Geleakte US-Geheimdokumente - Motiv im Dunkeln

Brisante Geheimdokumente des amerikanischen Verteidigungsministeriums über den Ukraine-Krieg und eine mögliche chinesische Invasion in Taiwan tauchten vor wenigen Wochen auf dem Chatserver Discord auf. Der politische Schaden ist groß, und noch immer fehlt jede Spur.

Das illuminierte Pentagon in Arlington (Virginia) bei Nacht / picture alliance
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Autoreninfo

Ronald D. Gerste ist Historiker, Publizist und Augenarzt. Er lebt in der Nähe von Washington, D.C.

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Ein Freund des edlen Waidwerks scheint er (oder sie) zu sein. Einige der jüngst veröffentlichten und eigentlich nur für den engsten Führungskreis der amerikanischen Streitkräfte bestimmten Pentagon-Dokumente wurden, erkennbar hastig, auf einem Papierstapel fotografiert; dabei soll im Hinter- oder vielmehr Untergrund ein Jagdmagazin erkennbar sein. Solche liegen freilich auch schon mal im Wartezimmer eines Zahnarztes oder in einem Friseursalon aus und verleiten vielleicht zur Mitnahme – dass dort jemand Geheimdokumente fotografiert, während er (oder sie) auf eine Wurzelkanalbehandlung wartet, kann wohl ausgeschlossen werden.

Das Abfotografieren scheint eine im digitalen Zeitalter fast sentimentale Art des Geheimnisverrats zu sein, ist aber nicht die einzige Eigentümlichkeit bei dem jüngsten „Leak“, von dem sich noch nicht absehen lässt, inwieweit er mit den aufsehenerregenden Veröffentlichungen von Geheimmaterial über Wikileaks durch Chelsea/Bradley Edward Manning und Edward Snowden (inzwischen russischer Staatsbürger) vor rund zehn Jahren vergleichbar ist.

Leak auf dem Chatserver Discord entdeckt

Auch der Publikationsort ist fast bizarr: Auf dem bei Videogamern beliebten Chatserver Discord sollen zahlreiche dieser Dokumente schon rund einen Monat lang folgenlos, nennen wir es: herumgelegen haben, bevor die Weiterverbreitung auf Telegram, Twitter und dem Imageboard 4chan, das von Beobachtern mit einer Reihe überwiegend wenig löblicher Adjektive, von infantil über irre bis rechtsaußen, beschrieben wird, erfolgte. Welch geradezu schnöder Abstieg im Vergleich zu den klassischen „Pentagon Papers“, die Daniel Ellsberg 1971 keiner geringeren Publikation als der New York Times zukommen ließ!

Die Brisanz der damaligen Enthüllungen lag in dem die Öffentlichkeit erschütternden Maß an Unwahrheit, welche die Administration von Präsident Lyndon B. Johnson in Zusammenhang mit der Ausweitung des Krieges in Vietnam gegenüber dem Kongress und der Bevölkerung hatte walten lassen. Dergleichen geht für die Gegenwart aus den bislang aufgetauchten Dokumenten nicht hervor: Auf die amerikanische Regierung und das Militär fällt kein größerer Makel – sieht man einmal von der genauen Beobachtung auch verbündeter Länder (die US-Medien benutzen den Begriff „spying“) ab, wie Israel, Türkei und Südkorea. Wirklich überraschen dürfte dies freilich niemanden, der sich mit globaler Geopolitik befasst.

 

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Groß ist die Empörung über den Geheimnisverrat und damit den Vertrauensbruch in den offenbar höchsten Kreisen des Verteidigungsministeriums dennoch; es wird als „massiver Verrat“ und, so ein Pentagon-Mitarbeiter, der ungenannt bleiben wollte, gegenüber Politico, als „Faustschlag in den Magen“ gewertet. Einen Schaden fügen die Veröffentlichungen zweifellos dem Vertrauen in die USA und deren Diskretion bei einigen Verbündeten zu, über die wenig schmeichelhafte Details in den Leaks verbreitet werden.

So ist es für die ägyptische Regierung hochgradig peinlich, dass ihre Absicht publik geworden ist, Raketen an Russland zu liefern (die genannte Zahl von 40.000 ist nicht gerade Peanuts), und Israels Ministerpräsident Netanjahu war verständlicherweise empört über die Andeutung, der Auslandsgeheimdienst Mossad könnte an den jüngsten Protesten gegen die Justizreform der Regierung beteiligt gewesen sein. Am Mittwoch erst sah sich die serbische Regierung – ein traditionell Russland eng verbundenes Land – genötigt, die in den Leaks erschienenen Hinweise auf geplante Waffenlieferungen an die Ukraine zu dementieren.

Ukraine am meisten durch Geheimnisverrat betroffen

Am meisten Grund, über die Publikation der Dokumente und ihren Inhalt verärgert zu sein, hat wahrscheinlich die Ukraine. Aus den Papieren gehen Schwächen der ukrainischen Streitkräfte, vor allem bei der Luftabwehr, hervor. Details über geplante Operationen wie die erwartete ukrainische Frühjahrsoffensive finden sich hingegen nicht. Die Regierung in Kiew hat die Veröffentlichungen denn auch umgehend als hybride Kriegführung Russlands bezeichnet.

Ein Detail scheint diese Argumentation zu stützen: An der Echtheit der meisten der veröffentlichten Dokumente wird bislang zwar kaum gezweifelt (oder dieser Aspekt wird nicht kommentiert), jedoch „mit einer wichtigen Ausnahme“, wie Andreas Rüesch von der Neuen Zürcher Zeitung betont. In einer Übersicht über die Verluste der beiden Kriegsparteien in der Ukraine hat irgendjemand aus einem bekannten und authentischen Dokument bei der russischen Luftwaffe eine Dezimalstelle gestrichen und aus (vermuteten) 72 abgeschossenen Kampfflugzeugen 7 und aus 82 vernichteten Helikoptern 8 gemacht – während bei den (abermals: vermuteten) ukrainischen Personaleinbußen ein Zahlendreher die Verluste in eine ganz andere Größenordnung gehoben hat: von 16 K bis 17,5 K (K für „Tausend“) zu 61 K bis 71,5 K. In Russland wurde das Dokument natürlich mit Freude verbreitet.

Mögliche Strafe bei Enttarnung ist hoch

Das Motiv für die Verbreitung der außerordentlich heterogenen Informationen liegt bislang ebenso im Dunkeln wie die Person, die sich an den nur durch eine begrenzten Anzahl von Geheimnisträgern nutzbaren Druckern im Pentagon zu schaffen gemacht hat. Unklar ist auch, ob der Geheimnisverrat auf die etwas mehr als 100 Dokumente beschränkt bleibt oder ob der Täter noch mehr und möglicherweise noch Schädlicheres in seiner Kamera hat, das noch eines Postings harrt.

Für Geltungssucht oder exzessives Witzboldtum als Motiv ist die mögliche Strafe bei Enttarnung zu hoch: Manning beispielsweise wurde zu 35 Jahren Haft verurteilt. Würde der heutige Leaker auf den Glücksfall eines dem Gnadengesuch entsprechenden Präsidenten (Barack Obama begnadigte Manning 2017) vertrauen, wäre dies ein Vabanque-Spiel, bei dem auch die User von Discord kaum helfen könnten.

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