Nach Corona - Droht ein gesellschaftliches Long Covid? 

Die Pandemiepolitik der letzten zweieinhalb Jahre ist nicht spurlos an der Gesellschaft vorbeigegangen. Kritik entzündete sich vor allem an der Frage: Welche Freiheitseingriffe sind zum Schutz vor Covid-19 verhältnismäßig? Die Soziologin Sandra Kostner hat dazu ein Buch mitherausgegeben. Sie befürchtet, dass mit der Covid-Politik ein gefährlicher Geist aus der Flasche gelassen wurde, der kaum noch einzufangen ist.

Demonstrant bei einer Demo gegen Corona-Maßnahmen / dpa
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Autoreninfo

Dr. Sandra Kostner ist Historikerin an der PH Schwäbisch-Gmünd. Während ihrer Promotion arbeitete sie als Lehrbeauftragte am Historischen Institut und am Institut für Jüdische Studien der University of Sydney. 

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Zusammen mit der Journalistin und Autorin Tanya Lieske gibt die Historikerin Sandra Kostner dieser Tage ein Buch heraus, in dem sich 17 Autoren der Frage stellen, wie die deutsche Corona-Politik die Gesellschaft verändert hat. Ihr Band „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?" ist ein Plädoyer für eine Aufarbeitung einer schwierigen Zeit, in der viele Probleme und Fragen offen geblieben sind: Warum wurden spezifische Maßnahmen der Pandemiebekämpfung ergriffen? Welche Verwerfungen und Brüche sind im sozialen Gefüge durch politische Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung entstanden? Hat der Stellenwert individueller Freiheit einen Bedeutungsverlust erlitten? Und wie können die sich nun immer deutlicher zeigenden negativen Folgen dieser Politik überwunden werden? Hier publizieren wir vorab einen Auszug aus Kostners eigenem Essay mit dem Titel „Droht ein gesellschaftliches Long Covid?“.

Als Historikerin habe ich mich in den letzten zweieinhalb Jahren oft gefragt: Wie werden künftige Generationen auf den gesellschaftlichen Umgang mit einem respiratorischen Virus blicken? Was wird ihnen besonders zu denken geben? Wird es die sprachliche Janusköpfigkeit sein? Also eine Sprache, die einerseits stark auf Solidarität abhob, andererseits aber von Begriffen geprägt war, die der Verächtlichmachung, Herabwürdigung, Ausgrenzung und Nötigung derjenigen dienten, die sich nicht den jeweiligen Solidaritätsvorgaben der Politik unterwarfen. Wird es die Unbarmherzigkeit sein, mit der soziale Kontaktbeschränkungen durchgesetzt wurden, auch wenn dies bedeutete, dass Pflegebedürftige in Heimen vereinsamten und Kranke allein in Krankenhäusern sterben mussten? [...] Oder wird es die Leichtfertigkeit sein, mit der viele Menschen bereit waren, hart erkämpfte individuelle Freiheitsrechte gegen das von staatlichen Akteuren gemachte Versprechen des Gesundheitsschutzes einzutauschen? 

Der Blick künftiger Generationen auf unsere Gesellschaft wird auch davon abhängen, wie wir mit den sozialen Verwerfungen und zwischenmenschlichen Wunden umgehen, die infolge der politischen, institutionellen, medialen und sozialen Reaktionen auf das Sars-CoV-2 genannte Atemwegsvirus entstanden sind. Und er wird davon geprägt werden, ob die Coronapolitik einer grundlegenden Verschiebung des Freiheitsbegriffs Vorschub geleistet hat, und zwar in die Richtung, dass ein politisch definiertes Allgemeinwohl an oberster Stelle steht, dem sich im Kollisionsfall individuelle Freiheitsrechte ganz selbstverständlich unterordnen müssen. Die Wertschätzung individueller Freiheit war eines der ersten Opfer im „Kampf gegen Corona“.

Dass Menschen in als bedrohlich wahrgenommenen Situationen stärker nach Sicherheit als nach Freiheit streben, ist verständlich. Bedenklich für eine freiheitlich verfasste Gesellschaft ist aber, dass sich bei vielen Menschen mittlerweile eine Geringschätzung für die Freiheit des Anderen verfestigt hat, die, weil sie medial und politisch (noch) Rückhalt findet – beziehungsweise sogar von dieser Seite angefacht wird –, ganz offen zum Ausdruck gebracht wird. 

Mitmenschen als virale Gefährder 

In den ersten beiden Pandemiejahren galt für einen nicht geringen Bevölkerungsteil die Devise: „Niemand hat die Freiheit, andere zu gefährden“ – ein Satz, der zu einem Totschlagargument gegen individuelle Freiheitsrechte avancierte. Gemeint ist damit: „Niemand darf etwas tun, was dazu führen könnte, dass ich mich mit dem Virus infiziere.“ Dieser Devise liegt ein starkes Schutzbedürfnis zugrunde, das vielfach dazu führte, dass sich Menschen einem rationalen Austausch von Argumenten darüber verschlossen haben, ob Handlungen einer anderen Person überhaupt ein Infektionsrisiko darstellen. Interessant ist an dieser Stelle, dass sich das Bedrohungsgefühl auch auf Meinungsäußerungen erstreckt hat. Dies ist wohl der Sorge geschuldet, dass jede Debatte über die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit von Schutzmaßnahmen zu deren Nichteinführung beziehungsweise Aufhebung führen könnte.

Was der so denkende Bevölkerungsteil demnach vom Staat erwartet hat, ist, dass dieser ihm den maximal möglichen Schutz angedeihen lässt, indem er die Freiheit der Anderen begrenzt. Was die dafür verordneten Maßnahmen für die Anderen sozial, emotional und ökonomisch bedeuten, erscheint angesichts der eigenen Ängste als irrelevant. Für nicht wenige hat es sich sogar so verhalten, dass ihr subjektives Schutzgefühl proportional zur Eingriffsintensität in die Freiheitsrechte der Anderen gewachsen ist – selbst dann, wenn Maßnahmen nachweislich das Infektionsrisiko nicht beeinflussen (man denke beispielsweise an das im Frühjahr 2020 in Bayern geltende Verbot, auf Parkbänken ein Buch zu lesen). 

Diese Haltung befördert einen Staat, der in seinen Bürgern keine mündigen Individuen, sondern unmündige Schutzbefohlene sieht, deren Freiheitsgebrauch er durch detaillierte Verhaltensanweisungen reglementieren muss. Diese Veränderung im Verhältnis von Bürgern und Staat kommt auf staatlicher Seite denjenigen entgegen, die in individuellen Freiheitsrechten zuvorderst ein Hindernis für ihren politischen Gestaltungswillen sehen. Gegenwärtig ist dies vor allem bei Bündnis 90/Die Grünen zu beobachten, die zur Verwirklichung ihrer klimapolitischen Ziele eine massive Transformation der Gesellschaft anstreben. Sie sind sich dessen bewusst, dass die Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen einen übergriffigen Staat ihrer Transformationspolitik Grenzen setzen. Anstatt diese Grenzen zu akzeptieren, versuchen sie den Freiheitsbegriff grundlegend zu verändern: weg von der Handlungsfreiheit des Individuums hin zum Allgemeinwohl. Damit wird Freiheit politischen Zielen unterworfen und zugleich moralisch aufgeladen: in einen „allgemeinwohlschädlichen“ und „allgemeinwohlförderlichen“ Freiheitsgebrauch. Die Politik (unterstützt von reichweitenstarken Medien und politikzielkonformen Wissenschaftlern) bestimmt, was „schädlich“ und was „förderlich“ ist, wobei die Festlegung sowohl aufgrund ideologischer als auch machtpolitischer Erwägungen erfolgen kann.

 

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Der deutschen Coronapolitik war eine von machtpolitischen Erwägungen getragene Umdeutung des Freiheitsbegriffs von Anbeginn inhärent. Der Grund dafür ist, dass Regierungspolitiker der Vorstellung erlagen, dass ein Virus mit politischen Instrumenten kontrollierbar sei. In dieser Vorstellung bestärkt wurden (und werden) sie von dem Bevölkerungsteil, der staatlichen Schutz einfordert und der deshalb explizit wollte (und will), dass der Staat bestimmt, wie viele Menschen jemand treffen darf, wo er diese Menschen treffen darf, und ob die Menschen, mit denen man zusammenkommen darf, geimpft sind oder nicht. Dadurch, dass die politischen Entscheidungsträger sich dazu berufen fühlten, die Rolle des gesundheitlichen Schutzengels der Gesellschaft zu übernehmen, begaben sie sich in das Dilemma, einer Anforderung gerecht werden zu müssen, die weit über das hinausgeht, was Politik realistischerweise leisten kann. Hinzu kam, dass viele Maßnahmen, insbesondere die Lockdowns, mit erheblichen sozialen und ökonomischen Schäden einhergingen.

Mitmenschen als virale Gefährder

Einzugestehen, dass Schutzmaßnahmen ihre Wirkung verfehlten, wurde immer weniger eine Option für die politisch Verantwortlichen, je größer die Schadensbilanz ausfiel. Stattdessen lautete die mit zunehmender Vehemenz vorgetragene Ansage an die Bevölkerung: Infektion, Krankheit und Tod sind vermeidbar, wenn sich nur alle an die jeweils verfügten Maßnahmen halten. Steigende Infektionszahlen lastete die Politik ausschließlich denjenigen an, die bei bestimmten Maßnahmen nicht mitzogen. Zunächst waren das diejenigen, die ihre sozialen Kontakte nicht einschränken oder nicht auf Urlaubsreisen verzichten wollten. Im Sommer 2021 wurde dann den Ungeimpften die Sündenbockrolle übertragen. Ein wichtiges Signal in diese Richtung wurde vom damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei der Bundestagsdebatte zur Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite gegeben, indem er betonte, dass es nunmehr nur noch eine „Pandemie der Ungeimpften“ gebe. Damit war klar, wer von nun an dafür verantwortlich zu machen ist, wenn hohe Infektions- und Krankheitszahlen wieder strengere Schutzmaßnahmen erforderten. 

Kurzer kontextualisierender Blick über den Atlantik: Die Formulierung „Pandemie der Ungeimpften“ machte in vielen westlichen Ländern Karriere, nachdem Rochelle Walensky (Direktorin des amerikanischen Center for Disease Control and Prevention) sie im Juli 2021 verwendet hatte – interessanterweise fast zeitgleich zum Bekanntwerden einer Studie, die zeigte, dass 75 Prozent der anlässlich eines Virusausbruchs in Massachusetts positiv Getesteten doppelt geimpft waren und dass sich ihre Virenlast nicht von der bei Ungeimpften gefundenen unterschied. Begleitet wurde die Verantwortungsübertragung an spezifische Gruppen für das Infektionsgeschehen regelmäßig mit dem Satz: „Niemand hat die Freiheit, andere zu gefährden“. Der moralische Appellcharakter an das Verhalten von Menschen, der diesem Satz innewohnt, ist stark – so stark, dass viel zu selten hinterfragt wird, was seine konsequente Beachtung bedeuten würde: Seine Beachtung käme dem Ende jeglicher Freiheit gleich; nicht nur in Bezug auf Corona, aber hier in besonderem Maße, weil das Gefährdungspotenzial an etwas festgemacht wird, worüber Menschen keine Kontrolle haben: über ihre Atmung, die mit der Aufnahme und Abgabe von Atemwegsviren untrennbar verbunden ist. 

Das Bedrohungspotenzial, das von jedem Einzelnen qua seines Menschseins für andere ausgeht, ist also allenfalls sehr bedingt reduzierbar. Aus diesem Wissen resultiert eine nicht zu unterschätzende psychische Belastung für diejenigen, die in ihren Mitmenschen in erster Linie virale Gefährder sehen. Für diese Menschen übernehmen staatliche Maßnahmen eine psychische Entlastungsfunktion. Der Glaube daran, was unter Erfolgsdruck stehende politische Akteure suggerieren, nämlich, dass die Befolgung spezifischer Maßnahmen die von Mitmenschen ausgehende virale Gefährdung erheblich minimiere, erleben sie als psychisch entlastend. Auf der anderen Seite stehen sich von dem Virus weniger bedroht fühlende Menschen, die jedoch die Maßnahmen als sozial, ökonomisch und psychisch belastend erleben und daher der Maßnahmenpolitik kritisch gegenüberstehen.

Gesellschaftliche Spaltung durch Sündenbockpolitik

Beiden Bevölkerungsteilen konnten die politisch Verantwortlichen nicht gleichermaßen gerecht werden. Angesichts einer Gesundheitsbedrohung, deren Ausmaß anfänglich unbekannt war, erschien es für die Entscheidungsträger wohl opportuner, die Bedürfnisse des besorgten Bevölkerungsteils zu priorisieren. Dass viele politisch Verantwortlichen an dieser Priorisierung festhalten, obwohl schon lange offenkundig ist, dass die Bedrohung deutlich kleiner ist als befürchtet, hat im Lauf der Zeit zu einer tiefgehenden Entfremdung geführt: sowohl zwischen den politisch Verantwortlichen und den kritischen Bürgern als auch zwischen schutzfordernden und kritischen Bürgern. 

Vorangetrieben wurden diese Entfremdungsprozesse von vielen Medien, die Beitrag um Beitrag brachten, in denen Menschen nach einem einzigen Kriterium als moralisch „gut“ oder „schlecht“ bewertet wurden. Ein moralisches Gütesiegel verliehen bekamen diejenigen, die ein starkes Schutzbedürfnis verspürten und daher alle regierungsseitig verfügten Maßnahmen begrüßten. Sie galten als „vernünftig“ und „solidarisch“. Kritikern hingegen wurde ein moralisches Stigma angeheftet. Ihnen wurde vorgeworfen, „unvernünftig“ und „unsolidarisch“ zu sein. Herabgewürdigt wurden sie mit Begriffen wie: Coronaleugner, Covidiot, Schwurbler, Impfgegner oder Pandemietreiber.

Den Höhepunkt erreichte die Rhetorik der Spaltung, die von Forderungen nach einer Neuinterpretation des Freiheitsbegriffs durchzogen ist, in den Monaten November 2021 bis Januar 2022. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass die ab Anfang November stark steigenden Infektionszahlen die Wirksamkeit der Impfkampagne infrage stellten. Da die Regierung aber monatelang die Impfung als „den Weg aus der Pandemie“ dargestellt hatte, war das Eingeständnis, dass die Impfungen nicht wie erhofft wirkten, keine Option. Die Entscheidungsträger brauchten also jemanden, dem sie die Funktion des Blitzableiters für den sich aufstauenden Unmut zuweisen konnten. Diese Funktion teilten sie den Ungeimpften zu. Sie seien, so das bis zum Frühjahr 2022 dominierende Narrativ, daran schuld, dass die Pandemie fortdauere, weil sie den solidarischen Akt der Impfung verweigerten. Politiker wie Reiner Haseloff (Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt) oder Dilek Kalayci (Gesundheitssenatorin in Berlin) forderten die Bevölkerung dazu auf, Ungeimpfte zu meiden, weil Kontakte mit ihnen gesundheitsgefährdend seien. Haseloff tat dies in der TV-Sendung „Lanz“ am 2. November mit den Worten, dass man seinen Mitmenschen sagen soll, „bitte tritt nur ran, wenn du geimpft bist, du gefährdest mich“. Kalaycis Aufruf zur sozialen Ausgrenzung erfolgte in einem Tweet vom 11. November. Sie schrieb: „Kontakt nur mit Geimpfte[n]!“. 

Die Politik beließ es jedoch nicht bei Aufforderungen zur sozialen Ausgrenzung. Sie verfügte, dass Ungeimpfte sozial ausgegrenzt („2G“) und ökonomisch unter Druck gesetzt werden (keine Lohnfortzahlung im Quarantänefall). Stellvertretend für die von vielen Regierungspolitikern verfolgte soziale Ausgrenzungsmaxime sei hier der damalige saarländische Ministerpräsident Tobias Hans zitiert, der am 9. Dezember in der TV-Sendung „Maybrit Illner“ diese Sätze formulierte: „Zuerst einmal müssen wir eine klare Botschaft an die Ungeimpften senden: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben. Deshalb machen wir konsequent 2G.“

Die soziale Ausgrenzungspolitik diente drei Zielen: (1) Ungeimpfte sozial zu stigmatisieren und sie so zur Impfung zu nötigen, (2) sie als Sündenböcke zu markieren, die bestraft werden müssen, und (3) Geimpften zu signalisieren, dass sie als Belohnung für ihr „solidarisches Handeln“ nun mehr dürfen als „unsolidarische“ Ungeimpfte. Die Impulse zur Verunglimpfung und Ausgrenzung, die unter enormem Druck stehende Regierungspolitiker damit gaben, verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie wurden von vielen Medien übernommen und oftmals noch verstärkt.

Und sie fielen bei den Geimpften auf fruchtbaren Boden, die daran glaubten, dass die Impfung der einzige Weg aus der Pandemie sei, und für die der Glaube an die Wirksamkeit der Impfung wichtig war, um ihre Angst vor dem Virus zu bezwingen. Überdies trafen sie einen Nerv bei den Geimpften, die, realisierend, dass die medizinische Wirksamkeit der Impfungen geringer war als gedacht, den Wunsch verspürten, wenigstens sozial dafür belohnt zu werden, dass sie sich impfen ließen [...].

Umdeutung des Freiheitsbegriffs 

Einen Schritt über das Bestrafungssystem hinaus geht das im Dezember 2021 verabschiedete „Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen Covid-19“, mit dem eine einrichtungsbezogene Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitssektor eingeführt wurde. Diese Impfpflicht trat am 16. März 2022 in Kraft. Parallel zur Verabschiedung dieses Gesetzes wurde die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ins Spiel gebracht, die jedoch bei der Abstimmung am 7. April keine Mehrheit im Bundestag fand. Auffällig ist, dass alle Impfpflichtbefürworter eine Umdeutung des Freiheitsbegriffs vornahmen, wohl weil eine Impfpflicht mit dem etablierten Freiheitsverständnis nicht zu begründen gewesen wäre. Zur Illustration drei Beispiele: Markus Blume (CSU-Generalsekretär) sagte in einem Gespräch mit der Welt am 21. Januar 2022: „Freiheit heißt Impfpflicht für alle, anstatt Einschränkungen für alle.“ Hendrik Wüst (Ministerpräsident von NRW) tweetete am 23. Januar: „Menschen dürfen ihre individuelle Freiheit nicht über die Freiheit der Allgemeinheit stellen.“ Helge Lindh (SPD-Bundestagsabgeordneter) machte am 26. Januar bei der Orientierungsdebatte des Bundestages zur allgemeinen Impfpflicht das körperliche Selbstbestimmungsrecht mit diesen Worten verächtlich: „Es ist einfach ein vulgäres Verständnis von Freiheit, immer zu denken, Freiheit sei nur individuelle Unversehrtheit.“ 

Interessanterweise wurden all die oben zitierten Aussagen zu einem Zeitpunkt getätigt, an dem längst klar war, dass die Impfungen keine sterile Immunität erzeugen, dass Impfen also keinen Akt der Solidarität darstellen kann. Blume, Wüst, Lindh und Schlegel tätigten ihre Äußerungen sogar zu einem Zeitpunkt, als Datenmanipulationen aufgedeckt waren und man wusste, dass der Unterschied in den Hospitalisierungsraten zwischen Geimpften und Ungeimpften viel geringer war, als dies bei einer wirksamen Impfung sein dürfte. Dieser Umstand legt nahe, dass sich die so äußernden Personen nicht nur von der Realität gelöst haben, sondern bereit sind, individuelle Freiheitsrechte auf dem Altar machtpolitischer Erwägungen und/oder ihrer persönlichen Angst vor einem Virus zu opfern. Da individuelle Freiheitsrechte eine tragende Säule unseres Staates sind und deshalb nicht einfach negiert werden können, suchen Impfpflichtbefürworter nach Wegen, um das Selbstbestimmungsrecht des Individuums darüber, welche pharmakologischen Substanzen es sich injizieren lassen möchte, als allgemeinwohlschädlich zu delegitimieren. 

Infektionsschutz ist wichtiger als individuelle Freiheit

Hendrik Wüst und Markus Blume haben dazu das Geiselhaftnarrativ angewendet. Sie behaupteten, ein Ende der Maßnahmen und damit die Wiederherstellung individueller Freiheitsrechte sei nur dann möglich, wenn mithilfe einer Impfpflicht die Zahl der Ungeimpften substantiell reduziert würde. Die an die Geimpften gesendete Botschaft lautet: Eure Freiheit wird von den Ungeimpften beschränkt; wenn ihr eure Freiheit wiederhaben wollt, geht das, weil sich die Ungeimpften nicht freiwillig solidarisch zeigen, nur mittels einer Impfpflicht. Bei einem Teil der Geimpften verfängt die Botschaft wohl auch, weil sie sich an zweierlei gewöhnt haben: 
(1) Infektionsschutz ist wichtiger als individuelle Freiheit, und 
(2) nicht funktionierender Infektionsschutz ist grundsätzlich nicht der Politik anzulasten, sondern dem jeweils von der Politik auserkorenen Sündenbock. 

Zwei Jahre, in denen Politiker, unterstützt von Medien, Institutionenvertretern und Wissenschaftlern, leichtfertig die Geister „Ausgrenzung und Verunglimpfung Andersdenkender“ und „Allgemeinwohlideen schlagen individuelle Freiheitsrechte“ aus der Flasche ließen, haben zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen geführt. Mit anderen Worten: Es wurde der Boden für ein gesellschaftliches Long Covid bereitet. Noch haben wir es in der Hand, den Umdeutungsbestrebungen von Freiheit Einhalt zu gebieten. Und noch haben wir die Möglichkeit, die entstandenen sozialen Wunden zu heilen, bevor sie zu einer erheblichen Belastung für die Gesellschaft werden. Dazu muss die Politik der Ausgrenzung, Diffamierung und Nötigung endgültig beendet werden. Solange diese Politik „nur“ über das Sommerhalbjahr 2022 ausgesetzt ist und ihre Wiedereinsetzung im Herbst wie ein Damoklesschwert über der Gesellschaft hängt, kann der so dringend notwendige Wundheilungsprozess nicht richtig in Gang kommen. Ferner müssen wir uns gegenseitig wieder als Menschen wahrnehmen, was zuallererst bedeutet, miteinander ins Gespräch zu kommen. Dies erfordert die Bereitschaft, Verständnis und Empathie für die Beweggründe Andersdenkender aufzubringen. Empathie ist ein zentraler Schritt zur Versöhnungsbereitschaft, und diese muss von allen Seiten aufgebracht werden – insbesondere jedoch von denjenigen, die sich aktiv an der Verächtlichmachung und Ausgrenzung von vermeintlichen Sündenböcken beteiligt haben. 

Vor allem sie sollten sich fragen, warum sie sich von Politik und Medien gegen Mitmenschen aufhetzen ließen und ob sie wollten, dass sie in einer Situation, in der es politisch opportun erscheint, als gesellschaftlicher Blitzableiter dienen müssen. Ferner sollten sie sich überlegen, ob sie wollten, dass andere darüber bestimmen können, welche pharmakologischen Substanzen sie ihrem Körper zuführen. Denn es könnte der Tag kommen, an dem es um Substanzen geht, die sie nicht verabreicht bekommen möchten. Der Geist, der das ermöglicht, ist aus der Flasche. Es ist an uns, ihn dort wieder hineinzubekommen und als Lehre aus den Pandemiejahren künftig darauf zu achten, dass er nicht mehr entweichen kann.

 

aus: Sandra Kostner & Tanya Lieske: Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?
Eine interdisziplinäre Essaysammlung
10 / 2022. 210 Seiten
ISBN 978-3-8382-1754-3
DE € 24,00 AT € 24,60 Paperback

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