in dem der Protagonist die zeitgleichen Thronjubiläen des österreichischen Kaisers Franz Joseph und des deutschen Kaisers Wilhelm II. so emsig wie ergebnislos vorbereitet.   

Influencing in einer neuen Dimension

Auslöser war in Deutschland wie im Falle Österreichs ein Video, vielleicht sogar zwei. In Deutschland hat der Youtuber Rezo, offenkundig von interessierter Seite finanziell und inhaltlich massiv unterstützt, mit einem langen Video gegen die CDU (und die SPD und AfD) die größte Volkspartei Deutschlands ins Wanken gebracht. Das kann und muss man problematisieren, weil sich hier Influencing in einer ganz neuen Dimension präsentiert: Bisher war es so, dass junge Menschen sich von Firmen kaufen ließen, um deren Produkte zu preisen. Früher hieß so etwas Schleichwerbung und war bei hohen Strafen verboten. Heute sagen Verwaltungsgerichte, das geht in Ordnung, denn das einschlägige Publikum wisse, dass es sich um Werbekanäle handelt. Ein hanebüchenes Urteil.

Im politischen Raum aber wird es noch schlimmer, wenn über diese Kanäle clandestin Politik gemacht wird. Ja: Auch Rupert Murdoch hat schon britische Premiers mit der Macht seiner Zeitungen am Nasenring durch die Manege gezogen. Aber die virale Kraft und die Permanenz des Netzes hat da noch einmal eine ganz andere toxische Wirkung. 

Selbst Merkel hat offenbar Zweifel an AKK

Das alles wollte Annegret Kramp-Karrenbauer möglicherweise sagen. Hat sie aber nicht. Sondern konfuses Zeug geredet darüber, dass man vor einer Wahl „Meinungsmache“ im Netz irgendwie unterbinden müsse. Es war ein weiterer grober Fehler, die sich in der kurzen Amtszeit der CDU-Vorsitzenden in jüngster Zeit massieren. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die frühere Ministerpräsidentin aus dem beschaulichen Saarland nicht gemacht ist für die harte politische Welt der Bundespolitik.  

Inzwischen scheint das auch diejenige zu merken, die sich niemand anderen als ihre Nachfolgerin gewünscht hat. Angela Merkel soll über AKK den Daumen gesenkt haben, steht bei einer meist sehr gut informierten Nachrichtenagentur. Das wäre ungemein wohlfeil. Denn die Fehler der AKK sind auch die Fehler ihrer Schöpferin, denn Merkel hat sie auf diesen Posten mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gehievt. Damit hätte Merkel eine weitere kolossale Fehlentscheidung zu verantworten, diesmal in Parteibelangen. 

Die Krise der CDU ist auch Merkels Krise

Deshalb ist die Krise der CDU nach den Patzern ihrer Vorstehenden auch eine Regierungskrise: Weil die Kanzlerin zwar alles tut für den Eindruck, sie habe mit diesem irdischen Geschehen nichts mehr zu tun. Hat sie aber doch. AKK ist ihre Kandidatin. Genauso hält es sich mit dem schlechtesten Wahlergebnis der CDU aller Zeiten bei einer Europawahl: Merkel ist die Kanzlerin. Wenn AKK angeschlagen ist, dann ist auch Merkel angeschlagen. So einfach ist das. 

Auch Nahles wankt

Die zweite Säule der Koalition wankt auch. SPD-Chefin Andrea Nahles musste nur wenige Stunden nach einer trotzigen Absage an personelle (also eigene) Konsequenzen aus dem Wahldesaster der SPD ihre eigenen Worte fressen und setzte immer noch trotzig Neuwahlen des Fraktionsvorsitzes für nächste Woche an. Kommt doch, kommt doch, sagt sie damit zu ihren Widersachern, in der letzten verbleibenden Hoffnung, dass diese nach dieser Offensive kneifen. Oder dass sich die verschiedenen Aspiranten gegenseitig unschädlich machen. 

Unwahrscheinlich. Dazu ist zu viel an konzertierter Vorbereitung gelaufen, als dass Nahles es mit diesem Zug abwehren könnte, nächste Woche eines ihrer beiden Ämter zu verlieren. Ein Video übrigens, deshalb war eingangs von zwei Filmen die Rede, spielt auch hier eine Rolle beim endgültigen Verlust jedweder Autorität der Doppel-Vorsitzenden. Eine Schneise des Entsetzens schlug die Verbreitung eines Videos vom Wahlkampffinale in Bremen in die verbliebenen schütteren Reihen ihrer Unterstützer, ein Video, das Nahles auf höchst, nun ja, befremdliche Weise auf der Bühne in Aktion zeigt.

Wenn beide Vorsitzenden der Regierungsparteien unter existenziellem Druck stehen, dann nennt man das Regierungskrise. Wenn die im Parlament dann Folgen zeigt wie den Misstrauensantrag in Wien, dann wird daraus eine Staatskrise. 

Steinmeier sollte sich schon mal bereit machen

Der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen hat nach dem Sturz des Kanzlers durch das Parlament eine Expertenregierung eingesetzt und für den September Neuwahlen angekündigt. Bei denen wird Sebastian Kurz für die ÖVP wieder antreten. Eine ähnliche Entwicklung ist in Deutschland nicht ausgeschlossen, zumal im Herbst drei weitere Wahlen anstehen, die den beiden Boxern SPD und Union, jetzt schon stehend K.O., den endgültigen Knockout versetzen könnten. 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sollte sich bereit machen, dass es dieses Jahr noch auf seine Umsicht ankommt, die in der Staatskrise von Österreich bei seinem Amtskollegen in Wien zu beobachten ist. Der „Mann ohne Eigenschaften“ beschreibt mit grandioser erzählerischer Kraft eine seltsame Niemandszeit kurz vor dem Untergang der Monarchien in Österreich und Deutschland. Auch jetzt ist in Deutschland wieder eine seltsame Niemandszeit, in der das Alte überkommen, aber noch nicht weg ist, und das Neue noch nicht da. Aber ein Ende dieser Niemandszeit kündigt sich an. Die Wähler sind dabei, dieses Werk zu verrichten. Sie haben es bei der Bundestagswahl 2017 versucht und fast erreicht, sie haben es bei der Hessenwahl fortgesetzt und in aller Härte bei der Europawahl wiederholt. Wenn es sein muss, machen sie es auch noch ein viertes Mal im Herbst. 

Oder es sind gleich Neuwahlen wie in Österreich. Das wäre dann 100 Jahre nach Musil eine vollzogene Parallelaktion. Die hier wie da im besten Fall eine neue Zeit bringt. Und klare, neue Verhältnisse schafft.   

Anzeige