Berlin - Das Wahlchaos geht weiter

Die Chaos-Wahl in Berlin vom September 2021 schlägt weiter Wellen. Diese Woche beschäftigt sich der Bundestag mit der Frage, ob und wie weit in Berlin die Bundestagswahl wiederholt werden muss. Das ist problematischer, als es aussieht.

Der Bundestag soll selbst darüber entscheiden, ob seine Wahl gültig war / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Am Wahlsonntag im September 2021 hatte die Berliner Verwaltung zwei Wahlen durchgeführt, die mit unzähligen – und unglaublichen – Pannen verbunden waren. Die eine Wahl war die (Landtags-)Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Hier greift der für die Wahlprüfung zuständige Berliner Verfassungsgerichtshof gerade durch. Wenn nicht alles täuscht, wird er nächste Woche die gesamte Landtagswahl für ungültig erklären. Sie wird dann Anfang nächsten Jahres wiederholt.

In letzter Sekunde versucht der Berliner Senat, die voraussichtliche Entscheidung des Gerichts noch zu drehen. Die Innenverwaltung hat den Berliner Verfassungsgerichtshof in einem Schreiben aufgefordert, die Entscheidung an das Bundesverfassungsgericht abzugeben. Das ist wohl noch legitim. Immerhin ist die Regierung in das Verfahren einbezogen und kann sich dort äußern. Aber die Aktion ist grenzwertig, mindestens sehr ungeschickt. Sie wirkt wie der letzte und verzweifelte Versuch, das Gericht von außen unter Druck zu setzen. Und dass eine Staatsgewalt – hier die Berliner Landesregierung – ein unabhängiges Gericht unter Druck setzen will, zeigt mangelnden Respekt vor der Gewaltenteilung der Verfassung. Den Geist der Verfassung hat die Regierung in Berlin nicht verstanden.

Am selben Tag hatten die Wähler in Berlin auch ihre Abgeordneten für den Bundestag gewählt. Gewählt wurde in denselben Wahllokalen, das Wahlchaos war dasselbe. Hier ist das Wahlprüfungsverfahren aber ein anderes. Wie sich jetzt herausstellt, ist es hoch problematisch.

Bundestagswahl und Wahlprüfung

Das Grundgesetz verlangt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestags in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Das ist der demokratische Standard. Wenn diese verfassungsrechtlichen Basics nicht eingehalten werden, ist die Bundestagswahl rechtswidrig und ungültig.

Wer entscheidet darüber, welche Wahlfehler vorliegen und ob die Bundestagswahl wiederholt werden muss? Das ist eine verfassungsrechtliche, keine politische Frage. Insofern wäre zu erwarten, dass ein juristisches Gremium – im Zweifel das Bundesverfassungsgericht – die Wahlprüfung durchführt. Das Grundgesetz hat sich für eine andere Lösung entschieden. Es sieht ein zweistufiges Verfahren vor. Zunächst entscheidet der Bundestag selbst, ob seine Wahl rechtmäßig und gültig war. Wenn diese Entscheidung angefochten wird, urteilt in letzter Instanz das Bundesverfassungsgericht.

Bundestag entscheidet über sich selbst

Der Bundestag prüft selbst, ob seine Wahl rechtmäßig und gültig ist? Das ist seltsam. Das Parlament ist ein politisches Gremium, das nach politischen Kriterien arbeitet und entscheidet. Bei einer Wahlprüfung geht es aber gerade nicht um ein politisches, sondern um ein rechtliches Verfahren. Ganz klassisch juristisch wird hier untersucht, welche Rechtsfehler man feststellen kann und welche Folgen das juristisch haben muss. Das zweite Problem: Selbstkontrolle ist dem Recht zwar nicht völlig fremd. Ob sie wirksam ist, ist eine ganz andere Frage. Wirklich wirksam wird eine Prüfung erst dann, wenn sie von außen kommt. Vor diesem Hintergrund ist die Regelung zur Wahlprüfung, die das Grundgesetz vorsieht, sicher nicht gelungen. 

 

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In Diktaturen oder autoritären Staaten sind Wahlen nur Dekoration. In der Demokratie ist das völlig anders. Eine Wahl ist der wichtigste, der zentrale Akt im demokratischen Leben. Durch die Wahl verteilen die Bürger die politische Macht. Oder wie das Grundgesetz sagt: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Weil Wahlen von zentraler Bedeutung sind, dürfen hier keine Fehler passieren. Wenn trotzdem Wahlrechte verletzt wurden, muss das konsequent aufgeklärt und bereinigt werden. Auch schon der bloße Schein, es könnte etwas vertuscht werden, ist für die Demokratie fatal. Denn er erschüttert das Vertrauen der Wähler in das Funktionieren der Demokratie.

Wahlprüfung als Farce

Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags hat das nicht verstanden. Ob und welche Wahlfehler passiert sind, ist eine verfassungsrechtliche Frage von zentraler Bedeutung. Die Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses machen daraus ein eher unwichtiges Problem, das sie – wie in einem Parlament üblich – parteipolitisch bearbeiten. Regierungsparteien und Opposition streiten und verhandeln, in wie vielen Berliner Wahlbezirken die Wahl wiederholt werden muss. Unterschiedliche Vorschläge liegen auf dem Tisch. Natürlich wollen die Oppositionsparteien eine möglichst umfassende Wiederholung der Wahl. Sie haben ja etwas zu gewinnen. Und umgekehrt: Die Regierungsparteien könnten ja verlieren. Schon deshalb sind sie dafür, nur in wenigen Wahlbezirken noch einmal wählen zu lassen. Am Ende steht eine Abstimmung, die einen Kompromiss festschreibt. Eine Wahlprüfung durch ein politisches Gremium ist – das zeigen die aktuellen Vorgänge im Parlament – eine Farce. Immerhin: Die Entscheidung wird in der nächsten Instanz vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Dann wird es – voraussichtlich – um die rechtlichen Fragen gehen.

Wahlwiederholung und Gleichheit der Wahl

So notwendig eine Wahlwiederholung sein kann, so heikel ist sie auch. Denn sie widerspricht dem elementaren Grundsatz der Wahlgleichheit. Wahlgleichheit bedeutet, dass alle Wähler in möglichst gleicher Weise wählen können. Zur Wahlgleichheit gehört deshalb, dass alle tatsächlichen Rahmenbedingungen möglichst gleich sind. Deshalb sind etwa die Öffnungszeiten und die tatsächliche Erreichbarkeit von Wahllokalen nicht banal, sondern wichtig.

Wird ein Teil einer Wahl wiederholt, ist diese Wahlgleichheit streng genommen nicht mehr gegeben. Denn die Wiederholungswahl findet unter völlig anderen Bedingungen statt als die ursprüngliche Wahl. Wer in den nächsten Monaten im Rahmen einer Wahlwiederholung seine Stimme zur Bundestagswahl abgibt, hat ein Jahr Erfahrung mit der jetzigen Machtverteilung im Bundestag und der Ampelkoalition. Das ist eine völlig andere Informationslage als bei der ursprünglichen Wahl vor einem Jahr. Von gleichen Rahmenbedingungen kann keine Rede sein.

Das Wiederholungs-Dilemma

Der Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit verbietet eigentlich eine Wahlwiederholung. Gleichzeitig kann es aber sein, dass die ursprüngliche Wahl fehlerhaft war und deshalb – jedenfalls in Teilen – wiederholt werden müsste. Das ist ein klassisches Dilemma. Deshalb sieht das Bundesverfassungsgericht die Wiederholung einer Wahl nur im Ausnahmefall vor. Nämlich dann, wenn die Wahlfehler schwer sind und Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments haben können. Für die Berliner Wahl geht der Verfassungsgerichtshof davon aus, dass eine Wiederholung der gesamten Wahl notwendig ist. Das ist eine saubere Lösung, die das Vertrauen der Wähler stärken kann. Die vom Bundestag favorisierte Idee, nur in einem kleineren Teil der Wahllokale noch einmal wählen zu lassen, versteht niemand. Immerhin geht es um dieselben Wahllokale mit denselben Wahlpannen.

Vielleicht braucht es dafür tatsächlich eine klare Entscheidung aus Karlsruhe.

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