
- Angela Merkel – Eine Verneigung
Auch wenn Angela Merkels Macht wackelt. Seit zwölf Jahren ist sie nun schon als Bundeskanzlerin im Amt. Selbst beispiellose Fehlentscheidungen werden ihr verziehen. Wie macht sie das bloß?
Als Mädchen noch Poesiealben hatten und keine Facebook-Pinnwände, sah man sich gelegentlich vor die Aufgabe gestellt, sich empathische Sinnsprüche abzutrotzen. Gott sei Dank gab es Klassiker, auf die man zurückgreifen konnte. Einer ging so: „Wenn die Flüsse aufwärts fließen und die Hasen Jäger schießen und die Mäuse Katzen fressen, dann erst will ich dich vergessen.“
Der Spruch kommt mir in den Sinn, wenn ich dieser Tage an Angela Merkel denke. Denn die Zeit, die das ewige Gedenken sichern sollte, weil sie nie kommt – sie ist gekommen. Die Kanzlerin hat es geschafft, dass, politisch gesehen, die Flüsse aufwärts fließen. Ihr eigener vor allem. Wenn jemand als Regierungschef einen groben Schnitzer begeht, und knapp zwei Jahre später erneut der 40-Prozent-Marke in den Umfragen und einer dritten Wiederwahl im September zustrebt, dann ist das nichts weniger als eine tiefe Verneigung wert.
Deutschland hat sich verändert
Tun wir kurz das, was das vergessliche Wahlvolk in seiner Mehrheit nicht tut: Erinnern wir uns. Angela Merkel öffnete in einem historisch einmaligen Akt die Grenzen und ließ unkontrolliert Menschen im Millionenmaßstab ins Land. Dieser von ihr hergestellte Ausnahmezustand dauerte 180 Tage an und wurde von anderen beendet, allen voran von einem österreichischen Außenminister, der die Grenzen wieder schloss. Seither ist Deutschland ein anderes Land. Politisch und gesellschaftlich.
Das von manchen prognostizierte Wirtschaftswunder durch die Zuwanderung ist ausgeblieben, stattdessen haben sich Kriminalität und mörderische Gewalt in markant höherem Maße eingestellt. Die Angst vor Attentaten ist keine Phobie, sondern begründet. Köln, Berlin, Ansbach, Freiburg und Würzburg stehen als Chiffren dafür.
Anderswo fielen Konsequenzen härter aus
Die Versorgung und Unterbringung der Migranten kostet Bund, Länder und Kommunen jedes Jahr im Schnitt der Berechnungen und nach Auswertung der Kosten von 2016 etwa 50 Milliarden Euro. Finanzminister Wolfgang Schäuble hortet jeden Euro an Überschuss, um ihn für die notwendige und gebotene Hilfe der zumeist jungen Männer bereitzuhalten. Langfristig werden 400 Milliarden Euro an Qualifizierungskosten veranschlagt, wie die Heinrich-Böll-Stiftung erheben ließ. Den etwa 50 Milliarden jedes Jahr (das sind nur die ganz direkten Kosten für Verpflegung, Unterbringung und Beschulung) stehen unverändert 100 bis 140 Milliarden Euro an Investitionsstau bei der öffentlichen Infrastruktur gegenüber, der sich nicht zuletzt in den bald zwölf Regierungsjahren Merkels eingestellt hat. Mit anderen Worten: Hätte man das Geld für die Sanierung von Schulen, Straßen und öffentlichen Einrichtungen ausgegeben statt für die Akuthilfe der Flüchtlinge, Deutschland erstrahlte in ganz neuem Glanz.
Merkel hat mit ihrem Solo die CDU, Deutschland und Europa gespalten. Und dennoch bleibt sie. Das ist eine Meisterleistung. Nicht fürs Land, aber für sie selbst. Oder anders gesagt: Die Hasen schießen jetzt die Jäger. Normalerweise wird man für so einen Fehler ultimativ abgestraft, normalerweise geht so etwas den österreichischen Weg. Der einzige Regierungschef, der ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik mitgetragen hat, Werner Faymann in Österreich, stand schon wenige Monate nach dem Fauxpas politisch so unter Druck, dass er zurücktreten musste. Sein damaliger Außenminister Sebastian Kurz, der Merkel in den Arm fiel, wird nach Lage der Dinge im Oktober Bundeskanzler Österreichs.
Im Winter 2015 wackelte Merkel
Nur hier ist alles anders. Man kann das gar nicht genug hervorheben. Noch einmal eine kleine Erinnerung gegen die allgemeine Amnesie: In den Monaten nach der ausgerufenen Willkommenskultur, also etwa auf Höhe November/Dezember 2015 wackelte Merkel tatsächlich. In Fraktion und Partei hatte sich ein enormer Widerstand formiert. Es fehlte nicht viel. Aber auf einem bis heute unvergessen gespenstischen CDU-Parteitag in Karlsruhe begann die Sicherung ihrer Position. Eine geschickte Regie und der in der CDU genetisch angelegte Kadavergehorsam führten dazu, dass Merkel für ihre eigentlich in weiten Teilen verhasste Politik minutenlangen Beifall bekam. Eine (geheime) Wahl zur Parteichefin stand nicht an, das war ihr Glück. Und schon ein Jahr später, in Essen, kam sie wieder auf knapp 90 Prozent.
Dieser Karlsruher Parteitag ist in der Machtgeschichte Merkels nur noch vergleichbar mit der Unions-Fraktionssitzung unmittelbar nach der Bundestagswahl 2005. Hätte Gerhard Schröder in der legendären Elefantenrunde die Herausforderin nicht so angeblafft und hätte Merkel nicht schon am nächsten Morgen ihre Macht gesichert, indem sie sich außerplanmäßig zu Fraktionschefin wählen ließ – sie wäre mit einiger Sicherheit nie Kanzlerin geworden.
Die Kehrtwende
Zurück ins Hier und Heute. Die Euphorie, der Glückstaumel vom Münchner Bahnhof ist längst verflogen, sowohl bei denen, die gekommen sind, als auch bei denen, die sie empfangen haben. Merkel hat ihre Politik der neuen Lage angepasst. Ungerührt macht sie heute das Gegenteil von damals. So erfolgreich und wie unverfroren bekämpft sie mittlerweile die Folgen ihrer eigenen verfehlten Politik mit allen Mitteln.
„Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen, dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, hatte sie im September 2015, auf ihre uneingeschränkte Politik der offenen Grenzen angesprochen, noch gesagt. Heute verteidigt sie Abschiebungen nach Afghanistan und anderswohin (die numerisch kaum ins Gewicht fallen) sogar auf dem Evangelischen Kirchentag, wo sie dafür ausgepfiffen wird. Das freundliche Gesicht scheint nicht mehr so wichtig wie die Wiederwahl.
Politik ohne Kompass
Die Geschichte der deutschen Kanzler bietet kein Beispiel für eine derart inkonsistente Politik. Ihre eigene Volte bei der Kernkraft ist der einzige Fall, der an Merkels Migrationschaos heranreicht. In einem Cicero-Foyergespräch hat sie einmal gesagt, dass sie deshalb oft so lange für ihre Entscheidungen brauche, weil sie erst fertig gedacht haben muss, bevor sie entscheidet. Das klingt sehr sympathisch. Heißt aber im Umkehrschluss, dass sie möglicherweise bei Entscheidungen unter Zeitdruck nicht zu Ende denken konnte. Das intuitiv richtige Entscheiden in Drucksituationen aber macht erst den großen Regierungschef aus.
Und doch ist Angela Merkel auf dem Weg zur ihrer vierten Amtszeit. Es ist Zeit, dieser Kanzlerin Respekt zu zollen. So zu irren und zu fehlen und doch zu bleiben, das ist zwar keine Staatskunst. Aber allerhöchste Machtkunst.