Berliner Wahlchaos - Neuwahlen – aber bitte nur unter Aufsicht

Kein Mensch verlangt vom Staat Wunderdinge. Dass aber Wahlen ordnungsgemäß ablaufen, erwartet jeder Bürger – und das zu Recht. Berlin kann das Selbstverständliche jedoch nicht liefern. Deshalb steht in diesem „failed state“ die Wiederholung der Landtags- und Bundestagswahl an. Dabei könnten neutrale Wahlbeobachter helfen, das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Hauptstadt wiederherzustellen.

Wahlchaos und Chaos-Wahl im September 2021 in Berlin / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Es gehört zu den Mythen, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) schicke nur in solche Länder Wahlbeobachter, denen man von vornherein Manipulationen unterstellt. Im Gegenteil. Die OSZE lässt die Wahlen in allen ihren 57 Mitgliedsstaaten beobachten, schon um ihren Ruf der Neutralität zu wahren.

Auch bei der Bundestagswahl 2021 waren OSZE-Experten in Deutschland unterwegs. Sie fanden keine nennenswerten Verstöße gegen grundlegende Prinzipien freier und fairer Wahlen. Doch in Berlin, wo am 26. September 2021 die Bundestagsabgeordneten, die Mitglieder des Abgeordnetenhauses und die der Bezirksverordnetenversammlungen gewählt wurden und zugleich über die Verstaatlichung von Wohnungsbauunternehmen abgestimmt wurde, haben sie offenbar nicht allzu genau hingeschaut.

Was sich in Berlin abspielte, war ein Desaster. Es fehlten Stimmzettel, in manchen Wahllokalen wurden die falschen Wahlunterlagen ausgehändigt, zwischendurch wurden Wahllokale wegen zu großen Andrangs oder fehlender Stimmzettel geschlossen, abgestimmt wurde noch lange nach 18 Uhr. Da kannten die Bürger in den Warteschlangen längst die Hochrechnungen und konnten folglich ihre Stimme unter koalitionspolitischen Aspekten abgeben.

Peter Müller, im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts für das Wahlrecht zuständig, kritisierte jetzt diese Verhältnisse, wie man sie sich „in irgendeinem diktatorischen sogenannten Entwicklungsland, aber doch nicht mitten in Europa, mitten in Deutschland“ hätte vorstellen können. Sicher war es nicht klug, dass der ehemalige saarländische Ministerpräsident von der CDU sich so dezidiert geäußert hat. Denn das Berliner Wahlchaos dürfte wohl in Karlsruhe landen. Aber seine Einschätzung ist richtig.

Noch nie musste eine Wahl wiederholt werden, weil eine Verwaltung so versagt hatte

Nun hat es in Deutschland schon öfter Wahlwiederholungen in einzelnen Stimmbezirken gegeben. Das betraf vor allem Kommunalwahlen, bei denen Parteiaktivisten versucht hatten, zu betrügen. Auf Landesebene wurde bisher erst einmal eine Wahl wiederholt, nämlich 1993 in Hamburg. Dort hatte die CDU vor der regulären Wahl 1991 ihre Kandidaten in Hinterzimmern ausgekungelt, statt sie in einem transparenten Verfahren auf demokratische Weise zu nominieren.

Doch noch nie musste eine Wahl wiederholt werden, weil eine Verwaltung so versagt hatte wie die im rot-grün-rot regierten Berlin. Es ist dieselbe Verwaltung, die Bürger monatelang warten lässt, ehe sie ihnen den Zuzug oder die Geburt eines Kindes bestätigt. Dass dieselben Beamten zudem überfordert waren, auch an die Verkehrsbeschränkungen wegen des am Wahltag stattfindenden Marathonlaufs zu denken, verwundert da eigentlich nicht.

Eines muss man freilich auch festhalten: Anders als in den vom Verfassungsrichter Müller erwähnten „diktatorischen Entwicklungsändern“ hat in Berlin niemand versucht, die Wahlen im parteipolitischen Sinn zu manipulieren. Es war schlichtweg Unfähigkeit, die den bräsigen Apparat davon abhielt, was der Steuerzahler zu Recht von ihm erwartet: solides Verwaltungshandeln. Da fragt man sich schon, was eigentlich schlimmer ist: Raffinesse oder Unvermögen?

 

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Das Berliner Verfassungsgericht hat noch nicht endgültig entschieden, ob die Wahlen zum Abgeordnetenhaus wiederholt werden müssen. Aber es hat sich bereits festgelegt, dass nur „eine vollständige Wiederholung“ dieser Wahl einen verfassungskonformen Zustand wiederherstellen könne. Vernichtender kann eine Einschätzung nicht ausfallen.

Die Ampel-Parteien tun so, als hätte die Bundestagswahl ordnungsgemäß stattgefunden

Umso verwunderlicher ist, dass die Ampel-Parteien im Bundestag so tun, als hätte die Wahl zum Bundestag mehr oder weniger ordnungsgemäß stattgefunden. Man muss schon sehr phantasiebegabt sein, um sich vorzustellen, dass im selben Wahllokal bei den lokalen Wahlen das reine Chaos herrschte, während die gleichzeitige Stimmabgabe für den Bundestag mehr oder weniger rechtmäßig ablief.

Der Bundeswahlleiter hält eine Wahlwiederholung der Bundestagswahl in der Hälfte der 2300 Wahllokale für notwendig. Ausgerechnet die selbsternannten „Rechtsstaatsparteien“ Grüne und FDP wollen die Wiederholung jedoch auf lediglich 300 Stimmbezirke beschränken. Aus durchsichtigen Gründen: Sie befürchten anderenfalls Stimm- und Mandatsverluste.

Wie die Wahl in Berlin vor einem Jahr ablief, ist ein Skandal. Zum kollektiven rot-grün-roten Versagen passt, dass der für die Wahlen verantwortliche Innensenator Andreas Geisel (SPD) nicht etwa auf die Hinterbank verbannt, sondern zum Senator für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen bestellt wurde. Eklatantes Versagen ist bei Rot-Grün-Rot offenbar kein Hindernis für die Fortsetzung der politischen Karriere.

Die anderen Bundesländer sollten Wahlbeobachter schicken

Der Giffey-Senat wird nicht umhinkönnen, sich dem zu erwartenden Urteil des Landesverfassungsgerichts zu beugen und die Wahl zum Abgeordnetenhaus zu wiederholen. Die Ampel-Koalition im Bund scheint es dagegen darauf anzulegen, eine Wahlwiederholung zu verhindern und die Angelegenheit von Karlsruhe entscheiden zu lassen. Das wäre dann der Skandal im Skandal.

Jedenfalls ist eine Wiederholungswahl in Berlin – zum Abgeordnetenhaus wie zum Bundestag – zu wichtig, um sie dem Berliner Pannen-Senat zu überlassen. Da müssen neutrale Wahlbeobachter her. Aber bitte nicht die von der OSZE, die schon am 26. September 2021 nichts bemerkt haben wollen.

Wie wär’s denn damit, aus den übrigen 15 Bundesländern jeweils zwei Wahlbeobachter in jedes der 2300 Wahllokale zu entsenden? Das müsste sogar im Interesse Berlins sein. Schließlich könnte die überforderte Berliner Verwaltung von Wahlexperten aus Hamburg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen etwas lernen. Und fürs Image wäre das auch gut. „B“ sollte nämlich für Berlin stehen, nicht für Bananenrepublik.

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