Demokratieverständnis des Verfassungsschutz-Präsidenten - Die Meinungsfreiheit ist ein Freibrief

Der oberste Verfassungsschützer Thomas Haldenwang bekräftigt in einem FAZ-Artikel seine Ansicht, dass sich seine Behörde auch um Meinungsäußerungen kümmern müsse, die nicht strafbar sind. Das ist zutiefst beunruhigend – und verfassungswidrig.

Thomas Haldenwang / picture alliance
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Thomas Haldenwang ist nicht nur der Chef eines Geheimdienstes. Er entwickelt sich – anders als seine Vorgänger – immer mehr zum politischen Akteur. Immer öfter schaltet er sich in politische Debatten ein. Am Ostermontag hat er sich in einem Gastbeitrag dezidiert zu den Grenzen der Meinungsfreiheit geäußert. Wie er das mit dem beamtenrechtlichen Mäßigungsgebot und seiner Neutralitätspflicht vereinbaren kann, bleibt sein Geheimnis. Seine Äußerungen sind inhaltlich nicht selten inakzeptabel, und sie verraten ein gefährliches Verfassungsverständnis.

Die Meinungsfreiheit ist kein Freibrief, schreibt Haldenwang am Ostermontag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch wenn er die Aussage als vorsichtiger Jurist und Spitzenbeamter etwas einschränkt, ist das eine verfassungsrechtliche Provokation. Denn natürlich ist die Meinungsfreiheit ein Freibrief, wenn auch mit – sehr weit gezogenen – Grenzen.

Die deutsche Verfassung denkt von der Freiheit her. Am Anfang des Grundgesetzes stehen die Grundrechte, durch die viele unterschiedliche Facetten der Freiheit geschützt werden. Neben der Meinungsfreiheit sind das etwa auch die Religionsfreiheit, die Pressefreiheit, die Demonstrationsfreiheit oder die Eigentumsfreiheit. Das sind wenige Beispiele und keineswegs alle Freiheiten, die das Grundgesetz für die Bürger schützt. Dass die Verfassung der Freiheit eine so hohe Priorität einräumt, erklärt sich aus ihrer Entstehungsgeschichte. Sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf die menschenfeindliche Barbarei der Nazidiktatur entstanden. Die deutsche Verfassung ist die Antithese zum Nationalsozialismus, der die Menschenwürde negiert und die Freiheit mit Füßen getreten hat. Das Grundgesetz ist der verfassungsrechtliche Ausdruck des „Nie Wieder“. Deshalb stellt es die Menschenwürde und die Freiheit in den Mittelpunkt.

Hassrede und Meinungsfreiheit

Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist immens weit. Hass ist keine Meinung, heißt es immer wieder. Das ist keine unsympathische Ansicht. Aber juristisch gesehen ist das falsch. Die Meinungsfreiheit hat zwei Funktionen. Sie dient der freien Entfaltung der Persönlichkeit, und sie ist die unverzichtbare Voraussetzung für die Demokratie. Eine beschränkte Meinungsfreiheit, die vom öffentlichen Mainstream geregelt wird, kann diese Aufgaben nicht erfüllen. Deshalb ist die Meinungsfreiheit nur sinnvoll, wenn sie möglichst umfassend ist. Die Journalistin Anna Schneider hat völlig recht, wenn sie feststellt, dass auch die Hassrede von der Meinungsfreiheit geschützt wird.  

 

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Und die Meinungsfreiheit schützt noch viel mehr: dummes Zeug, scharfe Polemik, obszöne Darstellungen, extremistische Ideen. Ein Beispiel, das hohe Wellen geschlagen hat: 1995 hat das Verfassungsgericht entschieden, dass die Äußerung „Soldaten sind Mörder“ grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Dafür ist es aufs heftigste kritisiert worden. Trotzdem bleiben die Richter in Karlsruhe bei ihrem Grundsatz: Im Zweifel für die Meinungsfreiheit. Sogar nationalsozialistisches Gedankengut, das öffentlich geäußert wird, genießt grundsätzlich, aber nicht unbegrenzt, den Schutz der Verfassung. Das hat das Bundesverfassungsgericht 2009 ausdrücklich festgestellt. Das Grundgesetz ist aus guten Gründen sehr großzügig und souverän. Es vertraut darauf, dass sich im demokratischen Diskurs der Staatsbürger das bessere Argument durchsetzt.

Meinungsfreiheit – nicht ohne Grenzen

Trotzdem ist die Meinungsfreiheit natürlich nicht völlig unbeschränkt. Das wäre kaum möglich. Es gibt andere Rechtsgüter, die im Einzelfall wichtiger als die Meinungsfreiheit sein können. Deshalb sind die Strafgesetze eine Grenze für die Meinungsfreiheit. Wer etwa andere beleidigt oder das Volk verhetzt, kann sich nicht auf den Schutz der Verfassung berufen. So ist es – ein Beispiel – verboten, die NS-Herrschaft zu verherrlichen und dadurch die Würde der Opfer zu verletzen und den öffentlichen Frieden zu stören. Aber immer wieder betonen die Richter in Karlsruhe: Die Begrenzung der Meinungsfreiheit muss sich auf das absolut notwendige Minimum beschränken. Denn die Bedeutung der Meinungsfreiheit ist überragend.

Das sieht Thomas Haldenwang in seinem FAZ-Artikel etwas anders. Er betont, dass sich der Verfassungsschutz auch um Meinungsäußerungen kümmern müsse, die nicht strafbar seien. Damit greift er in die Verfassung ein und zieht die Grenzen für die Meinungsfreiheit enger. Das ist zutiefst beunruhigend – und verfassungswidrig.

Die Freiheit der Gedanken

Die Gedanken sind frei, heißt es schon im 19. Jahrhundert bei Hoffmann von Fallersleben. Und im Dezember 1948 haben die Vereinten Nationen die Gedankenfreiheit ausdrücklich in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenommen. Muss man denn dann über eine solche Selbstverständlichkeit reden und schreiben? Leider ja. Jüngste öffentliche Äußerungen des Verfassungsschutzpräsidenten Haldenwang geben dazu Anlass.

In einer öffentlichen Pressekonferenz Mitte Februar sprach der oberste Verfassungsschützer davon, dass man bei der Extremismusbekämpfung nicht nur auf Gewaltbereitschaft achten dürfe. Es gehe auch um „verbale und mentale Grenzverschiebungen“. Man müsse aufpassen, „dass sich entsprechende Denk- und Sprachmuster nicht in unsere Sprache einnisten“. Wenn es nach ihm geht, muss sich der Verfassungsschutz, ein Geheimdienst, mit mentalen Grenzverschiebungen und Denkmustern befassen. Je länger man über diesen Satz nachdenkt, desto unfassbarer wird er. Haldenwang fordert allen Ernstes, dass seine Behörde vorbeugend das Denken der Bürger beobachten müsse. Das ist ein skandalöser Anschlag auf die Gedankenfreiheit.

Delegitimierung des Staates – Politik durch Begriffe

Haldenwang macht Politik durch Begriffe. 2021 hat er als Reaktion auf die Proteste gegen die Coronamaßnahmen den Begriff „Delegitimierung des Staates“ erfunden. Seine Behörde unterscheidet seitdem zwischen legitimen Protesten und Protesten, die demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen verächtlich machen. Die Verfassungsschützer nennen das Delegitimierung des Staates. Wer die Grenze zwischen legitimem Protest und Delegitimierung des Staates überschreitet, wird zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Wo die Grenze verläuft, entscheidet Haldenwangs Behörde selbst. Delegitimierung ist ein völlig unscharfer, sehr schwammiger Begriff. Darunter lässt sich alles Mögliche fassen. Im Ergebnis bedeutet das: Freie Hand für Haldenwangs Behörde. Das entspricht nicht den Rechtsstaatsvorstellungen des Grundgesetzes. Denn dem Rechtsstaat geht es darum, staatliche Macht durch enge und eindeutige gesetzliche Vorschriften zu begrenzen.

Was passiert da eigentlich? Der Chef eines Geheimdienstes erweitert eigenmächtig die Kompetenzen seiner Behörde. Das ist sehr beunruhigend. Immerhin ist der Verfassungsschutz ein Geheimdienst, der die Bürger beobachtet. Dazu darf er unter bestimmten Voraussetzungen klassische geheimdienstliche Mittel einsetzen, etwa Observationen oder Abhöraktionen.

Freiheit stirbt durch Angst

Die Freiheit stirbt immer zentimeterweise, hat der liberale Politiker Karl Herrmann Flach gesagt. Das ist völlig richtig. Die Freiheit stirbt allerdings auch durch Angst. Das lässt sich seit der Corona-Pandemie beobachten. Die politische Bekämpfung der Pandemie hat viel zu sehr auf Angst gesetzt. Die RKI-Files zeigen, wie ganz bewusst Angst erzeugt wurde, um die Bevölkerung zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. In dieser Tradition bewegt sich Haldenwang, natürlich mit Billigung seiner Innenministerin. Er warnt die Bürger davor, bestimmte Dinge zu denken und zu sagen. Er droht ihnen mit der Beobachtung durch den Geheimdienst, wenn sie unerwünschte Gedanken haben und äußern. Das ist ein kaum verhüllter Einschüchterungsversuch. Ein Geheimdienstchef, der die Bevölkerung einschüchtert? In einer Demokratie darf das nicht sein.

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