Verkleinerung des Bundestags - Wahlsieg ohne Sieger

Die Pläne der Ampel zur Verkleinerung des Bundestags sind wohl nicht verfassungswidrig. Aber die Union läuft zurecht Sturm dagegen: Denn die Reform würde zu Ergebnissen führen, die der Wähler nicht mehr verstünde.

Zerstörtes Wahlplakat der CDU zur Abgeordnetenhauswahl in Berlin / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Ungefähr zehn Jahre, nachdem der damalige und parteiübergreifend geachtete Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) seine Bundestagskollegen aufrief, eine Reform des Wahlrechts einzuleiten, liegt nun ein Vorschlag der Ampelkoalition vor. Das zu lösende Problem: Eigentlich soll der Bundestag laut Gesetz nur über genau 598 Abgeordnete verfügen. Aber aktuell sind es 736 – und damit so viele wie nie zuvor. Noch kurz vor der Bundestagswahl 2021 sah es sogar so aus, als würde der Bundestag mehr als 800 Abgeordnete haben können. Aber so kam es nicht. Zum Glück!

Aber das alles kostet, kostet und kostet: mehr Diäten, mehr Pensionen, mehr Mitarbeiter, mehr Büroräume und eine größere Fahrbereitschaft. Inzwischen belaufen sich die Aufwendungen für das deutsche Parlament auf ungefähr 1 Mrd. Euro – und zwar pro Jahr. Der Deutsche Bundestag gehört damit zu den größten Parlamenten weltweit. Das US-amerikanische Repräsentantenhaus zum Beispiel kommt mit nur 435 Volksvertretern aus, obwohl die USA vier Mal so viele Einwohner wie die BRD haben.

Klare Ansage im Koalitionsvertrag

Die Ampel hatte deshalb in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, das Parlament unbedingt verkleinern zu wollen, und zwar „innerhalb des ersten Jahres“ der Koalition. Geklappt hat das nicht. Aber angesichts der Herausforderungen, die die Bekämpfung der Corona-Pandemie und der Überfall Russlands auf die Ukraine zur Folge hatten, kann man den Regierenden daraus keinen Vorwurf machen. Die Ampel jedenfalls hat sich klar verständigt: „Der Bundestag muss effektiv in Richtung der gesetzlichen Regelgröße verkleinert werden.“ Und das heißt, wenn man es ernst meint: Es darf künftig nur noch 598 Abgeordnete geben.

Der Grund für das Problem ist, dass sich die BRD seit ihrer Gründung nicht recht entscheiden konnte und wollte, welche Form der modernen Demokratie sie denn eigentlich will: Das deutsche Wahlrecht ist eingezwängt zwischen dem Mehrheits- und dem Verhältniswahlrecht. Aber eigentlich sind diese Begriffe irreführend. Es geht in Wahrheit um etwas anderes.

Mehrheitswahlrecht ist Personenwahlrecht

Als „Mehrheitswahlrecht“ bezeichnet man ein System, in dem die Wahlbürger ihre Abgeordneten direkt wählen. Man kennt das aus dem anglo-amerikanischen Raum. Gewählt ist nur, wer seinen Wahlkreis auch direkt gewinnt. Und das hat zwei Konsequenzen. Im Grunde kennen diese Länder immer nur zwei starke Parteien, die um den Sieg konkurrieren. Und eine von beiden kann dann allein regieren. Daher auch „Mehrheitswahlrecht“. In Wahrheit ist es aber ein System, in dem zumindest bei der Auswahl der Volksvertreter die Parteien eine eher geringe Rolle spielen, es handelt sich am Ende um ein „Personenwahlrecht“.

Beim System des „Verhältniswahlrechts“ geht es darum, die so genannte „Proportionalität“ des Volkswillens abzubilden. Nicht Personen stehen im Vordergrund, sondern dass der Anteil der Abgeordneten einzelner Parteien ungefähr dem Verhältnis entspricht, in dem das Wahlvolk die jeweiligen Parteien unterstützt. Da das Gesamtergebnis ohne Wahlkreise zustande kommt, entscheiden am Ende die Parteien über Listen, wer ins Parlament einzieht. Es handelt sich in Wahrheit um ein „Parteienwahlrecht“.

In Deutschland sind diese Systeme mit der Erst- und der Zweitstimme miteinander vermischt – und das führt zu Problemen: 299 Mandate werden über Wahlkreise vergeben, 299 über die Listen der Parteien. Aber es gibt Fälle, in Bayern kommt das regelmäßig vor, in denen mehr Abgeordnete ihre Wahlkreise gewinnen, als die Partei nach Zweitstimme eigentlich Mandate erringen dürfte. Es kommt zu „Überhangmandaten“.

Von Überhang- zu Ausgleichsmandaten

In einem Urteil aus dem Jahre 2021 urteilte das Verfassungsgericht, dass Überhangmandate bei den anderen Parteien ausgeglichen werden müssen, wenn sie ein gewisses Maß übersteigen. Andernfalls würde nämlich das „Proportionalitätsprinzip“ verletzt und das Ergebnis einer demokratischen Wahl verzerrt. Also tat die Politik, wie ihr geheißen wurde und führte „Ausgleichsmandate“ ein. Und all das hat eine lustige Konsequenz: Erringt die CSU in Bayern wegen starker Wahlkreiskandidaten Überhangmandate, haben auch alle anderen Parteien etwas davon. Sie bekommen dann „Ausgleichsmandate“. Und so schaukelt sich Jahr um Jahr die Zahl der Abgeordneten nach oben – und auch die Kosten.

Das eigentliche Problem sind aber nicht die rechtlichen Regelungen, sondern die Veränderungen der Gesellschaft. Vor 50 Jahren, als nur drei Parteien im Deutschen Bundestag vertreten waren, funktionierte das gemischte Wahlrecht problemlos. Zu Überhangmandaten kam es selten. Das lag einfach daran, dass die Wahlkreise meist sehr eindeutig gewonnen wurden. Heute aber ist das anders. Es gibt viel mehr Parteien im Bundestag und das hat wahlpraktisch eine gewichtige Konsequenz: Wahlkreise können im Zweifel auch mit etwas mehr als 20 Prozent gewonnen werden. Und je niedriger das erforderliche Quorum, desto anfälliger das System für Überhang- und Ausgleichsmandate.

Pläne der Ampel stärken das Verhältniswahlrecht

Die Ampel will nun mit den Problemen Schluss machen. Mit einem einfachen, aber umstrittenen Mechanismus. Aus der bisherigen Zweitstimme für die Parteien soll die „Hauptstimme“ werden. Sie allein soll künftig darüber entscheiden, wie viele Abgeordnete einer Partei in den Bundestag einziehen. Das Parteienwahlrecht würde empfindlich gestärkt – und die Zahl von 598 Abgeordneten stets eingehalten.

Das wird dadurch erreicht, dass der Zugriff auf die jeweiligen Abgeordnetenkontingente zunächst bei den Wahlkreisgewinnern liegt. Hat eine Partei Anspruch auf mehr Sitze, als sie Wahlkreise gewinnen konnte, werden die verbliebenen Plätze mit Listenkandidaten aufgefüllt. Es gibt nur ein Problem: Was geschieht, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr Sitze zustehen? Ganz einfach: Dann sollen einfach Kandidaten, die ihre Wahlkreise gewonnen haben, trotzdem kein Mandat erhalten. Eine Demokratie, in der Gewählte nicht gewählt sind: eine sonderbare Lösung.

Söder droht mit Verfassungsklage

Dass die Union daher Sturm läuft gegen die Pläne der Ampel, kann nicht überraschen. CSU-Generalsekretär Huber warf der Ampel gar eine Lösung vor, die man „sonst nur aus Schurkenstaaten“ kenne. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte denn schon einmal an, vor dem Verfassungsgericht zu klagen, sollte die Ampel das Gesetz unverändert beschließen.

Christoph Möllers ist einer der renommiertesten Rechtswissenschaftler Deutschlands – und er hat die Ampel beraten. Den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit hält er für wenig begründet. Er habe das bisher auch „nur von Politikern gehört“. Das neue Wahlrecht sei nämlich als „reines Verhältniswahlrecht“ konzipiert. Im Prinzip könne man rechtlich betrachtet sogar ganz auf Wahlkreise verzichten. Die Wahlkreisstimme treffe künftig nur noch eine „Vorentscheidung“ darüber, wer die Parteien im Bundestag repräsentiert. Das System rückt noch stärker in Richtung „Parteienwahlrecht“.

Verfassung gibt großen Spielraum

Tatsächlich gewährt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Ausgestaltung des Wahlsystems. Alles ist möglich: Mehrheitswahlrecht, Verhältniswahlrecht oder eine Kombination von beidem. Entscheidend ist lediglich, dass dabei wesentliche Grundprinzipien eingehalten werden: die Chancengleichheit der Parteien und die Gleichbehandlung der Wähler im Hinblick auf ihre Möglichkeit, Einfluss auf das Wahlergebnis zu nehmen.

Nach einer Analyse der Wochenzeitung Die Zeit hätten mit der von der Ampel vorgeschlagenen Neuregelung im Jahr 2021 35 von 299 Kandidaten ihren Wahlkreis nicht gewonnen, obwohl sie die meisten Stimmen hatten. Und fünf Wahlkreise wären überhaupt nicht mehr im Bundestag durch einen Abgeordneten vertreten gewesen.

Rechtsexperte Möllers sieht darin aber kein fatales Problem. Zwar sei „niemand davon begeistert“, aber es sei die Lösung mit den „geringsten Friktionen“. Deshalb hält er sie für vertretbar – auch rechtlich. Entscheidend sei nämlich, dass die „demokratische Repräsentation“ über die „Parteien, nicht über die Wahlkreise“ funktioniere. Das dabei entstehende Problem sei somit politischer, nicht rechtlicher Natur. Die gewählten Abgeordneten müssten sich dann eben um die verwaisten Wahlkreise kümmern.

Abgeordnete vertreten nicht nur ihre Wähler

Und tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht in seinem letzten großen Urteil betont, dass gemäß Grundgesetz jeder Abgeordnete das gesamte Volk vertrete – und nicht nur „seine“ Wähler: Oder wie die Richter sich ausdrücken: „Mit der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages kreiert das Bundesvolk sein unitarisches Vertretungsorgan.“ Mit anderen Worten: Das Bundesvolk wird behandelt wie ein demokratischer Leviathan, wie ein Gesamtmensch, der nicht im Widerspruch zu sich selbst stehen darf. Es ist dieses Argument, das Unterstützer der Ampel zu der Überzeugung bringt, die angedachte Regelung dürfte rechtlich Bestand haben. Denn alle Wähler bestimmen dann weiterhin in gleichem Maße mit, wie viele Abgeordnete eine Fraktion erhält. Die Proportionalität in der Repräsentation des Volkswillen bleibt gewahrt. Einschränkungen gäbe es diesbezüglich nur bei der Wahlkreis-, nicht aber bei der Hauptstimme. Und dass die Stimme aller Wähler gleich gelten müsse, sei ohnehin nur ein „grundsätzliches“ Gebot, sagt das Bundesverfassungsgericht. Es sind also begrenzte Ausnahmen möglich, wenn sie gut begründet und erforderlich sind, um ein funktionsfähiges Gesamtsystem zu erzeugen.

Allerdings gibt es noch eine letzte Hürde, die genommen werden muss. Welche rechtlichen Lösungen auch immer gefunden werden: „Das Verfahren der Mandatszuteilung muss (…) grundsätzlich fei von willkürlichen oder widersinnigen Effekten sein.“ Was dabei indes „widersinnig“ bedeutet, definiert das Bundesverfassungsgericht nicht. Offenbar gibt es hier einen großen Auslegungsspielraum. Widersinnigkeiten oder willkürliche Mechanismen zu vermeiden, ist dabei nicht nur ein rechtsstaatliches Gebot. Das alles hat auch mit Fragen der Legitimität zu tun.

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Das Bundesverfassungsgericht stellt nämlich in aller Klarheit fest: „Die Wahl ist im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes der zentrale Vorgang, in dem das Volk die Staatsgewalt selbst ausübt (Art. 20 Abs. 2 GG) und die Legitimation für die weitere Ausübung durch die gewählten Organe in seinem Namen schafft.“ Die Legitimität der Volksvertreter rührt vom Wahlvolk her – und von sonst niemandem.

Eine demokratische Ordnung kann daher auch dann Schaden nehmen, wenn getroffene Regelungen zwar rechtsstaatlich vertretbar sein mögen, den Wählern aber als sachlich widersinnig erscheinen. Tritt dieser Fall ein, ist die Legitimität der Volksvertretung zwar nicht rechtlich, aber faktisch beschädigt.

Leuchtet das neue System dem Wähler ein?

Den meisten Menschen dürfte kaum einleuchten, warum es demokratisch sein soll, wenn Kandidaten mit den meisten Stimmen den Wahlkreis trotzdem nicht gewinnen. Oder warum es demokratisch sein soll, wenn Kandidaten z. B. in Mecklenburg-Vorpommern mit etwas mehr als 20 Prozent der Wahlkreisstimmen in den Bundestag einziehen – und in Bayern mit mehr als 40 Prozent der Wahlkreisstimmen nicht im Parlament vertreten sind.

Und dieser groteske Effekt bliebe auf Dauer nicht auf nur 35 von 299 Wahlkreisen beschränkt. Denn bei jeder neuen Wahl können jeweils andere Wahlkreise davon betroffen sein. Nicht unwahrscheinlich also, dass nach einer gewissen Zeit etwa die Hälfte aller Wähler mit dieser kuriosen Regelung Bekanntschaft gemacht hat. Dass das im Wahlvolk der Begeisterung für die Demokratie zuträglich ist, darf man getrost bezweifeln.

Die Ampel sollte daher aus politischen und nicht aus rechtlichen Gründen den vorgelegten Entwurf überarbeiten und nach einer Lösung suchen, die breite Zustimmung im Parlament finden kann. Ausgerechnet beim Wahlrecht einen breiten parlamentarischen Konsens herzustellen, den das Wahlvolk außerdem verstehen kann, ist nicht nur vernünftig. Es ist auch eine Frage des politischen Stils.

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