Atom-Debatte bei Maischberger - Ohne Not auf den Sonderweg

Deutschland hat den Atomausstieg vollzogen, doch die Debatte über die Abschaltungen der letzten drei verbliebenen Kernkraftwerke reißt nicht ab. Am Dienstag diskutierten darüber SPD-Chef Lars Klingbeil und CDU-Chef Friedrich Merz bei Maischberger.

Lars Klingbeil und Friedrich Merz bei Maischberger / Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Gut möglich, dass der Begriff „Sonderweg“ eine ähnliche internationale Karriere hinlegen wird wie der „Kindergarten“, der im amerikanischen Sprachgebrauch Fuß fasste, oder das „Butterbrot“, das man auch in Russland kennt, obwohl – dies für Freunde des „unnützen Wissens“ – auf dem russischen Butterbrot keine Butter ist. Meist handelt es sich um Koppelwörter aus dem Deutschen, für die es in anderen Sprachen kein Pendant gibt. Das befördert den Export der Begriffe. 

Selbstredend kennt man Einrichtungen, in denen sich um Kinder gekümmert wird, auch in den USA schon länger. Und man darf wohl besten Gewissens davon ausgehen, dass in Russland auch Butterbrot gegessen wurde, bevor der Begriff in den dortigen Sprachgebrauch eingeflossen ist. Also mehr oder weniger. Und so ist der „Sonderweg“ auch nicht exklusiv deutsch, aber im Großen und Ganzen gesehen mittlerweile sehr wohl typisch deutsch – womit wir uns innerhalb der Europäischen Union nicht nur Freunde machen und was dazu führt, dass auch die USA immer wieder skeptisch gen „Good Old Germany“ blicken. Von der Migrationspolitik bis zur Ukraine-Politik. 

Ein grotesker Vorgang

Paradebeispiel für einen deutschen Sonderweg ist der jüngste Ausstieg aus der Kernkraft. Man könnte auch sagen, Deutschland entpuppt sich hier einmal mehr als „Geisterfahrer“ des Westens, was ebenfalls ein Wort mit viel Exportpotenzial ist. Denn unterm Strich setzt die Europäische Union auf Kernkraft, also die einzelnen Mitgliedsländer jedenfalls. Darunter Finnland, das einen Tag nach dem deutschen Atomausstieg am Samstag ein neues Kernkraftwerk ans Netz genommen hat. Etwa 400 Atomkraftwerke gibt es weltweit, und weitere werden derzeit gebaut. 

Wie ich an anderer Stelle bereits schrieb, lohnt es sich meist nicht, geschlagene Schlachten noch einmal schlagen zu wollen. Und doch reißt die Diskussion um Sinn und Unsinn des Atomausstiegs auch wenige Tage, nachdem die Das-war-es-Knöpfe in den letzten drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerken gedrückt wurden, nicht ab. Da bringt es auch nichts, wenn Lars Klingbeil von der SPD behauptet, die Zeit der Atomkraft sei vorbei. Ist sie nicht, jedenfalls nicht in anderen Ländern, während wir Kohlekraftwerke wieder hochfahren – was offenkundig unlogisch ist, wenn die Reduzierung des CO2-Ausstoßes oberste Priorität haben soll. 

Schwankungen im Stromnetz

SPD-Chef Klingbeil saß am Dienstagabend bei Maischberger und diskutierte dort mit CDU-Chef Friedrich Merz zum Thema. Merz, ganz Oppositioneller, stellte der Ampelkoalition erstmal ein schlechtes Zeugnis aus: „allenfalls 4-“, findet Merz, denn die Ampel befinde sich in „schwierigem Fahrwasser“. Er sagte: „Im Grunde genommen hätte man den Koalitionsvertrag nach diesem Krieg, der da letztes Jahr im Februar begonnen hat (Ukraine), auf die Seite legen müssen.“ Schließlich sei man „inmitten einer schweren Energiekrise“, was die Diskutanten dann nach etwas Hin-und-Her-Geplänkel vom Allgemeinen ins Konkrete kommen ließ. 

„Es geht um die Frage: Wie können wir den Energiestandort Deutschland stärken?“, sagte Klingbeil. Dass man kein Ingenieurstudium absolviert haben muss, um einen Widerspruch zwischen dem Anspruch, Energiestandort zu sein, und dem Ausstieg aus der Atomkraft zu erkennen, liegt allerdings auf der Hand. Und ja, man kann in der Debatte um die deutsche Atomkraft natürlich das Argument bringen, diese liefere im Durchschnitt nur sechs Prozent des Strombedarfs.

Denn das klingt erstmal wenig, ist aber mit Blick auf 84 Millionen Bürger und die deutsche Industrie eben gar nicht so wenig, weil eben auch durchschnittliche sechs Prozent sehr viel sein können, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Merz sagte bei Maischberger: „Wir haben ja schon starke Schwankungen im Stromnetz ohnehin in den letzten Monaten gesehen und nehmen jetzt ohne Not – man könnte auch sagen, aus ideologischen Gründen – drei sichere CO2-freie Kernkraftwerke vom Netz.“ Und Merz wies zu Recht darauf hin, dass tagsdrauf, also am Sonntag nach dem Ausstieg, der Import von Kohlestrom aus Polen stark gestiegen ist. 

Probleme haben wir in der Gegenwart

Mei, dann muss man die Erneuerbaren halt konsequenter ausbauen, tönt es derweil im öffentlichen Diskussionsraum, weil man sich davor fürchtet, dass Isar 2 ein ähnliches Schicksal erleiden könnte wie das Kernkraftwerk in Fukushima, das gleich zwei Probleme hatte, die wir nie gehabt hätten: massive Sicherheitsprobleme und einen Tsunami. Die Wahrheit ist derweil ohnehin, dass auch Windkraft nicht zum Nulltarif zu haben ist, auch wenn man in grünen Kreisen gerne so tut. Für Windkraft braucht man Fläche, Material und passende Wetterbedingungen, Handwerker obendrein: Stichwort Fachkräftemangel. Hinzu kommt, dass Windräder spätestens dann ein Akzeptanzproblem beim Bürger haben, wenn sie direkt vor seiner Haustür gespargelt werden sollen.
 

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Bei allen Ambitionen in Sachen Erneuerbare sollte man übrigens auch nicht vergessen, dass wir mit dem Ausstieg aus der Atomkraft erstmal künstlich verknappen. Plastisches Beispiel: Wer in einem Haus wohnt, das vor 1945 gebaut wurde – wovon es in Deutschland sehr viele gibt, was jede Menge Problemchen für Habecks Wärmepumpen-Utopie bedeutet –, und in ein möglichst klimafreundliches Haus umziehen will, der würde doch den Teufel tun, seine aktuellen vier Wände bereits abzureißen, wenn das neue Haus noch gar nicht gebaut ist.

Da nutzt es auch nichts, wenn Klingbeil, wovon er bei Maischberger erzählte, auf eine Technologiemesse geht und mit Experten und Unternehmern darüber philosophiert, dass den Erneuerbaren die Zukunft gehört. Probleme haben wir schließlich in der Gegenwart, nicht erst ab 2035. „Wir blenden die Risiken aus und tun so, als ob das (Atomkraft) eine saubere Energiequelle wäre“, kritisierte Klingbeil bei Maischberger dennoch die eine oder andere Lobeshymne auf die Kernkraft. Dabei ist die viel bessere CO2-Bilanz der Kernkraft verglichen mit der Kohlekraft ja unumstritten, weshalb übrigens auch die finnischen Grünen den Atomkurs des Landes unterstützen. Bloß die deutschen Grünen halt nicht, die in der Historie irgendwie hängengeblieben sind. 

Noch zwei Anmerkungen meinerseits: Erstens sind Elektrofahrräder mehr Hochrisikotechnologie als Atomstrom, wenn man sich ansieht, wie viele Menschen auf E-Bike-Touren zu Schaden kommen, und wie viele, weil in ihrer näheren Umgebung ein Atomkraftwerk steht. Da ist natürlich Polemik. Aber zweitens haben wir bereits Atommüll, der irgendwo wird eingelagert werden müssen. Das heißt: Mit dem Atomausstieg ist das Endlager-Problem nicht gelöst. Salopp formuliert: Wenn wir ohnehin ein Endlager für den bestehenden Atommüll suchen müssen, dann könnten wir auch eines suchen, das ein bisschen größer ist, und darin jenen Atommüll bunkern, der in den kommenden Jahren noch hätte entstehen können.  

Andere Wege zur Klimaneutralität

Merz kündigte bei Maischberger jedenfalls an, einen Antrag im Bundestag einbringen zu wollen, dass die abgeschalteten Atomkraftwerke „jetzt nicht mutwillig verschrottet werden“ und bei Bedarf auch wieder ans Netz kommen könnten. „Ich finde die Diskussion an dieser Stelle nicht produktiv“, sagte SPD-Politiker Klingbeil im Gegenzug. Man dürfe nicht nur immer darüber reden, was nicht gehe, sondern man müsse darüber reden, wie etwas geht. O-Ton Klingbeil unter anderem: „Bequem wird es das nicht geben, dass wir die Klimaneutralität erreichen.“

Immerhin ist Klingbeil hier ehrlich. Gleichwohl stellen sich Fragen: Warum eigentlich nicht? Warum soll es sich Deutschland zusätzlich und damit unnötig unbequem machen, wenn andere Länder andere Wege zur Klimaneutralität finden, die möglicherweise langsamer sind, aber nachhaltiger, ausgewogener und damit auch gesünder für ihre heimische Wirtschaft? Und wie geht das zusammen, dass man die Bundesrepublik in den kommenden Jahrzehnten hardcoremäßig elektrifizieren will, während man gleichzeitig Kraftwerke, die Strom liefern, abschaltet? Kernkraft hin oder her. 

Ein hoffnungsloser Optimist

Machen wir uns nichts vor: Der Atomausstieg ist nicht pragmatisch, nicht einmal ansatzweise, sondern rein ideologisch motiviert. Und der wurde und wird wohl auch weiterhin mit der Brechstange durchgedrückt, entgegen dem Mehrheitswillen der Bevölkerung übrigens. Ausgang des Ganzen: offen. Deindustrialisierung des Landes: läuft bereits. Nächster Kanzler: Wahrscheinlich von der Union, sagen aktuelle Umfragen.

Aber bis dahin sind es noch zweieinhalb Jahre, in denen viel Wasser an Isar 2 vorbeifließen wird. Und damit mehr als genug Zeit für die Ampel, noch mehr Entscheidungen zu treffen, die so offensichtlich ideologisch motiviert sind, dass es sogar Onkel Günther merkt, der sonst nichts mit Politik am Hut hat.

Noch kann sich der einfache Bürger nur schwer wehren gegen das ideologische große Ganze – aber gegen das einzelne Windrad freilich, das ihm bald vor die Nase gespargelt werden soll, weil die Bundesregierung unbedingt die Schritte drei und vier vor den Schritten eins und zwei machen muss. Und das wird er auch, der Bürger. Was das betrifft, bleibe ich hoffnungsloser Optimist. 


Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“

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