Vor den Wahlen in Russland - Druck auf Widerstrebende und unterwürfige Zählkandidaten

Unabhängig vom tatsächlichen Ergebnis wird am Sonntagabend ein grandioser Wahlsieg Putins verkündet werden. Die Wahlen in Russland stehen dabei ganz in der „demokratischen“ Tradition Josef Stalins.

Wladimir Putin in einem Flugzeug / dpa
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Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Als sich der bis dahin im Lande kaum bekannte Wladimir Putin vor 24 Jahren zum ersten Mal um das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation bewarb, schickte er als Regierungschef seine Armee in den Zweiten Tschetschenienkrieg. Es war eine Wahlkampagne, deren Kollateralschaden mehrere Zehntausend Tote und Hunderttausende Flüchtlinge waren. Doch die Rechnung ging auf: Putin, der sich auf frühere KGB-Seilschaften stützte, konnte sich als tatkräftiger Anwärter für die Nachfolge des zunehmend geistig umnachteten Schweralkoholikers Boris Jelzin profilieren. 

Nun lässt Putin wieder Krieg führen, doch die Ukrainer haben sich als ebenso zähe wie einfallsreiche Gegner erwiesen. Überdies dringen russische Freischärler, die auf ukrainischer Seite kämpfen, immer wieder auf russisches Territorium vor. Erst in diesen Tagen haben sich mehrere Gruppen heftige Scharmützel mit den russischen Grenztruppen geliefert. Auch hat eine wohl von ihnen gestartete Drohne die Fassade des Sitzes der Geheimpolizei FSB in der Bezirksstadt Belgorod stark beschädigt. 

Der Zweck der Aktionen der schwer bewaffneten Putin-Gegner: Sie wollen die als feierlichen Akt der patriotischen Pflichterfüllung angepriesenen Präsidentschaftswahlen stören. Überdies haben ukrainische Sabotagetrupps in jüngster Zeit, zuletzt in dieser Woche, russische Treibstofflager in Brand gesetzt. In der Folge sind die Benzinpreise an den Tankstellen gestiegen.

Das Putinsche Russland

Dem Kreml kommen all diese Nachrichten höchst ungelegen, zumal von Kriegsbegeisterung in der russischen Bevölkerung nichts zu spüren ist. Doch bekommen die Wähler nicht die Gelegenheit, bei dem Urnengang, für den drei Tage von diesem Freitag bis Sonntag angesetzt sind, ihrem Unbehagen Ausdruck zu verleihen. Denn für den fünften Sieg des Amtsinhabers ist alles im Detail geplant, die Ergebnisse eingeschlossen, nach dem bekannten Motto, das dem unter Putin wieder hochgehaltenen Josef Stalin zugeschrieben wird: „Es kommt nicht darauf an, wer am meisten Stimmen bekommt, es kommt vielmehr darauf an, wer die Stimmen zählt!“ 

In der Tat ist das Putinsche Russland zum System der großen Simulationen zurückgekehrt, das Stalin eingeführt hatte: Wahlen, Verfassung, Justizverfahren, völkerrechtliche Abkommen simulieren die Regeln der demokratischen Staaten. Doch sind die Wahlen der Ära Putin weder frei noch fair. Unabhängige Kandidaten hat die vom Kreml eingesetzte Wahlkommission erst gar nicht zugelassen. 

Das Erbe des Zaren

Zuletzt traf es Boris Nadeschdin, den Kandidaten der oppositionellen „rechten Kräfte“. Der Begriff bedeutet an der Moskwa: weltanschaulich liberal, für die Förderung von Privatinitiativen jeder Art, für eine Beschneidung der Kompetenzen der Staatsorgane – im Gegensatz zu dem Begriff „links“, der durch das alle Lebensbereiche kontrollierende realsozialistische Parteiregime diskreditiert ist. 

Nadeschdin, Diplomingenieur und promovierter Physiker, war enger Mitarbeiter des 2015 in Sichtweite des Kremls ermordeten demokratischen Oppositionsführers Boris Nemzow. 2020 hatte er gegen die Verfassungsänderung protestiert, die Putin zwei weitere Kandidaturen für das höchste Staatsamt erlaubt. Sollte dieser also weiterhin in der körperlichen und physischen Verfassung dafür sein, könnte er bis 2036 Herr des Kremls bleiben. So lange hat niemand mehr seit Zar Peter I., genannt der Große, über Russland geherrscht. Putin beruft sich im Krieg gegen die Ukraine immer wieder auf seine angebliche Pflicht, das Erbe des Zaren zu wahren, dessen 300. Todestag er im kommenden Jahr mit großem Pomp begehen lassen will. 

Das Prinzip Hoffnung

Mit seinem Mut zum zumindest verbalen Widerstand wurde Nadeschdin zum Hoffnungsträger der Menschen, die Putin und seine Kriege ablehnen, durchaus im wörtlichen Sinne: Das russische Wort nadeschda bedeutet „Hoffnung“. Im Herbst brachte er mehr als 200.000 Unterschriften von Unterstützern seiner Kandidatur zusammen, doppelt so viele, wie die Wahlordnung verlangt. In vielen Städten hatten Menschen Schlange gestanden, um sich in die Unterstützerlisten einzutragen. 
 

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Doch die staatliche Wahlkommission machte dann ihre Hoffnungen zunichte: Sie blockierte die Kandidatur Nadeschdins, weil angeblich fünfzehn Prozent der Unterschriften nicht korrekt sind. Es war ein klarer Fall von Manipulation, denn als „nicht korrekt“ wurden Einträge gewertet, bei denen die geforderten Angaben zur Adresse einen simplen Rechtschreibfehler aufweisen oder eine Postleitzahl fehlt. Auch schließen Oppositionelle nicht aus, dass Anhänger Putins sich in großer Zahl gezielt mit getürkten Angaben in die Listen eingetragen haben, damit die Wahlkommission diese für ungültig erklären kann.

Simulation einer Wahl

Nach der Blockierung der Kandidatur Nadeschdins verbreiteten russische Exilmedien die Idee, dass alle, die dennoch ein Zeichen gegen das Regime Putin setzten wollten, am Sonntag um zwölf Uhr mittags zur Wahl gehen sollten. Dies sei völlig legal. Doch wurde der Vorschlag auch kritisiert: Man würde auf diese Weise den Geheimdiensten die Adressen von potenziellen Regimegegnern frei Haus liefern. 

Um die Simulation einer echten Wahl aufrecht zu halten, hat die Wahlkommission drei Herausforderer Putins zugelassen. Doch keiner von ihnen hat ihn jemals öffentlich kritisiert, sie gelten deshalb nur als willfährige Zählkandidaten. Am meisten Stimmen werden dabei – unabhängig von den tatsächlichen Voten – nach Schätzung von russischen Oppositionellen, die sich ins Exil flüchten mussten, wohl auf den Kandidaten der Partei „Neue Leute“ entfallen, den Unternehmer Wladislaw Dawankow, der der Staatsduma angehört, der, gerade 40 Jahre alt, Vizepräsident der von Putin-Anhängern dominierten Staatsduma ist. 

Dawankow gibt sich als attraktiver Kandidat für die jüngeren urbanen Wählergruppen; wie der abgelehnte Nadeschdin verlangt er marktliberale Reformen und die  Beschneidung der Macht der Staatsorgane. Doch hat die demokratische Opposition im Ausland keine Zweifel daran, dass Dawankow vom Kreml als angebliche Alternative zu Putin aufgebaut wurde, manche Kommentaren bezeichnen ihn als „gemäßigten Faschisten“. 

Dafür spricht, dass er den russischen Überfall auf die Ukraine vorbehaltlos unterstützt, er wurde deshalb auf die Sanktionslisten der USA, Kanadas, Australiens, Japans und der Schweiz gesetzt. Auch wiederholt er die Parolen von der Unzulässigkeit „nicht traditioneller Geschlechtsbeziehungen“, er gehört zu den Initiatoren von Gesetzen zur Kriminalisierung von Homosexuellen und Transsexuellen, liegt also ganz auf der reaktionären Linie Putins.

Völkerrechtswidrig von Russland annektiert

Das Kandidatenquartett vervollständigen der Altkommunist Nikolai Charitonow  und der Liberaldemokrat Leonid Sluzki. Auch hier ist der Parteiname irreführend: Die Liberaldemokratische Partei, einst vom früheren KGB-Informanten Wladimir Schirinowski gegründet, ist eine extrem nationalistische, xenophobe und homophobe Gruppierung, die aber, wie die etablierten Kommunisten, ebenfalls auf Putin-Linie gebracht wurde. Der Politrabauke Schirinowski, dessen Hauptaufgabe es war, den Westen mit Kriegsdrohungen zu erschrecken, damit Putin sich als besonnener Führer präsentieren konnte, ist 2022 an Covid gestorben, obwohl er zwei Dosen des russischen Impfstoffs CoviVac erhalten hatte. 

Die echte Opposition rechnet mit einem offiziell verkündeten Ergebnis von rund 80 Prozent für Putin, knapp über den 76,7 Prozent, die er laut den Manipulatoren der Wahlkommission vor sechs Jahren bekommen hat. Die Kremlpropagandisten werden das höchstwahrscheinlich bereits feststehende Ergebnis als Unterstützung für den Kriegskurs preisen. Besonderes Augenmerk lag deshalb in den Wochen vor den Wahlen auf den ukrainischen Regionen, die völkerrechtswidrig von Russland annektiert wurden, obwohl die Truppen Kiews nach wie vor einen beträchtlichen Teil von ihnen kontrollieren.

Tausende von Staatsfunktionären

In den Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson sind Tausende von Staatsfunktionären ausgeschwärmt, um eine hohe Wahlbeteiligung sicherzustellen. Ein beträchtlicher Teil der Einwohner der überwiegend russischsprachigen Regionen ist vor den russischen Invasoren geflohen, viele der Zurückgebliebenen weigern sich trotz des behördlichen Drucks, die russische Staatsangehörigkeit anzunehmen, obwohl ihnen erhebliche Nachteile drohen: Sie bekommen keine Rente, keine Sozialhilfe, oft keine Arbeitserlaubnis, dürfen das Gesundheitssystem nicht nutzen; Eltern riskieren, dass sie das Sorgerecht für die Kinder verlieren, wenn sie weiterhin Ukrainer sein wollen. In diesen Regionen ziehen Anhänger Putins mit Wahlurnen von Wohnung zu Wohnung. Exilmedien berichteten von der Festnahme zahlreicher Personen, die sich weigerten, an der Wahlfarce teilzunehmen.

Nach Putins Vorstellung gibt es keine ukrainische Nation, vielmehr handle es sich im Grunde auch um Russen, die aber von den westlichen Nachbarn manipuliert worden seien. Deshalb müssten die russischen Truppen diese Regionen befreien, auch wenn die – nach seinen Worten irregeleiteten – Einwohner sich dagegen sträuben. Der Traum von der Wiedergeburt des großrussischen Imperiums ist ein Kernelement des Putinismus, der Kremlchef kann sich dabei auch auf den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill berufen, der den Überfall auf die Ukraine als „Kreuzzug im Namen Gottes“ gegen die „Kiewer Knechte des verderbten Westens“ verteidigt. 

Ein grandioser Wahlsieg

Im ganzen Land sind Armeekommandeure, Behördenchefs, Direktoren von Staatsbetrieben und Inhaber von Privatfirmen, die von staatlichen Aufträgen abhängig sind, angewiesen, unter ihren Untergebenen oder Mitarbeitern dafür zu sorgen, dass diese an den Wahlen teilnehmen und das Kreuz auf dem Wahlzettel an der richtigen Stelle machen, nämlich für den parteilosen Kandidaten Wladimir Wladimirowitsch Putin. 

Manche Chefs verlangen von ihren Leuten, online zu wählen und dann einen Screenshot mit dem ausgefüllten Stimmzettel vorzulegen. Traditionell wird Widerstrebenden die Entlassung angedroht. Doch nach Berichten russischer Exilmedien verfangen diese Drohungen in diesem Jahr in der Wirtschaft kaum noch: Da Hunderttausende Männer in die Armee eingezogen wurden, weitere Hunderttausende Russland wegen des Kriegs mit der Ukraine verlassen haben, möchten die Firmenchefs keine der zurückgebliebenen Fachkräfte vergraulen.

Auf den Ausgang der Wahlen werden diese Maßnahmen allerdings keinen Einfluss haben: Denn unabhängig vom tatsächlichen Ergebnis wird am Sonntagabend ein grandioser Wahlsieg Putins verkündet werden. Er wird das Land weiter isolieren, die Finanzreserven werden weiter schmelzen, weil 40 Prozent des Staatshaushalts für den Vernichtungskrieg in der Ukraine ausgegeben werden. Die Sanktionen des Westens wirken durchaus, da sie Russland weitgehend von technologischen Innovationen abschneiden, die Industrie des Landes also immer rückständiger wird. In seiner Obsession, das Imperium wiederherzustellen, übersieht Putin den Grundzug der Politik des von ihm als Vorbild gepriesenen Peters des Großen: Um sein Reich zu modernisieren, hat dieser es zum Westen hin geöffnet und nicht abgeschottet.
 

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