Carsten Linnemann über die Zukunft der CDU - „Wir brauchen die große Staatsreform“

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende sagt im Interview, wie sich seine Partei neu erfinden muss und was der eigentliche Grund für die Wahlniederlage war. Er plädiert für eine Exit-Strategie in Sachen Corona und kritisiert den Bundespräsidenten für dessen pauschale Kritik an Menschen, die wegen der Pandemie-Maßnahmen auf die Straße gehen.

Carsten Linnemann soll federführend das neue Grundsatzprogramm der CDU ausarbeiten / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Carsten Linnemann, Jahrgang 1977, ist seit Januar 2022 stellvertretender Parteivorsitzender der CDU und Vorsitzender der CDU-Programmkommission. Von 2013 bis 2021 war er Bundesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT). Linnemann gehört dem Bundestag seit 2009 an.

Herr Linnemann, sind Sie und Ihre Partei mittlerweile in der neuen Zeit angekommen? Mit anderen Worten: Wie fühlt es sich an nach 16 Regierungsjahren nun als Mitglied der größten Oppositionsfraktion im Bundestag?

Ich muss zugeben, dass ich ziemlich lange gebraucht habe, um dort anzukommen, wo wir heute sind. Allerdings war für mich der vergangene Samstag mit der Wahl von Friedrich Merz zum neuen CDU-Vorsitzenden ein klarer Wendepunkt. Weil ich mit einem derart starken Rückhalt für ihn, aber auch für unseren neuen Generalsekretär und für die neuen Mitglieder des Parteipräsidiums nicht gerechnet hatte. Das gibt uns allen Auftrieb – ebenso wie der Umstand, dass wir uns Wochen Zeit dafür genommen haben, um die verlorene Bundestagswahl zu analysieren. Eine derart schonungslose Analyse habe ich in der Form noch nicht erlebt.

Wie lässt sich diese Analyse zusammenfassen?

Man kann es eigentlich in einem Satz zusammenfassen: Es wurde nicht die Ampel gewählt, sondern wir wurden abgewählt. Unsere Strategie des „Weiter so“ war komplett falsch. Man wird für die Zukunft gewählt und nicht für die Vergangenheit. Und diesen Zukunfts-Atem haben wir nicht gehabt.

Konnte Friedrich Merz als neuer CDU-Chef denn schon Impulse in die Partei hinein setzen?

Ja, denn er vermittelt einen klaren Kurs und steht auch persönlich dafür ein. Das hat man im Zusammenhang mit der Causa Max Otte erlebt. Ebenso im Umgang mit der Ampel. Und nicht zuletzt parteiintern. Das läuft alles sehr professionell und vorbereitet.

Mit Merz wurde faktisch der Anti-Merkel-Kandidat von der Basis gewählt, und zwar mit deutlicher Mehrheit. Was sagt das über den vormaligen Politikstil der CDU?

Ich würde beide Geschichten gern trennen. Die erwähnte Analyse bringt ja klar zum Ausdruck, dass wir uns jahrelang zu stark auf ein Argument konzentriert haben, und das hieß Angela Merkel. Damit waren wir auch über weite Strecken sehr erfolgreich. Aber die Fokussierung auf dieses eine Argument ist uns zum Schluss auf die Füße gefallen. Deswegen müssen wir jetzt den Hebel umstellen.

Inwiefern?

Wir müssen uns endlich wieder voll auf Inhalte konzentrieren. Die Pandemie etwa hat gezeigt, dass Deutschland doch nicht so gut organisiert ist. Dass wir immer noch Faxgeräte in Gesundheitsämtern stehen haben. Dass wir als Industrieland nicht in der Lage waren, Luftreinigungsfilter zu organisieren. Allein diese beiden Beispiele zeigen, dass wir in den vergangenen Jahren die verkrusteten Strukturen in diesem Land zu wenig angegangen sind.

Die Ampelkoalition hat sich genau das vorgenommen.

Sie wird es aber nicht schaffen. Und in einer Jamaikakoalition hätten wir als Union das auch nicht geschafft, weil wir konzeptionell nicht darauf vorbereitet waren. Daher müssen wir als Union jetzt an einer großen Staatsreform arbeiten. Das wird sicherlich zwei Jahre in Anspruch nehmen, denn da sind dicke Bretter zu bohren.

In welchen Bereich sehen Sie denn die größten Verkrustungen? Ist das die Bürokratie? Der Föderalismus?

Ludwig Erhard, der übrigens in diesen Tagen 125 Jahre alt geworden wäre, hat die Soziale Marktwirtschaft mit der Christlichen Soziallehre versöhnt. In dieser Christlichen Soziallehre gibt es eine wichtige Säule, nämlich die Subsidiarität. Was beinhaltet, dass Probleme dort gelöst werden, wo sie auftreten – also möglichst auf der untersten Ebene. Genau das ist in Deutschland aber nicht mehr der Fall. Aus meiner Sicht ist es aber ganz wichtig, dass Gemeinderäte, Stadträte oder auch der Bürgermeister so viel wie möglich vor Ort entscheiden können.

Die Bundesländer haben viele ihrer Kompetenzen sehr gern und freiwillig an den Bund abgegeben.

Da ging es in der Regel ja auch um sehr viel Geld. Aber davon abgesehen ist ein Phänomen, das ich in Deutschland generell beobachte: dass man sehr gern Verantwortlichkeiten abgibt. Das ist eine deutsche Mentalität geworden, von der wir uns dringend lösen müssen. Verantwortlichkeiten müssen wieder klar definiert werden. Wir müssen wieder zu einem Land werden, in dem man etwas wagt und ausprobiert, anstatt sich hinter Paragraphen zu verstecken. 

Ihre Aufgabe ist es, bis übernächstes Jahr ein neues Grundsatzprogramm der CDU auszuarbeiten. Welche Leitlinien gelten in dem Zusammenhang?

Die Soziale Marktwirtschaft und die Christliche Soziallehre sind unser Fundament. Und in den nächsten Monaten werden wir dieses Fundament noch einmal ausformulieren und auf die heutige Zeit übertragen. Damit alles weitere darauf aufgebaut werden kann.

Sie haben jetzt gleich zweimal die Christliche Soziallehre erwähnt. Dabei gibt es aktuell Stimmen aus Ihrer eigenen Partei heraus, die das „C“ bei der CDU in Frage stellen und überlegen, ob die Berufung auf das Christentum für eine weltoffene Partei überhaupt sinnvoll ist.

Solche Stimmen haben eine Debatte losgetreten, die nur zu begrüßen ist. Sie hilft uns, uns wieder auf uns selbst und auf das, was uns ausmacht, zu besinnen. Und meine Meinung ist, dass christliche Werte zeitlos sind und dass es dringend eine Renaissance dieser Werte braucht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang etwa an die Verrohung der Sprache, an den fehlenden Respekt vor anderen Meinungen – oder überhaupt an die mangelnde Bereitschaft, andere Meinungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

„Wenn die Mitglieder nachts wach werden, müssen sie sagen können, was die Unterschiede sind“, haben Sie unlängst über die CDU-Positionen gesagt. Welche Unterschiede werden das sein?

Diese Unterschiede gilt es in den nächsten zweieinhalb Jahren herauszuarbeiten. Wir brauchen zwischen fünf und zehn unverwechselbare Positionen. Daran muss sich die CDU messen lassen. Olaf Scholz hatte in seinem Wahlkampf ja eine Erkennungsmelodie mit Themen wie zwölf Euro Mindestlohn, 400.000 neue Wohneinheiten oder stabile Renten. Solch eine Melodie fehlte uns. Und die brauchen wir wieder. Wenn es nach mir geht, dann sind Punkte wie die große Staatsreform und ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr Bestandteile dieser Melodie. 

Warum wählt die Union eigentlich Frank-Walter Steinmeier als Präsidentschaftskandidaten der Ampelparteien mit, wenn sie sich doch unterscheiden will?

Es gab in der Union Überlegungen, eine eigene Kandidatin ins Rennen zu schicken. Aber nach Gesprächen mit Politikern anderer Parteien wurde schnell klar, dass diese keine Chance gehabt hätte. 

Geht es nicht vielmehr darum, mit einem eigenen Kandidaten ein Symbol für die Eigenständigkeit der CDU zu setzen?

Es geht schon auch darum, jemanden zu finden, der eine realistische Chance hat und nicht nur Zählkandidat ist.

So bleibt aber hängen, dass die Union den Kandidaten der Ampel mitträgt. Die SPD hat auch zweimal Gesine Schwan nominiert, obwohl sie damals chancenlos war.

Stimmt. Aber man geht halt gleichzeitig das Risiko ein, eine Kandidatin zu „verbrennen“. 

Der sozialpolitische Flügel der CDU beklagt schon länger seine eigene Marginalisierung innerhalb der CDU. Ausgerechnet mit einem Wirtschaftsliberalen wie Friedrich Merz soll das jetzt besser werden?

Ich verstehe bis heute die Debatte nicht. Wir haben nicht nur auf der sozialpolitischen Seite eine Handschrift nicht erkennen lassen, sondern in fast allen Themenbereichen. Deswegen müssen wir weder linker noch rechter werden – sondern einfach profilierter. Übrigens hätten wir sozialpolitisch in den vergangenen Jahren viel mehr bewerkstelligen können, wenn wir nicht alles nur mit dem Prinzip Gießkanne gelöst hätten. Etwa im Fall der Rente mit 63. Oder auch bei der Mütterrente, die bei den wirklich Bedürftigen auch nicht ankam. Das war alles keine zielorientierte Sozialpolitik. 

Gibt es inzwischen eigentlich eine Position der CDU zum Thema allgemeine Impfpflicht – abgesehen von der etwas theatralisch wirkenden Klage darüber, dass die Regierung keinen entsprechenden Gesetzesentwurf vorlegt?

Gespräche über eine Positionierung werden derzeit in der Unionsfraktion geführt. Ich persönlich habe jedoch noch nie einen Hehl aus meiner kritischen Haltung zur allgemeinen Impfpflicht gemacht.

Im Ausland werden die Corona-Restriktionen teilweise deutlich heruntergefahren, in Deutschland aber nicht. Wäre es nicht so langsam Zeit für eine Exit-Strategie?

Absolut. Das Problem ist doch wie in der Klimapolitik: Wenn Sie die Akzeptanz bestimmter Maßnahmen nicht haben, werden die Menschen auch nicht mitmachen. Es ist niemandem zu vermitteln, dass die 2G-Regel im Einzelhandel in einigen Bundesländern noch gilt, während sie ein paar Kilometer weiter in benachbarten Bundesländern schon abgeschafft ist.

Besonders der Einzelhandel leidet unter den 2G-Regeln. Sie selbst entstammen einer Paderborner Buchhändlerfamilie. Wie erleben Sie die Situation vor Ort?

Vor Ort ist es dramatisch, übrigens nicht nur in Paderborn. Da gibt es zwar auch einige, die sagen: „Was soll’s, dann wird eben der ohnehin unvermeidliche Digitalisierungsschub im Einzelhandel einfach um fünf Jahre vorgezogen.“ Aber so einfach kann und darf man es sich nicht machen. Wenn der Einzelhandel stirbt, sterben auch die Innenstädte. Übrigens kenne ich Einzelhändler, die auf die Straße gehen, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Und das, obwohl sie doppelt oder sogar dreifach geimpft sind.

Der Bundespräsident selbst hat gesagt, der „Spaziergang“ habe „seine Unschuld verloren“.

Eine solche Formulierung halte ich für höchst unglücklich. Denn sie stellt alle, die mit der Corona-Politik hadern und auf die Straße gehen, unter Generalverdacht. Meine Sorge ist, dass wir am Ende auch Menschen in der Mitte verprellen. Also Menschen, die keine Corona-Leugner sind, aber auch nicht ständig nach noch härteren Corona-Maßnahmen rufen. Das kann auch der Bundespräsident nicht wollen.

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

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