US-Präsidentschaftswahl - Duell der alten Männer

Am Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November hängt das Schicksal der Welt. Dabei dürften sich mit Joe Biden und Donald Trump ein Seniler und ein Debiler gegenüberstehen.

Donald Trump / Foto: Mark Peterson, NYT
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Autoreninfo

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Soeben erschien von ihm „America First – Donald Trump im Weißen Haus“ (C. H. Beck).

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Das Jahr 2024 wird das globale Superwahljahr schlechthin, noch nie in der Geschichte waren mehr Frauen und Männer in mehr Staaten zur Stimmabgabe aufgerufen. Nach einer Erhebung des britischen Politikmagazins The Economist wählen 76 Länder mit 4,2 Milliarden Menschen, der Hälfte der Erdbevölkerung, Parlamente und Präsidenten – in Indien, Indonesien, Russland, Pakistan oder der EU. Aber es gibt nur eine Abstimmung, an deren Ausgang das Schicksal der Welt hängt: die am 5. November in den USA.

Dort werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach wie schon 2020 zwei hochbetagte Herren gegenüberstehen: Joe Biden ist 81, Trump wird dann 78 sein. Die überwiegende Mehrheit der Amerikaner will keinen von beiden erneut im Weißen Haus sehen, 70 Prozent hätten laut Umfrage des TV-Senders NBC von Mitte April lieber einen anderen Anwärter als Biden, 60 Prozent sind des Kandidaten Trump überdrüssig. Mehr als drei Viertel halten den Herausforderer für „korrupt“ und „unehrlich“, den Amtsinhaber für „alt“ und „konfus“. Für Komiker ist das ein gefundenes Fressen. Neulich witzelte Roy Wood über den unweit von ihm sitzenden Präsidenten, der gerade seine erneute Kandidatur angekündigt hatte: In Frankreich randalierten Demonstranten, „weil sie nicht bis 64 arbeiten wollten. Währenddessen haben wir in Amerika einen 80-jährigen Mann, der uns um vier weitere Jahre Arbeit anfleht.“

Eine statistische Unvermeidbarkeit

Trotzdem dominieren die Polit-Zombies ihre jeweiligen Parteien. Für Biden hat das eine gewisse statistische Unvermeidbarkeit: Fast alle seine Vorgänger seit 1789 kandidierten erneut, nur eine Handvoll zog sich nach nur einem Wahlsieg zurück. Der letzte, der nicht wieder antrat, war 1968 der vom Vietnamkrieg zermürbte Lyndon Johnson. Und das tat er nicht ganz freiwillig, sondern erst, als er bei der Vorwahl in New Hampshire schlechter abschnitt als erwartet und sein Erzrivale Robert Kennedy ins Rennen eingestiegen war. 

Joe Biden / Foto: Mark Peterson, NYT

Auch drängt sich keine Alternative zu Biden auf. Er kann als Einziger die unterschiedlichen Flügel der Demokratischen Partei zusammenhalten: die Sozialisten um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez, die Wokeness- und Umweltkrieger an den Universitäten und in Hollywood, die Arbeiter im Rostgürtel, also den maroden Industriestaaten an den Großen Seen, und die Pragmatiker in der Bill-Clinton- und Barack-Obama-Tradition. 

Die öfter gehandelten Namen auf der Ersatzbank der Demokraten überzeugen nicht wirklich: Der telegene Gouverneur von Kalifornien Gavin Newsome ist zu links, der kluge Verkehrsminister Pete Buttigieg hat bisher nur Wahlen zum Provinzbürgermeister gewonnen, Vizepräsidentin Kamala Harris bleibt blass. Und keiner der drei will Biden herausfordern und ihn – und sich selbst – in einem blutigen Vorwahlkampf beschädigen. Davon würde nur Trump profitieren, und der ist und bleibt seit seinem Triumph über Hillary Clinton 2016 der Dämon der Demokraten. 

Das Nachwuchsproblem der Partei verschärft, dass ein wichtiges Reservoir für ihre Politiktalente zuletzt fast ausgetrocknet war: die Gouverneursämter. 17 der 45 Präsidenten der USA hatten zuvor diesen Posten inne, darunter vier der letzten acht: Jimmy Carter (Georgia), Ronald Reagan (Kalifornien), Bill Clinton (Arkansas) und George W. Bush (Texas). Kontrollierten die Demokraten 2010 noch 29 der 50 Spitzenposten in den Einzelstaaten, brach die Zahl in der darauffolgenden Dekade ein. Meist stellten sie weniger als 20 Gouverneure, 2016 und 2017 sogar nur 16. Seit ein paar Jahren geht es für die Demokraten bergauf. Die jungen Talente wie Gretchen Whitmer (Michigan), Jared Polis (Colorado), Josh Shapiro (Pennsylvania) oder J. B. Pritzker (Illinois) amtieren freilich alle erst seit 2019. Im Moment sind sie noch nicht profiliert und sturmerprobt genug für die nationale Bühne, aber dem Quartett gehört die Zukunft in der Nach-Biden-Ära.
 

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Mangelt es den Demokraten an Alternativen zu Biden, so verfügen die Republikaner zumindest über einige Trump-Herausforderer: die clevere Nikki Haley, Ex-Gouverneurin von South Carolina und Tochter indischer Einwanderer, oder Floridas Gouverneur Ron DeSantis. Doch nach wie vor dominiert Trump die Partei nach Belieben, 60 Prozent der Republikaner wollen ihn bei den Vorwahlen unterstützen. Weder seine chaotische Amtszeit noch sein Aufstacheln eines Mobs am 6. Januar 2021, das Kapitol zu stürmen, haben ihn politisch erledigt. 

Im Gegenteil: Wie kein einziger Amtsvorgänger kontrolliert er seine Partei selbst nach seiner Wahlniederlage. Sah es Anfang 2023 kurz danach aus, als ob ihm DeSantis gefährlich werden könnte, so ist dieser in den vergangenen Monaten abgeschmiert. Jedes der vier Gerichtsverfahren und jeder der 91 Anklagepunkte, die Staatsanwälte in Bund und Einzelstaaten im Jahresverlauf gegen Trump vorbrachten, hievten ihn in den Umfragen nach oben. Nur er schafft es, selbst seinen „mug shot“, das im Fulton County Jail von ihm gemachte Polizeifoto, kommerziell auszuschlachten. Innerhalb einer Woche verkaufte sein Online-Wahlkampf-Shop fast 60 000 Merchandise-Artikel wie T-Shirts, Tassen und Poster mit seiner Visage im Wert von drei Millionen Dollar.

Ron DeSantis / Foto: Mark Peterson, NYT

Trump war nie ein normaler Politiker, der sich im Tagesgeschäft aufreibt und bei Fehlern an Popularität verliert. Er war immer mehr wie ein Sektenführer, dessen Jünger sich umso enger um ihn scharen, je härter die Kritik von außen auf ihn einprasselt. Seine Anhänger sind ihm bedingungslos ergeben, weil er ihnen in Zeiten der Angst vor rapidem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel Sündenböcke bietet und Schutz verspricht. Trumps animalischer Machtinstinkt zeigt sich gerade in seiner Weigerung, bei den seit August laufenden Kandidatendebatten der Republikaner teilzunehmen. Während sich seine Konkurrenten auf der Bühne zerfleischen, gibt der Ex-Präsident zur selben Sendezeit TV-Interviews oder hält Reden. Mit Erfolg: Die Nominierung seiner Partei dürfte ihm nicht zu nehmen sein, Anfang Dezember lag er laut Umfrageplattform Fivethirtyeight 50 Prozentpunkte vor den nächstplatzierten DeSantis und Haley.

Da die Vorwahlen so gut wie entschieden sind, schälen sich die Strategien Bidens und Trumps für den Hauptwahlkampf bereits jetzt heraus. Lange Zeit hatte der Präsident gehofft, über gigantische Investitionen in Sozialprogramme, Infrastruktur und grüne Technologien sowie Subventionen für Unternehmensansiedlungen die 2016 zu Trump abgewanderten weißen Arbeiter dauerhaft zurückzuerobern. Ohne sie kann er die wahlentscheidenden Industriestaaten an den Großen Seen nicht gewinnen. Trotz starker Wachstumszahlen in seinen ersten drei Amtsjahren, fast 15 Millionen neuer Jobs, davon knapp eine Million im verarbeitenden Gewerbe, und der niedrigsten Arbeitslosenquote seit den 1960ern sind die Wähler von der Wirtschaftspolitik des Präsidenten, den Bidenomics, enttäuscht. 

Zwei zugkräftige Themen

Die hohe Inflation fraß alle Lohnzuwächse auf, die Spritpreise liegen 50 Prozent über dem Stand von Anfang 2021, und die so wichtigen Zinsen für 30-Jahre-Hypothekendarlehen schossen von weniger als 3 auf fast 8 Prozent. Die Folge: Die ökonomische Entwicklung, die Bidens Wiederwahlkampagne eigentlich Flügel verleihen sollte, wird zu ihrem Klumpfuß. In den sechs entscheidenden Swing States Nevada, Georgia, Arizona, Michigan, Pennsylvania und Wisconsin vertrauen gemäß einer Umfrage von New York Times/Siena College die Wähler in Wirtschaftsfragen Trump (59 Prozent) mehr als Biden (37 Prozent). Das ist besonders problematisch für den Präsidenten, weil die meisten Befragten sie als ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung im November 2024 nannten.

Damit bleiben Biden nur zwei zugkräftige Themen für seinen Wahlkampf. Das eine ist die Abtreibung. Im Juni 2022 kippte das Oberste Gericht dank der Stimmen der drei von Trump ernannten konservativen Richter das „Roe v. Wade“-­Urteil von 1972, eine der liberalsten Abtreibungsregelungen der Welt. Die Folge: Jeder Einzelstaat entscheidet künftig selber darüber, wie er die Sache angeht. Viele konservative Staaten schränkten den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch unter dem Jubel fundamentalistischer Christen umgehend massiv ein oder verboten ihn fast ganz. Politisch war dies allerdings ein Pyrrhussieg. Fünf Jahrzehnte hatte der Kampf gegen „Roe“ den hyperreligiösen Flügel der Republikaner extrem mobilisiert. 

Jetzt treibt der Richterspruch vor allem zornige Frauen an die Wahlurnen und in die Arme der Demokratischen Partei. 2022 setzte mit gleich sechs Referenden über Abtreibungsfragen einen neuen Rekord – und sechs Mal gewannen die liberalen Kräfte, darunter in republikanischen Bastionen wie Kansas, Kentucky und Montana. Vor wenigen Wochen verankerten die Wähler auch im konservativen Ohio das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung. 61 Prozent der Amerikaner halten nach einer Gallup-Umfrage die Aufhebung von „Roe“ für einen Fehler. Mittlerweile erkennen viele Republikaner, dass ihnen das Thema wie ein Mühlstein um den Hals hängt. Schon Äsop warnte in seinen Fabeln: „Sei vorsichtig, was du dir wünschst, du könntest es bekommen.“ Doch antike griechische Dichter lesen Politiker wohl eher selten.

Robert F. Kennedy / Foto: Mark Peterson, NYT

Das andere Thema, das die Demokraten mobilisiert, ist Trump. Neun von zehn Demokraten haben eine negative Meinung von ihm. Biden weiß das, schon 2020 gewann er die Wahl nicht, weil die Mehrheit ihn liebte, sondern weil sie Trump hasste. Immer wieder hämmert der Präsident seinen Anhängern ein, er sei der Einzige, der dessen Rückkehr ins Weiße Haus verhindern könne. In einer, ja, wirklich, feurigen Rede Anfang September 2022 bezeichnete er seinen Vorgänger und dessen „Make America Great Again“-Bewegung als eine extremistische Bedrohung für die Demokratie. 83 Prozent der Demokraten stimmten ihm zu, aber sogar jeder vierte Republikaner. Bei den Zwischenwahlen zu Senat und Repräsentantenhaus vor einem Jahr schnitt Bidens Partei besser ab als erwartet. Auch bei Wahlen in den Einzelstaaten Anfang November 2023 waren die Demokraten erfolgreich: Sie nahmen den Republikanern beide Kammern in Virginia ab und verteidigten den Gouverneurs­posten im tiefroten Kentucky (Rot ist die Farbe der Republikaner).

Trump hingegen setzt im Wahlkampf auf seine Hits von 2016 und 2020: Er agitiert gegen angeblich korrupte Eliten, hinterhältige Staaten und kriminelle Immigranten und verspricht als Lösung mehr Zölle und Mauern. Und er verspottet Biden wie schon vor vier Jahren als „sleepy Joe“, als „schläfrigen Joe“. Nichts Neues unter der Sonne also. Trump ist das, was die Amerikaner ein „one trick pony“ nennen, jemand, der nur eine Sache gut beherrscht. Doch darin, in der Rebellion gegen das nationale und internationale Establishment, ist er eine Klasse für sich. Trump kommt zugute, dass hohe Inflation und Zinsen ihm als selbst erklärtem Starunternehmer Munition für Angriffe auf die Demokraten liefern. Kein Wort davon, dass er während seiner Amtszeit mit neuen Billionen-Dollar-Schulden für Steuergeschenke an Superreiche und Unternehmen sowie Corona-Hilfen die Geldmenge enorm aufblähte und an der Preisexplosion deshalb Mitschuld trägt. 

Zugleich spielt Trump sein Leib-und-Magen-Thema in die Karten: die illegale Einwanderung. Das vergangene Fiskaljahr, das bis September 2023 ging, sah den größten Ansturm von Immigranten an der Südgrenze seit Aufzeichnungsbeginn. Die Grenzbehörden meldeten mehr als 2,4 Millionen Festnahmen. Im letzten Amtsjahr von Trump waren es nicht zuletzt wegen Corona nur 400 000 gewesen. Die Gründe für den rasanten Anstieg sind vielfältig: Nachholeffekte nach dem Pandemie-Ende, die Hoffnung auf eine laxere Grenzpolitik unter Biden, vor allem aber die ökonomische Katastrophe in Staaten wie Venezuela, Nicaragua, Haiti und Kuba und die Angst, eine Wiederwahl Trumps könne zu einer erneuten Abschottung führen. 

Denn dieser kündigt bereits drakonische Maßnahmen für den Fall seines Sieges an: einen Bann für Einwanderer aus bestimmten islamischen Ländern, die breite Ablehnung von Asylanträgen wegen Gesundheitsgefahren, die Deportation von Millionen illegalen Immigranten, den Bau von Massenauffanglagern, die Stornierung von Visa für ausländische Studenten, die sich an Anti-Israel- und Pro-Palästina-Demonstrationen beteiligen, und als Highlight die Beschränkung des seit 1868 garantierten Bürgerrechts für alle in den USA geborenen Babys.

Eine harte Einwanderungspolitik

Fast alle diese Pläne würden vor dem Obersten Gerichtshof landen, aber politisch ist eine harte Einwanderungspolitik ein Goldesel für Trump. Zwei Drittel der Amerikaner sind unzufrieden damit, wie Biden dieses Problem managt, erstmals überhaupt wünscht eine Mehrheit die Fortsetzung des Mauerbaus. Selbst in demokratischen Hochburgen wie New York City und Chicago wächst der Frust, seit republikanische Gouverneure jeden Tag Busse voller Immigranten aus Texas und Florida in diese Metropolen karren lassen. Drei von vier New Yorker Demokraten betrachten den Massenzustrom in ihre Stadt als „sehr ernstes“ oder „ernstes“ Problem.

Beide Kandidaten sehen ihre Schwächen und halten sich an das Einmaleins erfolgreicher Wahlkämpfer: die populärsten Themen der anderen Seite neutralisieren und die eigenen Stärken nach vorn schieben. Trump, der sich wegen des Kippens von „Roe“ von den Evangelikalen gerade noch als neuen Kyros (der Perserkönig des 6. Jahrhunderts v. Chr. und verehrte Befreier des auserwählten Volkes) feiern ließ, rückt von seiner ultraharten Haltung gegen jede Form von Abtreibung ab. Biden baut Trumps Grenz­anlage zu Mexiko weiter und begründet diesen Schritt kleinlaut damit, er müsse die dafür vom Kongress noch unter seinem Vorgänger bewilligten Gelder ausgeben. Aber beide werden nach wie vor mit ihren früheren Positionen identifiziert. Abtreibungsrechte versus Einwanderungsstopp dürfte deshalb das inhaltliche Duell mit dem größten Mobilisierungspotenzial 2024 lauten.

Alexandria Ocasio-Cortez / Foto: Mark Peterson, NYT

Wer letztlich das Rennen macht, ist schwer vorherzusagen. Beide Politiker sind extrem unbeliebt, Bidens Zustimmungsrate liegt bei 38,2 Prozent, die von Trump bei 42,2. Für Trump sprechen die letzten Umfragen: Anfang November sandte eine Erhebung von New York Times/Siena College Schockwellen durchs Weiße Haus. In fünf der sechs wahrscheinlich entscheidenden Swing States liegt Trump mit 4 bis 10 Prozentpunkten vorn. Die treffsichere Wahlprognoseplattformen RealClearPolitics sieht den Herausforderer ein knappes Jahr vor der Wahl im Durchschnitt aller Erhebungen landesweit mit 47 zu 45,3 Prozent in Führung. Das liegt insbesondere daran, dass Republikaner zurzeit motivierter sind, ihre Stimme abzugeben als Demokraten.

Ist Biden also am Ende? Nicht ganz. Im Schnitt wurden zwei von drei amtierenden Präsidenten in der US-Geschichte für eine zweite Regierungszeit wiedergewählt, die Statistik spricht deshalb für ihn. Doch Trump sieht sich ebenfalls als Amtsinhaber, er und seine Anhänger haben die Niederlage nie eingestanden. Hoffnung für Biden kommt von unerwarteter Seite. Robert Kennedy jr., Sohn des 1968 ermordeten Präsidentenbruders Bobby, strebt ins Weiße Haus. Zwar redete ihm der Familienclan aus, Biden bei den Vorwahlen der Demokraten herauszufordern. Aber Kennedy gab Anfang Oktober bekannt, als unabhängiger Kandidat anzutreten. Er passt nicht zur Partei von Onkel und Vater, zu eklektisch ist sein Mix aus linken, rechten und libertären Ideen. 

Kennedy fordert ein nationales Abtreibungsverbot nach dem ersten Trimester, will Banken und Monopole zerschlagen und die amerikanische Militärpräsenz rund um den Globus reduzieren. Auffällig wurde er als Impfgegner, mit antisemitischen Tiraden und der Idee, chemisch verunreinigtes Trinkwasser fördere Transgender-Identitäten.

Mit diesen abstrusen Thesen wildert Kennedy stärker in Trumps Territorium als in Bidens. Sein momentanes Umfragehoch von 22 Prozent dürfte er nicht halten können, wie die Geschichte von Drittkandidaten zeigt. Je näher der Wahltag rückt, desto stärker kehren die Wähler zu ihren angestammten Parteien zurück. Da 2016 und 2020 allerdings einige Zehntausend Stimmen in den Swing States den Ausschlag gaben, wer die Mehrheit der Wahlmänner gewann, könnte Kennedy zum Königsmacher werden. Trump erkennt die Gefahr und beginnt, aus allen Rohren auf ihn zu feuern. Schließlich sind die Wahlen noch zehn Monate entfernt, das verschafft Biden Zeit, den Bürgern die Folgen einer zweiten Trump-Präsidentschaft klarzumachen. Diese wären für die USA und die Welt katastrophal. 

Generalangriff auf die Demokratie

In Amerika würde Trump seinen Generalangriff auf die Demokratie fortsetzen. Schon in seinen ersten vier Präsidentschaftsjahren domestizierte ihn das Amt nicht, sondern er wurde immer radikaler bis hin zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 – ein einmaliger Vorgang in der bald 250-jährigen Geschichte des Landes. Was die Demokratie damals rettete, waren Trumps konfuses Verhalten und Patrioten wie Verteidigungsminister James Mattis oder Stabschef John Kelly, die für ein Mindestmaß an Ordnung und Regeltreue in der Regierung sorgten. Sollte Trump mit seinen autoritären Impulsen am 20. Januar 2025 erneut ins Weiße Haus einziehen, würde er wie entfesselt agieren – nicht zuletzt aus persönlicher Kränkung, weil er sich noch immer als von der Justiz verfolgter und um sein Amt betrogener Präsident fühlt. „Ich bin euer Krieger, ich bin eure Gerechtigkeit“, sagte er im März bei einer Rede vor einer erzkonservativen Vereinigung. „Und für diejenigen, denen Unrecht geschehen ist und die betrogen wurden, bin ich eure Vergeltung.“ 

Dafür, dass Trump seine Rachefantasien und sein rabiates Programm effektiv umsetzen kann, bereitet die reaktionäre Heritage-Stiftung die Basis. In ihrem „Project 2025“ baut sie Datenbanken mit besonders zuverlässigen republikanischen Mitarbeitern auf, um sie nach der Inauguration schnell in die 4000 von der neuen Regierung zu besetzenden Stellen zu bringen. Mit unbedingten Loyalisten an den Schalthebeln der Macht will Trump das politische System revolutionieren: Das Weiße Haus soll die Oberaufsicht über Justizministerium und Generalstaatsanwaltschaft erhalten, die Trumps Allmachtsallüren in seiner ersten Amtszeit mehrmals einen Dämpfer verpassten. Und der Ex-Präsident will den „tiefen Staat“, wie er die Bürokratie nennt, säubern und alle Beamten entlassen, die „Konservative, Christen und die politischen Feinde der Linken verfolgen“. Robert Kagan, neokonservativer Vordenker und ehemaliger Republikaner, sieht ein Amerika unter Trump auf dem Weg in die Diktatur. Dem scheint der Gedanke zu gefallen, gerade sagte er, nach einem Wahlsieg „Diktator am Tag eins“ sein zu wollen.

Demonstration von Abtreibungsbefürworterinnen in Manhattan /  Foto: Mark Peterson, NYT

International wäre eine zweite Trump-Präsidentschaft der Gau – insbesondere für die Europäer. Seine ersten vier Jahre an der Macht taten viele dort noch als einmalige Verirrung der westlichen Führungsnation ab. Auf eine Wiederkehr des Untoten sind weder Brüssel noch Berlin vorbereitet. Im Gegenteil: Heute, wo die Welt in Flammen steht, ist die EU angesichts ihrer militärischen und zunehmend auch ökonomischen Schwäche noch abhängiger von den USA als 2017. Und Personen machen nun einmal einen Unterschied. Ohne die entschlossene Führung des überzeugten Transatlantikers Biden wäre die Ukraine wohl bereits vollständig in Putins Hand und stünde seine Soldateska an der Grenze zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Unter Trump II hätte die EU – schon früher von ihm als „Feind“ geschmäht – mit Extrazöllen auf ihrem wichtigsten Exportmarkt zu rechnen. Die Nato könnte zu einer leeren Hülle verkommen, ist sie doch ohne Sicherheitsgarantie und Streitkräfte der USA bedeutungslos. Die amerikanische Unterstützung Kiews, schon jetzt im von Rechtspopulisten dominierten Repräsentantenhaus in schwerem Fahrwasser, würde kollabieren. Zum ersten Mal seit 1941 wäre Europa, wie Kevin im Film, „allein zu Haus“.

Der größte Verlierer bei alledem: Deutschland. Mehr als jedes andere Land profitierte es von der Pax Americana. Die Bundesrepublik konnte sich eine Verteidigungspolitik auf Sparflamme leisten, das Geld in Sozialprogramme und Infrastruktur stecken und sich ins Lala-Land hineinhalluzinieren, in dem zwischenstaatliche Gewalt keine Rolle mehr spielt und sich imperiale Großmächte wie Russland und China mit ökonomischen Anreizen zivilisieren lassen. Gewinnt Trump erneut, kracht nicht nur der Eckpfeiler deutscher Sicherheit und deutschen Wohlstands in sich zusammen. Vielmehr wäre es der nächste Schritt in die Welt Putins und Xis, die auf Einfluss­zonen, Zwang und Diktatoren-Klüngelei fußt und in der Regeln, Freiheit und Werte nichts zählen.

Amerika mag am 5. November 2024 die Wahl haben zwischen einem Senilen und einem Debilen. Aber Greise machen nicht unbedingt die schlechtesten Politiker. Gerade die Deutschen sollten das wissen. Ihr mit Abstand bester Kanzler – Konrad Adenauer – schied 1963 mit 87 aus dem Amt. Biden wäre selbst am Ende einer zweiten Präsidentschaft noch ein Jahr jünger.


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