USA - Thanksgiving: Nichts zu danken?

Heute wird in den USA Thanksgiving gefeiert. Beim Truthahn-Essen dürften sich Anhänger der Republikaner und der Demokraten über die Bedeutung des Festes in die Haare kriegen. Indianische Aktivisten sind sogar der Meinung, der Feiertag zelebriere einen Genozid.

So sah 1621 das erste Thanksgiving aus - oder auch ganz anders / dpa
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Eva C. Schweitzer arbeitet als freie Journalistin für verschiedene Zeitungen in New York und Berlin. Ihr neuestes Buch ist „Links blinken, Rechts abbiegen“.

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Thanksgiving ist das wichtigste Fest in Amerika; wichtiger als der Nationalfeiertag – der 4. Juli – und sogar wichtiger als Weihnachten. Die ganze Familie kommt zusammen, auch wenn die Hälfte davon quer übers Land einfliegen muss. Deshalb sind vor und nach Thanksgiving die Flughäfen überfüllt und die Interstates im Stau. Am Festtag sitzen – idealerweise – alle zusammen um einen Tisch und freuen sich über gebratenen Truthahn mit Brotfüllung, Süßkartoffeln, Kartoffelbrei mit Sauce und grüne Bohnen. Und zum Nachtisch gibt es Kürbisauflauf, Pumpkin Pie.  

Natürlich läuft das im gespalteten Amerika von heute nicht friedlich ab. Halb Amerika glaubt, Donald Trump sei ein faschistischer, geldgieriger Verräter mit einem Dachschaden. Und die andere Hälfte meint, Joe Biden sei ein altersdementer Kommunist, der sie zwangsimpfen und ihnen die Waffen wegnehmen will. Wenn dann Verwandte mit roten MAGA-Hüten und welche mit Black-Lives-Matter-T-Shirts aufeinandertreffen, womöglich auch noch angetrunken, knallt es. 

Dieses Jahr aber bahnt sich anderer Ärger an: Darf man in Amerika überhaupt noch Thanksgiving feiern? Vielleicht nicht, meinte Pamela Paul in der New York Times. Denn aus Sicht vieler Indianer zelebriere Amerika am Thanksgiving einen Genozid. Der Feiertag sei aus einer Erinnerung an Eroberung und Unterdrückung entstanden. 

Thanksgiving geht auf puritanische Pilger aus England zurück, die um 1620 auf dem Schiff Mayflower ankamen. Im November 1621 haben die Pilger ihre erste Ernte nach christlicher Tradition gefeiert, gemeinsam mit dem Stamm der Wampanoag, in dem Landstrich, der heute Cape Cod heißt. Der Stamm hatte die Engländer im Winter mit Lebensmitteln versorgt, und die Einladung der Pilger kam aus Dankbarkeit. 

Es gab gar keinen Truthahn

Das allerdings sei eine „weißgewaschene und romantisierte“ Version, meint die Sioux-Aktivistin Jordan Daniel im Gespräch mit der Washington Post. Die Wampanoag seien damals bereits von Krankheiten, die von Siedlern eingeschleppt wurden, schwer dezimiert gewesen; sie brauchten die Engländer gegen den Stamm der Narragansett. Es gab keinen Truthahn, niemand trug Federn, und die Engländer haben die Wampanoag ursprünglich auch gar nicht eingeladen, die kamen erst, als sie Schüsse hörten. 

Aber selbst wenn die Geschichte wahr wäre; ein gemeinsames Mahl ist alles andere als typisch für Begegnungen zwischen weißen Siedlern und Indianern. Bereits 1622 begannen an mehreren Fronten Kriege zwischen Engländern und Indianern; 1675 wurde die besiegten Wampanoag als Sklaven verkauft. Die Ausrottungskriege gegen hunderte von Stämmen, darunter die Sioux, die Cherokee und die Navajo, endeten erst 1886 mit der Kapitulation von Geronimo, dem Häuptling der Mescalero-Apachen. 

 

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Die Siedler hätten an diesem Tag durchaus Grund, dankbar zu sein, seien die doch die Indianer losgeworden, spottete bereits Mark Twain. Den Indianern allerdings stößt der inoffizielle Nationalfeiertag schon länger sauer auf. Schon 1970 forderte der Dachverband „United Indians of New England“, Thanksgiving als Tag der Trauer zu begehen. Und manchen Wampanoag tut es heute leid, den Siedlern geholfen zu haben. Linda Coombs, eine Historikerin, die dem Stamm angehört, meint, in der offiziellen Version von Thanksgiving würden die Indianer wie „Idioten“ portraitiert, die froh seien, dass die Pilger ihnen alle möglichen Verbesserungen brächten. 

Tatsächlich wurden die wenigen Überlebenden von den Pilgern zwangschristianisiert; Kinder wurden ihren Eltern weggenommen und auf Internate geschickt. Dort wurden ihnen die Haare abgeschnitten und die eigene Sprache verboten. Seit Jahrzehnten kämpft der Stamm um die offizielle Anerkennung und um die Rückgabe des tribalen Landes. Aber erst unter der Biden-Regierung gab es ein paar Fortschritte. 

Der Columbus Day wurde eingeführt, um italienische Einwanderer anzuerkennen

Lange spielten Indianer keine Rolle in der öffentlichen Debatte. Seit einiger Zeit aber leben wir in der Ära von Black Lives Matter, wo auch der Kolonialismus mit neuen Augen betrachtet wird. Begonnen hatte der Streit schon mit dem Columbus Day, als allenthalben Columbus-Statuen gestürzt wurden. Columbus – der nie Nordamerika betrat – sei verantwortlich für den Genozid an den Indianern, hieß es. 

Dabei wurde der Tag eigentlich eingeführt, um Einwanderer aus Italien anzuerkennen und zu integrieren. Denn Italo-Amerikaner reklamieren den Mann aus Genua, der sein ganzes Leben im Dienst der spanischen Krone verbracht hat, als einen der ihren. Katholische Italiener hatten die protestantische Mehrheitsgesellschaft lange diskriminiert. Das gipfelte darin, dass im März 1891 ein gutes Dutzend Italiener in New Orleans gelyncht wurde, gefolgt 1927 von den Justizmorden an den italienischstämmigen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Inzwischen wird Columbus Day in manchen Städten – natürlich auch in New York – als „Indigenous People’s Day“ begangen, gleichzeitig aber auch als „Italian Heritage Day“. 

Die Stämme sind allerdings nicht mehr die naturverwurzelten Büffeljäger und Federnträger, wie wir sie aus kitschigen Filmen kennen. Die United Indians of New England haben 2022 zum nationalen Tag der Trauer eingeladen, um das ungerechte System der europäischen Siedler zu entlarven. Denn das beruhe auf Rassismus, Kolonialismus, Sexismus, Homophobie und der profitgetriebenen Zerstörung der Erde.

Der Event findet, wie das Original, im neuenglischen Plymouth statt und wird live gestreamt, auch auf Facebook. Wer allerdings vorbeikommen will – und alle Indigenen von Mexico bis Kanada seien willkommen –, muss eine Maske tragen. Ob das viele Amerikaner vom Truthahnessen abhält, ist fraglich, aber immerhin gibt es nun ein neues Thema, über das man sich mit dem Onkel aus Kansas streiten kann. Er muss nur genug Feuerwasser trinken, wenn ich mich nicht irre. 

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