Familiennachzug - Kollision mit der Wirklichkeit

Im anstehenden SPD-Mitgliederentscheid offenbart sich ein Fehler der SPD-Führung. Mit ihren Forderungen zum Familiennachzug setzt sie erneut auf das falsche Top-Thema. Eine sachliche Debatte zur Migration sucht man weiter vergebens

Martin Schulz und Andreas Nahles: falsches Thema für unbekannte Basis / picture alliance
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Mit ihrem Beschluss, der Koalitionsvertrag müsse nun erst noch von den Mitgliedern gebilligt werden, hat die SPD nicht nur sich selbst, sondern die Bundespolitik insgesamt in eine noch schwierigere Lage gebracht, als sie es ohnehin seit Monaten ist. Denn seither geht es endgültig nicht mehr um Inhalte, sondern nur noch um deren Verpackung und Verkauf. Es geht darum, ob es den GroKo-Verhandlern gelang, die strukturell und kulturell eher fremden Entscheidungskriterien und -muster der SPD-Basis möglichst zutreffend zu antizipieren, sich in deren Bewusstseinslage (die in drei Wochen aus allerlei internen und externen Grünen wieder eine völlig andere sein kann als heute) möglichst zutreffend hineinzuversetzen.

Die Leitfrage lautete deshalb nicht: „Was ist gut für das Land und hoffentlich dann auch gut für meine Partei?“. Sie lautet nun vielmehr: „Was muss in diesem Text stehen, damit wir im Mitgliederentscheid nicht untergehen und unsere Karrieren zerstören und was darf vor allen Dingen auf keinen Fall drinstehen, um den Jusos nicht das ultimative Gegenargument zu liefern?“ Bloß kein Klartext, bloß keine Trigger setzen, die feindlich-negative Emotionen wecken und Agitationspotenzial liefern könnten.

Rhetorische Kniffe statt klarer Inhalte

Auf das Verhandlungsergebnis kann diese im Grundgesetz – vorsichtig formuliert – nicht vorgesehene Verschiebung politischer Macht auf endgültig bundestagsferne Akteure nur wirken wie ein gefährliches Gift. Das Misstrauen in die Motive der handelnden Personen ist diesem Verfahren quasi immanent und allgegenwärtig. Übrigens auch auf der gegnerischen, der Juso-Seite, die das Spiel natürlich durchschaut und die Aufrichtigkeit der Gegenseite entsprechend in Frage stellt. Weshalb die Parteispitze rhetorisch nochmal 30 Prozent drauflegt; in der Erwartung, dass eben jene von der Zielgruppe bei der Bewertung gleich wieder abgezogen werden.

Mit Wahrhaftigkeit nichts zu tun

„Selbst gute Fachleute [der SPD] haben eine Schere im Kopf und trauen sich nicht mehr, die richtigen Dinge zu entscheiden, weil sie Angst haben, das nicht bei ihrer Mitgliedschaft durchbringen zu können“, klagte der neue sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Und dabei bleibt es ja nicht: Auch die Kanzlerin musste ja, will sie Kanzlerin bleiben, die mutmaßliche Reaktion der SPD-Basis auf den Vertragsentwurf stets leise mitdenken. Analoges gilt für Horst Seehofer, will er noch in einem Bundesministerium als Austragshäusl einen würdigen Karriereabschluss genießen. Sachfremde Motive, wohin man auch schaut.

Die Folgen sind fatal. Der Bundestag hat seine Kernaufgabe, die Regierungsbildung und -überwachung, zunächst delegiert an eine kleine Gruppe aus dafür nur eingeschränkt legitimierten Parteipolitikern. Diese wiederum reichen die Verantwortung für diesen grundlegenden Vorgang nun aber weiter an die Mitgliederschaft einer einzigen Partei, deren Zusammensetzung noch dazu dank entsprechender Juso-Aktionen nach dem Prinzip des Flash-Mobs bis zuletzt offen ist.

Die Basis kennt momentan keiner

Die Hälfte dieser Parteibasis, 220.000 Frauen und Männer, hat es nun in der Hand, die Regierungsbildung endgültig scheitern zu lassen. Ihre wirklichen Motive kennt niemand. Man weiss – anders als bei einer freien, allgemeinen, gleichen, geheimen Bundestagswahl – auch nicht, unter welchem Einfluss sie stehen in der konkreten Abstimmungssituation. Folgerichtig traut sich nicht einmal der eigene Parteivorstand eine Analyse oder gar Prognose zu, sondern starrt wochenlang auf seine Ortsverbände wie das Kaninchen auf die Schlange.

Umso kälter hat die SPD-Spitze jetzt der Shitstorm erwischt, entfacht von kirchlichen Verbänden und asylfreundlichen Lobbygruppen und verstärkt von Grünen, Linken und Teilen der eigenen Partei, sie habe beim Thema Familiennachzug nun auch einen letzten Rest an Empathie und Mitmenschlichkeit verraten, ja sogar das „Ende von Politik“ herbeigeführt (Tagesspiegel).

Erneut das falsche Top-Thema besetzt

Für Schulz und Mitstreiter ist das umso bitterer, als sie vor ein paar Tagen noch glaubten, speziell auf diesem Feld mit deutlichen Nachbesserungen gegenüber der Sondierung – so das Hoch-und-Heilig-Versprechen vom Bonner Parteitag – wichtige Punkte für den Mitgliederentscheid sammeln zu können.

Nichts dergleichen. Der Kardinalfehler, den Familiennachzug zum Genossen-Top-Thema zu erklären, rächt sich früher und klarer als gedacht. Zumal Familiennachzug sinnvoller Weise nur dort konkret entschieden werden sollte, wo er dann auch stattfindet. Union und SPD hätten sich heraushalten und es ausdrücklich den Kommunen, den Bürgermeistern überlassen sollen, wen sie nachholen wollen und wen nicht. Diese kennen die Fälle am besten und wissen auch, ob sie zusätzliche Menschen unterbringen und versorgen können. Das nennt man übrigens Subsidiarität, also das, was man von Brüssel immer einfordert und nie bekommt.

Die Wirklichkeit ist messbar 

Es gab also für diese Priorisierung der SPD-Spitze von Anfang an keinen vernünftigen Grund. Der wütende Protest gegen sie kollidiert zudem nach allen vorliegenden amtlichen Zahlen und Erläuterungen mit der Wirklichkeit und dient offensichtlich alleine der Ablenkung von anderen, diesmal unbestreitbaren Tatsachen. Zu diesen gehört, dass laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unverändert Monat für Monat im Schnitt 18.500 Menschen in Deutschland Asyl beantragen – mehr als 600 pro Tag, 222.863 im ganzen Jahr 2017. So verkündet vom BAMF vor drei Wochen.

Gleichzeitig schnellte die Zahl der Klagen auf ein Allzeithoch: Inzwischen wird jeder zweite Asylbescheid vor einem Verwaltungsgericht angegriffen. Was das für die Belastung der Justiz einerseits, die Auftragsentwicklung der einschlägigen Anwaltskanzleien andererseits bedeutet, kann sich jeder selbst ausrechnen.

Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Juristen

269.000 Klagen gegen Asylbescheide alleine im vergangenen Jahr: Wir sprechen hier von einem Umsatzvolumen von mindestens einer halben Milliarde Euro. Hinzu kommt der gigantische Aufwand der Gerichte. Der Anwalt, der interessiert daran wäre, an dieser Asyl- und Einwanderungspolitik etwas grundlegend zu ändern, muss wohl erst noch erfunden werden. Eine wirksamere staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für vormals darbende Juristen gab es nie.

Dies alles geschieht in einer Situation, in der nach allen vorliegenden Informationen unverändert kein einziger Mann, keine einzige Frau, kein einziges Kind an einer deutschen Landesgrenze zurückgewiesen, an der Einreise gehindert wird – gleichgültig, ob der Mensch, ob die Familie aus einem sicheren Drittstaat kommt (was angesichts unserer geografischen Lage zu 99 Prozent der Fall ist) oder nicht, gleichgültig also, ob gesetzlich Anspruch auf Einreise besteht.

Die Rechtspraxis steht damit nach allem, was man wissen kann, nach wie vor in einem klaren Widerspruch zum Grundgesetzartikel 16a und zum Schengen-Abkommen. Und unverändert existiert zu dieser Rechtspraxis nicht einmal ein diese duldender Bundestagsbeschluss, geschweige, dass das Grundgesetz mit den erforderlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat geändert worden wäre.

Schutz vor Krieg als Lotteriespiel

Daraus folgt: Der Empörung, die Bundesregierung schicke sich an, den Schutz vor Krieg und Verfolgung zum Lotteriespiel verkommen zu lassen, bei dem pro Jahr lediglich 1.000 Gewinne auf eine sechsstellige Zahl von Losen entfallen werde, ist unbegründet.

Es gibt keinen Shuttleservice für den Familiennachzug – das mögen Caritas und Pro Asyl, Grüne, Linke und Teile der SPD beklagen. Aber wer es erst einmal bis an die deutsche Grenze geschafft hat, muss keinerlei Enttäuschung befürchten: Es wird durchgewunken wie 2015 und 2016. Anderslautende Informationen liegen jedenfalls nicht vor. Hauptbetroffen ist nach wie vor Bayern. Spätestens die CSU hätte jeden grundlegenden Wechsel des Verfahrens also kommuniziert.

Unterschiede machen die deutschen Behörden erst zwischen jenen, die im rechten Moment das Wort „Asyl“ sagen, und jenen, die die Wirkung dieses Wortes noch nicht mitbekommen haben.

Eine aufrichtige, demokratischen Grundsätzen der Aufklärung folgende gesellschaftliche Debatte sieht anders aus. Vielmehr wird hier von den Volksparteien selbst im industriellen Maßstab mit Fake News und Fake Arguments gearbeitet, wobei die Motive – siehe oben – oft keineswegs so uneigennützig sind, wie getan wird.

Ungerechte Selektion in der Heimat

Gleichzeitig findet die tatsächliche Ungerechtigkeit, das wirkliche Unrecht, auch 2018 mehr denn je woanders statt: In der Selektion, wer in der Heimat mit Geld ausgestattet und überhaupt erst auf die gefährliche Reise nach Deutschland geschickt wird. In der Willkür, mit der die Türkei und Libyen, mit der Griechenland, Italien, Spanien und später alle Durchreiseländer bestimmen, wen sie weiterfahren oder zu Fuß über die Alpen laufen lassen nach Deutschland und wen sie in ein Lager stecken oder in die Fänge verbrecherischer Schlepperbanden schicken.

Möglich war und ist das nur, weil unsere Leitmedien nach wie vor keinen Anlass sehen, Leser, Hörer und Zuschauer wahrheitsgetreu über die tatsächliche Entwicklung an den Grenzen der Bundesrepublik zu informieren, über die Zusammensetzung und die Gründe jener nach Zehntausenden zählenden Gruppen, die Monat für Monat Einlass verlangen und bekommen.

Kein Wunder: Täten sie dieses, würden sie damit ihre eigene Berichterstattung und Kommentierung der vergangenen Monate dementieren, als sie den „Familiennachzug“ mit 1.000 plus/minus X Menschen pro Jahr zum alles beherrschenden Megathema machten, anstatt ihm den Stellenwert zu geben, der ihm angesichts des tatsächlichen Asyl- und Einwanderungsgeschehens und der wirklichen Ungerechtigkeiten gebührt: als Marginalie.

Das ist nicht in Ordnung. Es schadet der Politik und es schadet auch den Medien. Und zwar sehr. 

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