Pistorius stellt Bundeswehr-Reform vor - „Der Minister hat offenbar den Besitzstandswahrern nachgegeben“

Verteidigungsminister Boris Pistorius hat am Donnerstag eine neue Kommandostruktur vorgestellt. Der Sicherheitsexperte Hans-Peter Bartels ordnet die Bundeswehr-Reform im Interview ein.

Verteidigungsminister Boris Pistorius / picture alliance
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Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Hans-Peter Bartels ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war seit 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags von 2015 bis 2020. Er ist Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Herr Bartels, Verteidigungsminister Boris Pistorius hat am Donnerstag eine Bundeswehr-Reform vorgestellt. Er gab das Ziel aus, dass Deutschland wieder „kriegstüchtig“ werden müsse. Was bedeutet das konkret?

Seit dem ersten Ukrainekrieg von 2014 wissen wir, dass die Bundeswehr wieder zur Bündnisverteidigung in Europa fähig sein müsste. Aber bis jetzt ist sie organisiert als Kontingentarmee für Auslandseinsätze mit einer überschaubar großen Truppenstärke, sei es für Afghanistan oder für Afrika. Eine Reform, die diese entscheidende Fähigkeit zur Teilnahme an der kollektiven Verteidigung im Bündnis wieder herstellt, ist also seit vielen Jahren überfällig. Das heißt zum Beispiel, dass endlich alle Teile der Bundeswehr einsatzfähig werden müssen. 

In den Jahrzehnten der Spar-Reformen ging es ums Schrumpfen, koste es, was es wolle. Weg mit Material und Personal, Verbänden und Standorten, war die Devise. Diese Zeiten sind spätestens mit Putins zweitem Ukrainekrieg nun wirklich vorbei. Der Schuss, den wir jeden Tag hören, sollte laut genug sein.

Hans-Peter Bartels / dpa

Mit einer neuen Kommandostruktur möchte er die Bundeswehr auf die neue Bedrohungslage in Europa durch Putins imperiale Ambitionen ausrichten. Wie wird sich die Kommandostruktur verändern?

So ganz viel ändert sich tatsächlich nicht. Die klassischen Teilstreitkräfte scheinen im Wesentlichen zu bleiben, wie sie sind, mit allen Mängeln. Das Heer wächst kaum auf. Nur der bisherige „Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum“ wird geadelt und zur vierten regulären Teilstreitkraft umetikettiert. Der Unterstützungsbereich, der bisher „Streitkräftebasis (SKB)“ hieß, heißt in Zukunft „Unterstützungsbereich“ und wird mit dem Sanitätsdienst verheiratet. Aus dem bisherigen SKB-Kommando wird nun wohl das Kommando dieses neuen, jetzt noch größeren zentralen „Unterstützungsbereichs“. Er ist so groß wie Luftwaffe und Marine zusammen. 

Frühere Vorschläge sahen vor, ihm ganz aufzulösen und seine Truppenteile in die Teilstreitkräfte, insbesondere ins Heer, einzugliedern, damit dort sogenannte „organische“ Verbände entstehen, die nahezu autark operieren können. Zentralisierung dagegen bedeutet, dass ABC-Abwehr, Feldjäger und Logistik, Sanität und Fernmelder von den schnell nach vorne zu verlegenden Heeresverbänden erst beantragt und zugewiesen werden müssen. Keine Spur von „train as you fight“ und „organize as you fight“.  

Wie bewerten Sie diesen Schritt? Gehen die Reformen weit genug?

Es bleibt bei der Mangelverwaltung und dem leidigen „dynamischen Verfügbarkeitsmanagement“, nur auf einer höheren Ebene. Die Kopflastigkeit bleibt auch. Dabei war ursprünglich das Reform-Motto: mehr Truppe, weniger Stäbe. Ausnahme: die Zusammenlegung des Einsatzführungskommandos mit dem Territorialen Führungskommando zum neuen Operativen Führungskommando, was sinnvoll sein kann – wenn man da nun nicht die Gründung eines „Großen Generalstabs“ hineingeheimnist. Deutsche Truppen werden operativ im Ernstfall von Nato-Kommandeuren geführt. Das können durchaus deutsche Generale sein, aber ganz bestimmt kein nationales Oberkommando.

Sie sind als ehemaliger Wehrbeauftragter des Bundestages in militärischen Kreisen sehr gut vernetzt. Wie kamen dort die Reformpläne an?

Es wird nicht wenige geben, die etwas enttäuscht sind. Der Minister hat offenbar den Besitzstandswahrern nachgegeben und viele Kompromisse gemacht. Mit dieser Reform ist Pistorius zwar einen ersten Schritt in die richtige Richtung gegangen, aber einen recht kleinen Schritt. Ihm wird klar sein, dass zügig noch weitere Schritte folgen müssen, wenn das Ziel wirklich „Kriegstüchtigkeit“ ist.

Welcher konkreten Schritte bedarf es über die Ankündigungen des Verteidigungsministers hinaus?

Jedenfalls innerhalb der Teilstreitkräfte sollte man ernsthaft den Versuch machen, Doppelstrukturen und bürokratische Arabesken drastisch zu reduzieren. Der riesige Unterstützungsbereich sollte nach und nach in Richtung der Teilstreitkräfte geleert werden. Denn es sind die Inspekteure und Truppenkommandeure, die selbst am meisten daran interessiert sind, dass ein funktionsfähiges Ganzes entsteht, auch durch personelle und materielle Umgliederungen. Auftrag und Ressourcen gehören in eine Hand.

 

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Die aktuelle Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, beklagte in ihrem Jahresbericht im März, dass es noch immer einen erheblichen Personalmangel in der Bundeswehr gibt. Ist Pistorius in der Vorstellung seiner Reformpläne darauf eingegangen?

Pistorius hat erkennen lassen, dass er eine Initiative zur Wiedereinführung der Wehrpflicht vorbereitet. Ich begrüße das sehr. Diesbezüglich werden im Verteidigungsministerium momentan unterschiedliche Modelle geprüft. Das Ziel ist klar: Die Bundeswehr muss wieder eine breitere Rekrutierungsbasis bekommen. Die reine Freiwilligenarmee, die ihre Soldaten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gewinnen muss, funktioniert seit Jahren offenbar nicht gut genug, um die Bundeswehr voll aufzustellen. Und das ist heute eben nicht mehr egal. 

Kontinuierlich sind 20.000 Dienstposten oberhalb der Mannschaftsebene vakant. An solche hohlen Strukturen darf man sich nicht gewöhnen. Das schreckt keinen Gegner ab. Darüber hinaus muss die Bundeswehr eine nennenswerte Reserve haben. Mobil gemacht sollte die Truppe von 180.000 aktiven Soldatinnen und Soldaten auf einen Umfang von vielleicht 300.000 Soldaten aufwachsen können.

Was sind das für Modelle, die derzeit im Verteidigungsministerium geprüft werden?

Der Minister und seine Leute haben sich in Schweden und Finnland umgesehen, da gibt es unterschiedliche Ausprägungen der Wehrpflicht. Ich wäre für ein Modell, das die SPD 2011 einmal vorgeschlagen hat. Dabei würden alle erfasst und gemustert, und die tauglich Gemusterten würden gefragt, ob sie auch kommen wollten. Von den Tauglichen und Willigen zieht man dann nach Eignung und Bedarf so viele ein, wie die Bundeswehr braucht. Wenn es aufgeht, kommt also niemand gegen seinen Willen. Geht es nicht auf, gilt die alte Pflicht. Dabei geht es nicht mehr um ganze Jahrgänge, nicht um Hunderttausende, sondern um vielleicht doppelt so viele Rekruten, wie die Bundeswehr im Moment jährlich auf dem freien Arbeitsmarkt gewinnt: 40.000 statt 20.000.

Ist die Wiedereinführung der Wehrpflicht gesellschaftlich und vor allem politisch überhaupt vermittelbar?

Was die Ampel-Koalition angeht, ist hier wohl vor allem die FDP besonders skeptisch. Sie hatte sich zu Zeiten des CSU-Verteidigungsministers Guttenberg sehr dafür eingesetzt, den Pflichtdienst aufzugeben. Ich würde empfehlen, bereits in dieser Legislaturperiode gesetzliche Grundlagen für ein Wiederaufleben der Wehrpflicht zu schaffen. Das geht nicht allein durch Erklärungen des Verteidigungsministers, sondern dem muss eine gesellschaftliche und politische Debatte vorgeschaltet sein. Und dann braucht es parlamentarische Entscheidungen. Ich glaube im Übrigen, dass eine deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Wiedereinführung der Wehrpflicht begrüßen würde.

Inzwischen liegt die damals vielgelobte Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz etwas mehr als zwei Jahre zurück. Wie steht es um die Zeitenwende?

Mittelgut. Mir wird die Zeitenwende bisher zu sehr als ein Spezialproblem der Bundeswehr behandelt. Es muss sich in der gesamten Gesellschaft etwas verändern, wenn wir unsere Wehrhaftigkeit nach innen und nach außen stärken möchten. Das bedeutet vor allem, politische Prioritäten anders zu setzen. Die sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt haben damals 3,5 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgegeben. Und dabei hatte niemand das Gefühl, dass der Sozialstaat am Ende sei, sondern man hat in Wahlkämpfen das „Modell Deutschland“ gefeiert. Die heutige Koalition sollte also umpriorisieren. Der Koalitionsvertrag von vor dem Krieg ist alte Welt, vor der Zeitenwende. SPD, Grüne und FDP hätten jetzt eigentlich noch einmal eine große Chance für einen Aufbruch nach vorne.

Und mit Blick auf die Verbesserungen in der Bundeswehr?

Das Beschaffungswesen ist ordentlich auf Touren gekommen, es wird deutlich mehr bestellt, aber das meiste Material ist natürlich noch nicht da. Besser wäre es gewesen, man hätte schon vor Jahren mit dem Bestellen angefangen, zum Beispiel bei der Munition, die jetzt so schnell knapp geworden ist. Der Bedarf war spätestens 2018 im „Fähigkeitsprofil“ der Bundeswehr definiert. Zurzeit leidet die Einsatzbereitschaft zusätzlich unter den Materialabgaben an die Ukraine. Aber die sind absolut notwendig, first things first! Auch da wäre es richtig gewesen, alles Abgegebene schnell nachzubestellen, schon im ersten Jahr nach der Zeitenwende. Das hat die damalige Verteidigungsministerin versäumt. 2022 war so für die Bundeswehr ein verlorenes Jahr.

Pistorius muss jetzt mindestens doppelte Geschwindigkeit fahren, um aufzuholen, was alles liegengeblieben ist. Vor allzu vielen Kompromissen dabei rate ich ab. Ein klarer Kurs für eine starke deutsche Armee ist in der Gesellschaft absolut populär. Da sollte man innere Widerstände auch überwinden können.

Das Gespräch führte Clemens Traub.

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