Berliner Verfassungsrichter wollen Wahlergebnis annulieren - Das große Versagen in der Bundeshauptstadt

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin strebt laut seiner vorläufigen rechtlichen Einschätzung an, die kompletten Wahlen zum Abgeordnetenhaus im September 2021 wegen der unfassbaren Häufung von schweren Organisationspannen wiederholen zu lassen. Die Tage von „rot-grün-rot“ in der Hauptstadt könnten damit gezählt sein.

Pannen ohne Ende bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021 / picture alliance
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Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Noch hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin (VerfGH) keine endgültige Entscheidung gefällt, ob und in welchem Umfang die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den 12 Bezirksverordnetenversammlungen am 26. September 2021 wiederholt werden. Doch bei der öffentlichen Anhörung zu den Einsprüchen gegen die Wahlen am Mittwoch wurde deutlich, dass das Gericht die zahlreichen Pannen und offensichtlichen Verstöße gegen die Landeswahlordnung als gravierend genug erachtet, um nicht nur eine teilweise Wiederholung der Wahlen zu verfügen, sondern die Wahlen insgesamt für ungültig zu erklären.

Genügt nicht den rechtlichen Anforderungen

In ihrer „vorläufigen rechtlichen Einschätzung“ erklärte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting vor der eigentlichen Anhörung der Prozessbeteiligten, dass bereits die Vorbereitung der Wahl „den rechtlichen Anforderungen nicht genügt“ habe. Zu den grundlegenden Anforderungen an eine demokratische Wahl gehöre zwingend, „dass jede wahlberechtigte Bürgerin und jeder wahlberechtigte Bürger am Wahltag die Möglichkeit hat, eine vollständige und gültige Stimme unter zumutbaren Bedingungen in Präsenz abzugeben“. Dies sei bei den Wahlen am 26. September nicht gegeben gewesen.

Aufgabe des VerfGH sei es daher, eine „Rechtsfolge“ zu beschließen, die zur „Herstellung eines verfassungskonformen Wahlergebnisses“ führe. Nach dem jetzigen Stand könne dies nur „durch eine vollständige Ungültigerklärung der Abgeordnetenhauswahl vom 26. September 2021 und der Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen erreicht werden“.  

Entscheidend ist die Mandatsrelevanz

Zwar handelt es sich bei diesen Aussagen nur um eine „vorläufige rechtliche Einschätzung“, doch diese lässt nach Ansicht von Prozessbeobachtern wenig Spielraum für eine Kehrtwende beim eigentlichen Urteil, das der VerfGH in spätestens drei Monaten fällen muss. Denn diese Einschätzung geht weit über den Tenor der meisten Einsprüche hinaus, die gegen das Ergebnis der Wahlen beim Gericht eingegangen sind. In denen wurden zumeist nur Wahlwiederholungen in einzelnen Wahlkreisen oder auch nur einzelnen Wahllokalen gefordert.
 

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Zumeist auf die Erststimmen bezogen, wenn der Abstand zwischen dem Erst- und dem Zweitplatzierten gering war und gravierende Fehler bei der Durchführung der Wahlen ausreichend dokumentiert sind. Denn dann wäre eines der entscheidenden Kriterien für eine Wiederholung von Wahlen erfüllt: Die Mandatsrelevanz der Pannen. Diese Position vertrat unter anderem die Senatsverwaltung für Inneres. Sie gehörte zu den vier Beschwerdeführern, die vom Gericht für diese Anhörung ausgewählt wurden. Auch die Einsprüche der Landeswahlleitung sowie der Parteien AfD und Die Partei wurden behandelt. Insgesamt gibt es 35 Einsprüche gegen das Wahlergebnis.

Wahlchaos mit Ansage

Doch mit kleineren Korrekturen, wie etwa Nachwahlen in drei Wahlkreisen, ist es nach Auffassung des Gerichts nicht getan. Dass diese Wahlen im Chaos enden könnten, sei bereits Wochen vor dem eigentlichen Wahltermin absehbar gewesen. So seien etwa der Bedarf an Wahlkabinen und Stimmzetteln und die Berechnung der jeweiligen Kapazitäten anhand der durchschnittlichen Dauer einer Stimmabgabe von vollkommen falschen Prämissen ausgegangen, ohne, dass die Landeswahlleitung interveniert habe, führte Richterin Sabrina Schönrock als Berichterstatterin des VerfGH aus.

Denn es handelte sich diesmal um einen komplexen Wahlvorgang mit Erst- und Zweitstimmen für den Bundestag und das Abgeordnetenhaus, Listenstimmen für die Bezirksverordnetenversammlungen und einem Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Insgesamt also sechs Wahlmöglichkeiten auf fünf unterschiedlichen Wahlzetteln.

Auch im Vorfeld wurden bereits einige gravierende Verstöße gegen die Landeswahlordnung begangen, etwa die rechtzeitige Anlieferung einer ausreichenden Menge von Stimmzetteln an die Wahllokale betreffend. Zumal absehbar war, dass Nachlieferungen am Wahltag besonders in der Innenstadt schwierig werden könnten, da zeitgleich mit den Wahlen der von umfangreichen Straßensperren begleitete „Berlin-Marathon“ stattfand.

Lange Liste schwerer Wahlfehler

Die Folgen dieses „komplett systematischen Versagens“, wie es der Bundeswahlleiter Georg Thiel nannte, fanden schnell den Weg  in die breite Öffentlichkeit. Und machte Berlin zum Gespött des ganzen Landes. Die Liste der dokumentierten schweren Wahlfehler ist lang. Dazu gehören fehlende oder teilweise händisch kopierte oder gar falsche Stimmzettel, zwischenzeitliche Schließungen von Wahllokalen, fehlende oder fehlerhafte Aufzeichnungen über den Wahlverlauf und die Stimmenauszählung sowie Stimmabgaben bis weit nach 20 Uhr, obwohl die Wahllokale laut Landeswahlordnung um 18 Uhr schließen müssen, um eine Beeinflussung durch erste Hochrechnungen auszuschließen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Schon kurz nach der Verkündung des amtlichen Wahlergebnisses am 14. Oktober gingen Einsprüche beim für die Berliner Wahlen zuständen Verfassungsgerichtshof des Landes ein. Dieses forderte daraufhin die Unterlagen aus allen 2256 Wahllokalen bzw. Stimmbezirken an und wertete sie aus. Doch das Gericht musste dabei laut Präsidentin Selting feststellen, dass es für viele Wahllokale überhaupt keine verwertbaren Dokumentationen des Ablaufs gibt. Inzwischen sei sicher, dass es in fast der Hälfte der Wahllokale zu zeitweiligen Schließungen und/oder längeren Öffnungen sowie Wartezeiten von mehr als einer Stunde gekommen sei.

Wie viele Wahlberechtigte dadurch von der Wahl abgehaltern wurden, lasse sich nicht beziffern, und auch bei der Ausgabe falscher Stimmzettel sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Dabei gebe es ein „nicht behebbares Ermittlungsdefizit“. Für die  „Mandatsrelevanz“ der Fehler müsse daher das Prinzip der „potenziellen Kausalität“ gelten, also der ausreichend hinreichenden Möglichkeit, dass die Wahlfehler in Gänze nicht unerheblichen Einfluss auf das Wahlergebnis und die Sitzverteilung des Parlamentes gehabt haben. Wenn man dies nicht durch Neuwahlen korrigiere werde, könne die „Demokratie dauerhaft beschädigt“ werden. Und die „fehlende Legitimation des Wahlergebnisses“ lasse sich durch Teilwahlen nicht wieder herstellen.

Auch die Bundestagswahl auf der Kippe

Mit einer derartig unzweideutigen Ansage des Gerichts hatte offenbar niemand gerechnet. Lange Gesichter sah man vor allem bei Vertretern der SPD und der Linken, die bei Neuwahlen voraussichtlich mit erheblichen Stimmenverlusten und dem Ende der „rot-grün-roten“ Koalition rechnen müssten. Das weitere Procedere bürgt noch einige Unwägbarkeiten. Das Urteil muss spätestens in drei Monaten veröffentlicht werden. 90 Tage später müsste die Neuwahl stattfinden, also Ende März. Allerdings besteht noch die Möglichkeit, dass der Berliner Senat das Urteil dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegt. Obgleich nicht klar ist, ob das zwingend aufschiebende Wirkung hätte.

Spannend wird außerdem, welche Strahlkraft die Rechtsauffassung der Berliner Verfassungsrichter auf die Bundesebene entfaltet. Denn dort soll in Kürze der Bundestag über die zumindest teilweise Wiederholung der Bundestagswahlen in Berlin entscheiden. Ein erster Entwurf für eine Beschlussvorlage des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages sieht berlinweit einen erneuten Urnengang in rund 440 Wahllokalen vor. Doch auch eine komplette Neuwahl dürfte nach dem Berliner Paukenschlag nicht auszuschließen sein.

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