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Boris Palmer, der Grüne Oberbürgermeister von Tübingen, hat mit einer Äußerung in den Sozialen Medien wieder einmal für helle Aufregung gesorgt. Jetzt will seine Partei ihn endgültig loswerden. Ein neuer Fall von „Cancel Culture“? Diesmal eher nicht.

Süchtig nach Öffentlichkeit: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Es war einmal eine grüne Hoffnungsfigur. Bereits im Jahre 2004 kandidierte Boris Palmer, kaum älter als 30 Jahre, für den Posten des Oberbürgermeisters in Stuttgart und holte im damals noch tiefschwarzen Baden-Württemberg auf Anhieb über 20 Prozent der Stimmen. Nur zwei Jahre später eroberte er das Rathaus von Tübingen gleich im ersten Wahlgang und schlug damit die erste grüne Schneise in den ehemaligen Schwarzwaldkreis.

An ihm konnte abgelesen werden, was in Baden-Württemberg einst möglich sein würde: Im Jahre 2011 zog Winfried Kretschmann in die Staatskanzlei ein, nur ein Jahr später folgte Fritz Kuhn in das Rathaus der Landeshauptstadt. Palmer erwies sich als so etwas wie eine politische Zeigerpflanze.

Listen über „auffällige“Asylbewerber

Seitdem hat er sich nicht nur vor Ort als anpackender Oberbürgermeister einen Namen gemacht, sondern auch bundesweit als streitbarer Geist. Im Ernstfall interessiert ihn seine eigene Meinung und die seiner Wähler stets mehr als jedes geduldige Parteiprogramm. Insbesondere seit der Flüchtlingskrise provozierte er seine Partei ein ums andere Mal. So veröffentlichte er 2017 mit „Wir können nicht allen helfen“ ein Buch, das quer zur „refugees welcome“-Linie der Grünen stand. Die grüne Partei allerdings kannte Palmer und ließ ihn – zunächst – genervt weiter gewähren.

Im Januar 2019 kündigte Palmer an, künftig Listen über „auffällige Asylbewerber“ führen zu wollen. In diesen sollten verurteilte und gewaltbereite Asylbewerber verzeichnet werden, um Mitarbeitern der Stadtverwaltung das Einleiten von Vorsichtsmaßnahmen zu erleichtern. Den Landesdatenschutzbeauftragten Stefan Brink brachte das auf die Palme. Eine Rechtsgrundlage für diese Maßnahme hält er für nicht gegeben.

Seitdem streitet sich Palmer öffentlich mit Brink über die Angelegenheit und hat bisher nicht vor nachzugeben: „Zu verlangen, dass ein Sozialarbeiter ahnungslos einem Mann gegenüber sitzen solle, der eine Woche zuvor mit dem Messer auf einen anderen losgegangen ist, ist nicht der Datenschutz, den die Bevölkerung sich wünscht.“

Selbstveropferung mit Ansage

Als die Bahn im April 2019 in einer Werbekampagne überwiegend Dunkelhäutige auswählte, um für den Konzern zu werben, konnte es Boris Palmer wieder einmal nicht lassen. Auf Facebook stellte er die Frage: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“ Die Auswahl der Models sei „nicht nachvollziehbar“. Entscheidend war allerdings der erste Satz des Posts: „Der shitstorm wird nicht vermeidbar sein.“ Und da war er wieder einmal, der Morbus Palmer: Selbstveropferung mit Ansage.

Den neuen Vorsitzenden der Grünen, Annalena Baerbock und Robert Habeck, riss unterdessen langsam der Geduldsfaden. In der Partei wurden immer mehr Ausschlussforderungen laut. Sie reagierten daher ungewöhnlich scharf auf den Bahnvorfall: „Boris Palmer hat eine Tür zu einem rassistischen Weltbild aufgestoßen – er sollte sie schnell wieder schließen.“ Für Palmer waren die Ausschlussforderungen nichts anderes als „Ausdruck einer antidemokratischen Debattenverweigerung“. Er werde sich von solchen „Meinungstyrannen“ in keiner Weise beeindrucken lassen. 

Und Palmer hielt Wort. Im April 2020 begründete er seine Forderung nach Lockerung der Corona-Maßnahmen im Sat.1-Frühstücksfernsehen auf die denkbar drastischste Weise: „Ich sag's Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ 

Während sich der Tübinger Kreisverband der Grünen noch ein Jahr zuvor den Ausschlussforderungen nicht anschließen wollte, wendete sich nun das Blatt. Alle Ebenen der Partei, vom Bund bis zum Kreis, entzogen ihm nicht nur die politische Unterstützung für eine weitere Kandidatur als OB von Tübingen. Der Landesverband forderte Palmer in Abstimmung mit seinem Heimat-Kreisverband auch dazu auf, die Partei zu verlassen.

Mut zum politischen Risiko

Die politische Zukunft des Boris Palmer schien damit besiegelt. Aber in den vergangenen zwölf Monaten entdeckte er in sich selbst wieder jene Qualitäten, die ihn bereits zweimal zum Oberbürgermeister Tübingens werden ließen. Mit Entschlusskraft, unkonventionellen Ideen und dem Mut zum politischen Risiko stampfte er das „Tübinger Modell“ aus dem Boden. Palmer brachte das den Status eines Wanderpokals in den überregionalen Medien ein. Kein anderer Kommunalpolitiker Deutschlands konnte über Monate eine solche Reichweite und Anerkennung verbuchen wie der Tübinger OB. 

Angesichts dieser unbestreitbaren Leistungsbilanz hätten die Grünen Palmer im Jahre 2022 wieder als Kandidaten präsentieren müssen – oder das Tübinger Rathaus gegen ihn als Einzelbewerber verloren. Palmer hatte sich eigentlich, gegen alle politische Wahrscheinlichkeit, wie Baron Münchhausen am eigenen Schopfe aus dem grünen Sumpf gezogen. Aber nur eigentlich.

Der Virus des Morbus Palmer ist die Öffentlichkeit 

Die Übertragbarkeit des Corona-Virus wird entscheidend durch die Viruslast bestimmt. Die Viruslast des Morbus Palmer heißt: Öffentlichkeit. Fast scheint es, als wäre ihm seine Stadt Tübingen zu klein, zu beschaulich, zu beherrschbar – oder als wäre er zu groß und bedeutend für sie. Öffentliche Anerkennung löst in ihm offenbar einen Rausch aus, in dem er die Kontrolle über sich selbst verliert. 

So wieder einmal geschehen am 7. Mai 2021. Eigentlich hatte Palmer nur die besten Absichten. In einem Facebook-Post plädierte er dafür, die Fußballer Lehmann und Aogo nicht deshalb aus Funktionen zu entfernen, weil sie sich einmal im Ton vergriffen hatten. Palmer weiß schließlich selbst, wie schnell das geht.

Screenshot / Facebook 

Was auf diesen harmlosen Post folgte, ist mit rationalen Mitteln kaum noch zu verstehen. Ein Kommentator auf Palmers Facebook-Seite postete einen Kommentar von der Seite Aogos, in dem von einer jungen Frau behauptet wird, Aogo hätte ihrer Freundin am Strand von Mallorca einst seinen „dicken Negerschwanz“ angeboten. An Robin Danzl gerichtet, einen grünen Studenten, mit dem sich Palmer im Netz schon seit längerer Zeit zofft, schreibt Palmer daraufhin: „der aogo ist ein schlimmer Rassist. Hat Frauen seinen Negerschwanz angeboten.“

Hermeneutische Volte

Man kann das verständig gar nicht anders als so interpretieren, dass Palmer die angebliche Aussage Aogos ironisch gegen frühere Diskussionen mit Danzl zum Thema Antirassismus wendet. Offenkundig will er mit dieser Volte einen Widerspruch im Denken Danzls aufdecken. Worum es dabei genau geht, dürften nur die beiden selbst wissen.

Aber für derartige hermeneutische Kleinigkeiten bleibt in der Welt des Internets keine Zeit. Annalena Baerbock senkte, ebenfalls auf Facebook, endgültig den Daumen: „Boris Palmer hat unsere politische Unterstützung verloren.“ Während die Grünen bisher darauf verzichtet hatten, ein Parteiausschlussverfahren gegen Palmer auszulösen, weil sie eine never-ending-story wie im Falle Sarrazin fürchteten, hat sich das Blatt nun endgültig gewendet. Baerbock muss als Kanzlerkandidatin der Grünen Handlungsfähigkeit beweisen und kann sich im Wahlkampf nicht mit der Sprengkapsel Palmer belasten.

161:44 Stimmen für ein Ausschlussverfahren

Der Parteiführung kam dabei entgegen, dass ausgerechnet für den gestrigen Tag in Baden-Württemberg ein Landesparteitag der Grünen anberaumt war. Eigentlich sollte die Bestätigung des neuen Koalitionsvertrags mit der CDU im Vordergrund stehen, nun platzte Palmer wieder einmal dazwischen. Trotz der Möglichkeit, sich gegenüber den Delegierten zu verteidigen, votierten diese mit 161:44 Stimmen für ein Ausschlussverfahren.

Diejenigen, die ihn aus der Partei werfen wollen, möchten doch bloß eine „abweichende Meinung“ zum Verstummen bringen, so Palmer in einer öffentlichen Erklärung. „Abbitte und Unterwerfung“ seien von ihm jedoch nicht zu haben. Er unterstütze das Ausschlussverfahren ausdrücklich, damit er sich vor dem „Parteigericht rechtfertigen“ könne.

Für das Mitglied der „Nationalen Akademie der Wissenschaften“ Reinhard Merkel ist der Fall klar: „Wenn er sich wehrt, ist der Versuch, ihn rauszuschmeißen, ziemlich aussichtslos.“ Palmer hätte hierzu vorsätzlich gegen die Satzung der Partei verstoßen und ihr dadurch einen schweren Schaden zufügen müssen. Der Rechtswissenschaftler sieht dies allein schon deshalb nicht als gegeben an, weil Palmers Äußerung erkennbar ironisch gewesen sei. „Einen Schaden fügt sich die Partei mit ihrer absurden Reaktion im Moment selber zu. Dafür ist Palmers Äußerung zwar offensichtlich ursächlich; aber die Dummheitsreaktion darauf ist ihm normativ selbstverständlich nicht zuzurechnen“, so Merkel.

Welche Regeln gelten für Sprechen im öffentlichen Raum?

Dabei geht es in dieser konkreten Debatte in Wahrheit gar nicht um die Frage, ob Palmer wieder einmal – nach seiner Wahrnehmung – Opfer der „Cancel Culture“ geworden ist oder nicht. Es geht um die Frage, ob für das Sprechen im öffentlichen Raum andere Regeln gelten als am Stammtisch – und ob die Repräsentanten des Staates dessen Würde verkörpern müssen oder nicht. 

Das System der repräsentativen Demokratie beruht auf zwei wesentlichen elektoralen Akzeptanzbedingungen: Damit Wähler bestimmten Bürgern ihre Stimme schenken können, müssen sie ihnen vertrauen. Und dieses Vertrauen beruht auf einem hinreichenden Maß an Ähnlichkeit zwischen Repräsentant und Repräsentierten. Ohne dieses hinreichende Maß an Ähnlichkeit kann repräsentative Demokratie nicht funktionieren. Und hierin wurzelt zugleich der strukturelle Grund, warum sich Politiker häufig bewusst volksnah geben (müssen).

Die zweite Akzeptanzbedingung ist allerdings die Fähigkeit der Repräsentanten, das Ganze zu verkörpern. Zwar haben sie ihr Mandat nur von einem Teil der Wählerschaft erhalten, aber sobald sie ins Amt kommen, sind sie nicht nur ihren Wählern, sondern dem Ganzen verpflichtet. Auch das Grundgesetz stellt klar, dass die Bundestagsabgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes“ sind und nicht nur der Wähler ihres Wahlkreises.

Die Würde des Politischen

Die Bereitschaft und die Fähigkeit, die eigenen Interessen und die der eigenen Wähler zugunsten des Wohls des Ganzen zurückzustellen, macht im Kern die Würde des Politischen aus. Sie setzt allerdings Vertreter des Staates voraus, die sich selbst als Sprachrohr des Gemeinwohls verstehen und die Gesellschaft zusammenführen und nicht spalten wollen. 

Jede gemeinwohlorientierte, würdevolle Politik muss sich einer Ethik des Sprechens im öffentlichen Raum beugen. Das hat mit „Cancel Culture“ herzlich wenig zu tun, sondern mit Respekt vor dem eigentlichen Souverän und dem Staat als gemeinwohlsichernder Instanz. Kein Vertreter des Staates kann in öffentlichen politischen Diskursen Worte wie „Negerschwanz“ in den Mund nehmen, ohne sich selbst als Amtsträger und die Würde des Politischen zu besudeln.

Boris Palmer wurde nicht von den Akteuren einer „Cancel Culture“ in den Sumpf geschmissen. Er ist selbst wieder in ihn hineingesprungen.

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