Früher galt es als Statussymbol, Diener zu haben, die nur dekorativ dastehen. Heute erfüllt diese Funktion ein technisches Gerät

Der Flaneur - Die neuen Diener

In einer immer egalitäreren Gesellschaft ist es nicht schick, sich bedienen zu lassen, beobachtet unser Kolumnist Stefan aus dem Siepen. Wie wir trotzdem neue Formen der Dienerschaft gefunden haben.

Stefan aus dem Siepen

Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

So erreichen Sie Stefan aus dem Siepen:

In Paris wohne ich in einem Mietshaus aus dem späten 19. Jahrhundert, das zwei Treppenhäuser besitzt: ein großes und repräsentatives, wie das Bürgertum der damaligen Zeit es sich zu gönnen liebte, und ein winziges und schäbiges im Hinterhaus, bestimmt für die Dienstboten. Es dauerte eine Weile, bis ich das zweite überhaupt entdeckte, denn es wird längst nicht mehr benutzt, führt ein vergessenes Dasein, wie ein Geheimgang in einer Burg. Einmal stellte ich mir, spaßeshalber, vor, wie meine Zugehfrau wohl reagieren würde, wenn ich sie bäte, die Hintertreppe zu benutzen; sicher würde sie an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln und den Dienst quittieren. Auch der Pizzalieferant, der Amazon-Bote und die anderen hilfreichen Geister, deren Anblick den Herrschaften früher nicht zugemutet werden durfte, benutzen mit gelassener Selbstverständlichkeit die Prachttreppe, wenn sie es nicht vorziehen, in den ebenfalls repräsentativen Lift zu steigen. Sie fallen dabei nicht auf, denn da sie keine Dienstboten-Uniform mehr tragen, sondern Jeans und Turnschuhe, gleichen sie aufs Haar den gutbürgerlichen Hausbewohnern.

In der horizontalisierten Gesellschaft ist man nicht nur peinlich darauf bedacht, die „Diener“ von gleich zu gleich zu behandeln; die meisten empfinden sogar ein diffuses Unbehagen, sich überhaupt bedienen zu lassen. Die Dinge selbst zu machen, entspricht dem egalitären Geist – und hat den Vorteil, dass man die Gleichgestellten auf Abstand von sich halten kann.

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Ernst-Günther Konrad | Sa., 18. Juni 2022 - 17:52

Sehr sinnig beobachtet und leicht verdaulich vermittelt. Ich gebe zu, ihren Ansatz habe ich bislang nicht so gedacht. Das hat was. Die Elektronik als Diener des 21. Jahrhundert. Ich frage mich nur, wie bei vielen ähnlichen Themen, was die Nutzer von Alexa und Handy machen, wenn der Strom ausfällt? Finden Menschen noch den Weg ohne Navi? Wer liest ihnen aus der veralteten Landkarte, falls vorhanden vor und dirigiert sie oder weiß noch etwas mit Vorwegweisern an Straßenkreuzungen anzufangen. Wie bekommt man sein Essen von Hallo Fresh, wenn das Internet tot ist, und man selbst kochen muss. Stimmt, viele haben da jemand der es kann oder man lädt sich bei den Eltern ein, die haben immer was im Kühlschrank und kochen, servieren und machen den Abwasch natürlich anschließend allein, man hat ja noch ein Leben. Schon toll, wenn man solche "Diener" in der Hinterhand hat. Ich jedenfalls sehe in der Abhängigkeit von Elektronik eine schleichende Degeneration. Die Menschen verlernen die Kommunikation

... Internetkatastrophen an die Wand gemalt werden – ich habe in diesen so waffenkundigen Zeiten noch nichts über die neuesten Entwicklung von EMP-Bomben gelesen. Da müsste vielleicht Sebastian Fitzek mal ran, der uns das bildhaft vor Augen führt.

Maria Fischer | Sa., 18. Juni 2022 - 18:37

Ich finde die Situation in Paris noch nicht so „egalitär“ schlimm.
In Deutschland ist es ganz schlimm geworden, weil man auch gar kein Personal mehr findet.
Die sind alle Minister:innen, Parteivorsitzende, Intendanten:innen -oder ähnliches geworden.
Dabei mussten sie noch nicht einmal die schweren Lehrjahre eines qualifizierten Schuhputzers durchlaufen.
Wirklich schlimm.

Gerhard Lenz | Sa., 18. Juni 2022 - 21:19

Wie wohltuend anders. Mal wieder ein durch und durch gelungenes Stückchen Weltbeobachtung!

Im schnöden Alltag des Polit-Trommelfeuers mit seinen Horrormeldungen über Krieg, Seuchen, Klimaveränderung oder aufkeimenden Rechtsextremismus werden wir fortlaufend daran erinnert, wie fragil Frieden, Demokratie und Wohlstand sind.

Da bedeuten die Lesestückchen des Flaneurs eine wunderbare Abwechslung, eine kurze Gelegenheit zum Durchatmen. Eine Aufforderung, staunend und möglichst voreingenommen unsere Gegenwart neu zu entdecken. Zu erfahren, dass nicht an jeder Ecke Verfall und Niedergang warten.

Und unseren Verstand nicht ständig mit toxischen Wahnideen zu beladen, die wir uns gerne dort abholen, wo ständig nur Panik und Angst geschürt werden und Lüge und Hetze als (alternative) Wahrheiten jenseits des Mainstreams angepriesen werden.

Nein, das Licht geht morgen wohl noch nicht überall aus.

Auch wenn uns das, auch in diesem Forum, seit Jahren beinahe täglich versprochen wird.