Deutsche Wirtschaft - Geplatzte Wohlstandsträume - Teil 1

Steigende Preise, fehlendes Gas: Deutschland steht vor einem wirtschaftlichen Schock, sein altes Geschäftsmodell scheint gescheitert zu sein. Wirtschaftsminister Habeck ruft dazu auf, kürzer zu duschen und mit kaltem Wasser die Hände zu waschen. War es das mit dem Globalisierungsgewinner?

Deutschland hat die letzten Jahre im wirtschaftspolitischen Tiefschlaf verbracht. Jetzt steht uns das Wasser bis zum Hals / Alexander Glandien
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Das westdeutsche Wirtschaftswunder endete mit einem Schock. Unsanft aufgeweckt aus den Buttercremetortenträumen vom ewig wachsenden Wohlstand spürte die Bundesrepublik plötzlich, wie abhängig sie von fremden Mächten ist. Denn die erdölfördernden arabischen Staaten setzten im Jom-Kippur-Krieg gegen Israel den Energiehunger der westlichen Industriestaaten als politische Waffe ein. Mit einem Lieferboykott und gedrosselten Ölexporten versuchten sie, die israelfreundlichen Länder zum Einlenken zu zwingen. Zwar ohne Erfolg, aber das Ergebnis war die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 

Wirtschaftshistoriker sehen in der 1973 begonnenen Ölpreiskrise einen Wendepunkt der Nachkriegsgeschichte: den dauerhaften Abschied von Vollbeschäftigung und niedrigen Staatsschulden. Denn trotz wieder anziehender Konjunktur stieg die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Einstige Schlüsselindustrien wie Kohlebergbau und Stahlproduktion verloren an Bedeutung. Das Sozialsystem geriet zunehmend in Schieflage.

Die neue Ölkrise

Derzeit erlebt Deutschland erneut einen Schock. Wieder geht es um Energie. Die Bundesrepublik hat sich durch den Atomausstieg und Pipeline-Geschäfte in gefährliche Abhängigkeit vom russischen Staatskonzern Gazprom begeben. Warnungen seiner Bündnispartner dies- und jenseits des Atlantiks nahmen Industrie und Regierung nicht ernst. Bis Russlands Armee in die Ukraine einmarschierte. Seitdem herrscht hektische Ratlosigkeit – oder ratlose Hektik. 

Wirtschaftsminister Robert Habeck versucht im Eiltempo, vom russischen Erdgas loszukommen. Fieberhaft sucht er nach alternativen Energielieferanten, will in Rekordgeschwindigkeit Flüssiggas-Terminals an der Nordseeküste bauen. Dass der Grünen-Politiker dieses Projekt gegen den Widerstand seiner eigenen Parteibasis vor Ort durchsetzt, hat ihm Respekt eingebracht. Doch um vollständig von russischem Gas loszukommen, wird das nicht reichen. Habeck, der den kommenden Winter im Blick hat, ruft Bürger und Unternehmen zum Energiesparen auf. Kürzer duschen („höchstens fünf Minuten“) und kalt die Hände waschen („Seife entfernt Schmutz auch ohne Warmwasser“) lauten Spartipps aus seinem Ministerium. 

Gleichzeitig bereitet die ihm unterstellte Bundesnetzagentur das Worst-Case-Szenario vor: Was passiert, wenn Putin den Gashahn zudreht? Welche Industrieunternehmen werden abgeschaltet, welche Produktionsanlagen dürfen weiterlaufen? Zur Anwendung kommt dann ein Gesetz, das während der Ölkrise beschlossen, aber bislang noch nie gebraucht wurde: das Energiesicherungsgesetz von 1975. Es sieht weitreichende Eingriffe des Staates vor, eine Art Kriegswirtschaft, in der knappe Güter behördlich zugeteilt statt marktwirtschaftlich verteilt werden.

Die fatale Abhängigkeit vom Gazprom-Gas

Ob es so weit kommt, bleibt abzuwarten. Verheerende Folgen hat die neue Energiekrise schon jetzt. Denn die Preise sind regelrecht explodiert. Erdgas kostet das Drei- bis Vierfache. Aber auch Öl und Strom sind deutlich teurer. Die steigenden Energiekosten sind Haupttreiber der Inflation. Das trifft Privatkunden, denen das dicke Ende in Form der jährlichen Heizkostenabrechnung zumeist noch bevorsteht, und es trifft die produzierenden Unternehmen. Ob in der Großbäckerei oder in der Papierfabrik: Gas wird in etlichen Produktionsprozessen genutzt, um Wärme zu erzeugen. In der Chemieindustrie dient es zudem noch als Ausgangsstoff für andere Produkte. Der Bedarf ist enorm. Von den 999 Terawattstunden, die vergangenes Jahr an Erdgas in Deutschland verbraucht wurden, entfielen 37 Prozent auf die Industrie und etwa 31 Prozent auf Haushalte. „Die Exportkraft unseres Landes basiert auf der Industrie. Und die Produktionskraft unserer Industrie basiert auf Gas“, stellt der Lobbyverband Zukunft Gas zwar nicht ganz unparteiisch, aber zutreffend fest.

Wohin der Gasschock auch führen wird, als Wendepunkt werden ihn künftige Historiker sicher bezeichnen. Denn ein Gefühl macht sich jetzt schon breit in Deutschland: Die behaglichen Zeiten sind vorbei. Wir werden für unsere krachend gescheiterte Energie- und Russlandpolitik zahlen müssen. Das alte Geschäftsmodell, die falsch angegangene Energiewende durch billiges Gas retten zu wollen und so die deutsche Industrie trotz hoher Stromkosten wettbewerbsfähig zu halten, funktioniert nicht mehr. 
Wenige Monate bevor Minister Habeck die Frühwarnstufe des nationalen „Notfallplans Gas“ ausgerufen hat und das Kaltduschen zum patriotischen Akt erklärte, stellte er den Koalitionsvertrag der rot-grün-gelben Bundesregierung vor. Darin ist von der „Errichtung moderner Gaskraftwerke“ die Rede, die dabei helfen sollen, „den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken“.

Das war bis zu Putins Angriff auf die Ukraine noch die zentrale Idee der deutschen Energiepolitik: Günstiges Gazprom-Gas sollte die flatterhafte Stromerzeugung aus Wind und Sonne absichern, um den Atom- und Kohleausstieg ohne Blackout-­Gefahr zu vollenden. Diese Idee ist jetzt hinfällig. Wenn schon das Gas zum Händewaschen mit warmem Wasser fehlt, wird es für zusätzliche Gaskraftwerke keinesfalls reichen.

Das Ende des globalen Kapitalismus?

Es ist nicht nur die Energieversorgung, die Deutschlands Wohlstandsmodell ins Wanken bringt. Ein weiteres Fundament des ewigen Wirtschaftswundertraums beginnt zu bröckeln: die Globalisierung.
Kaum eine andere Volkswirtschaft profitiert so sehr von weltweitem Handel wie die Bundesrepublik. Längst nicht nur Industriegiganten, sondern auch etliche kleinere, hoch spezialisierte Mittelständler sind seit den 1990er Jahren zu global tätigen Konzernen herangewachsen. Sie haben Fabriken und Vertriebsbüros auf mehreren Kontinenten, verkaufen ihre Produkte von Asien bis Amerika. Es ist eine Binsenweisheit, aber man kann sie nicht oft genug wiederholen: Deutsche Unternehmen sind auf offene Märkte und freien Handel angewiesen.

Angesichts der neuen Ost-West-Konfrontation in der Ukraine wirkt die Vorstellung, Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft breiteten sich von alleine aus und führten zum ewigen Weltfrieden, anachronistisch. Wandel durch Handel – ein Konzept, das nicht nur den Exportinteressen der deutschen Wirtschaft diente, sondern auch als Vorwand für sicherheitspolitische Naivität – ist vorerst gescheitert. Schon ist von einer neuen Blockbildung die Rede und von der „Deglobalisierung“. Das soll heißen: Der globale Siegeszug des Kapitalismus ist beendet. Stimmt das?

Im Westen ist das Vertrauen in die Kräfte des Marktes spürbar gesunken. Nicht nur unter Normalbürgern, sondern auch unter Politikern, die mit ihren Entscheidungen das Wirtschaftssystem prägen. Seit der Finanzkrise, die 2007 in den USA begann und 2009 in der von Griechenland ausgehenden Eurokrise mündete, setzen westliche Politiker zunehmend auf Protektionismus statt auf freien Welthandel. Sie misstrauen dem Großkapital und wollen heimische Arbeitsplätze vor Billigkonkurrenz in fernen Ländern schützen. Verstärkt wurde dieser Trend durch die Corona-Lockdowns, die zum Zusammenbruch weltumspannender Lieferketten führten.

Chinesische Rohstoffe

Während der Pandemie wurde schlagartig deutlich, wie fraglich das auf Kosteneffizienz getrimmte Netz globaler Arbeitsteilung ist – und welche mitunter lebensbedrohlichen Gefahren darin lauern. In Deutschland standen nicht nur Autofabriken still, weil winzige Elektronikbauteile fehlten, die aus Asien importiert werden. Es mangelte plötzlich auch an Medikamenten und medizinischer Schutzausrüstung.

Deutsche Unternehmen haben deshalb bereits vor Ausbruch des Ukraine­kriegs damit begonnen, ihre Zulieferbeziehungen zu prüfen. Das neue Trendwort lautet Diversifizierung. Gemeint ist, die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten und Ländern zu verringern. Besonders im Blick dabei: China. So sagten in einer Umfrage des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung fast die Hälfte der Firmen, dass sie wichtige Vorleistungen aus China beziehen. Und davon wiederum die Hälfte gab an, diese Importe reduzieren zu wollen.

Das Hauptproblem seien die Rohstoffe, sagt Ifo-Forscherin Lisandra Flach. „Nur 3 Prozent der kritischen Industriegüter, die Hersteller in der EU benötigen, kommen aus China. Aber bei kritischen Rohstoffen, die wir für bestimmte Schlüsseltechnologien wie Elektromotoren und Windkraftanlagen brauchen, sind es bis zu 60 Prozent. Da ist die Abhängigkeit von China enorm“, so die Münchner Ökonomin und Außenwirtschaftsexpertin. Eine Abkehr von der Globalisierung wäre allerdings der falsche Weg. Wenn sich Deutschland aus dem Welthandel zurückziehen würde, hätte das enorme negative Folgen für die inländische Wirtschaft, warnt Flach. „Laut unseren Modellrechnungen würde das Bruttoinlandsprodukt um fast 10 Prozent sinken. Wir wären dann deutlich ärmer.“

Scholz setzt Zeichen gegen China

Dass die Abhängigkeit von Deutschlands Haupthandelspartner China inzwischen als Problem gilt, hängt nicht nur mit den Turbulenzen der Corona-Krise zusammen. Container, die sich in den Überseehäfen stauten, eigneten sich zwar als plakatives Bild für die knirschende Maschinerie des weltweiten Warenaustauschs. Doch das waren logistische Probleme. Etwas ganz anderes sind politische Verwerfungen, wie sie im heraufziehenden Großkonflikt zwischen China und den USA drohen. Die deutsche Haltung war bislang: Wir halten uns aus Konflikten möglichst heraus und machen mit beiden Seiten Geschäfte. Dass das nicht ewig gut geht, hat Russland gezeigt. Mit allen schmerzhaften Folgen.

Oppositionsführer und CDU-Chef Friedrich Merz warnte daher sehr deutlich: „Wer sich heute überrascht zeigt über unsere Abhängigkeit vom russischen Gas, der möge sich einmal mit unserer Abhängigkeit von China auseinandersetzen. Wir müssen uns so schnell wie möglich aus dieser Abhängigkeit befreien.“ Ein Punkt, bei dem er sich mit Olaf Scholz sogar einig zu sein scheint. Denn der Sozialdemokrat unternahm seine erste Auslandsreise als Bundeskanzler nicht nach China, das Lieblingsziel seiner christdemokratischen Amtsvorgängerin Angela Merkel, sondern nach Japan.

Dort hielt der Kanzler eine wirtschaftspolitische Grundsatzrede, die hierzulande kaum beachtet, dafür in Peking sicher ganz genau zur Kenntnis genommen wurde. Denn Scholz betonte in Tokio, wie wichtig es sei, dass „die wirtschaftsstarken Demokratien der Welt“ zusammenstehen. Als Partner in der Indopazifik-Region nannte er neben Japan Australien, Neuseeland, Korea, Indien und Indonesien – „Länder, mit denen uns gemeinsame Werte und Interessen verbinden“. China erwähnte er mit keinem Wort.
Das Szenario, vor dem sich die exportabhängige (und bei Rohstoffen importabhängige) deutsche Industrie derzeit fürchtet, ist das folgende: Das Regime in Peking könnte die Spannungen zwischen der Nato und Russland nutzen, um im Windschatten des Ukrainekriegs die, aus seiner Sicht, abtrünnige Insel Taiwan anzugreifen. Die USA würden dann wohl mit harten Wirtschaftssanktionen reagieren. Für deutsche Autokonzerne oder mittelständische Maschinenbauer, die einen großen Teil ihrer Geschäfte mit China machen, hätte das schmerzhafte Konsequenzen.

Weiter zu Teil 2.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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